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# taz.de -- 9. November und Antisemitismus: „Deutschland wird dir gefallen“
> Als Kind zog Rafael Seligmann mit den Eltern von Israel in die
> Bundesrepublik. Und erlebte Antisemitismus: den alten und den der Neuen
> Linken.
Bild: DDR-Staatsratsvorsitzender Erich Honecker begrüßt PLO-Chef Jassir Arafa…
Ich kann die bußfertigen, philosemitischen Gelöbnisse und
Selbstverpflichtungen nicht mehr hören, die gehäuft zum 9. November und
nach judenfeindlichen Anschlägen verkündet werden. „Unsere jüdischen
Mitbürger müssen sich in Deutschland sicher fühlen! – „Deutschland wird
keinen Antisemitismus zulassen!“ – „Wir werden die Judenfeindschaft
auslöschen!“ Die Absicht ist wohl gemeint, sie besitzt indessen die
Halbwertszeit einer Seifenblase.
1957 kam ich als Zehnjähriger mit meinen Eltern aus Israel in deren
deutsche Heimat. Wir ließen uns in München nieder. Damals waren
Prügelstrafe und unverstellte Judenfeindschaft Alltag in der Klenze-Schule.
„Saujude“ war ein gängiges Schimpfwort. Als ich zudem verdroschen wurde,
beschwerte sich meine Mutter beim Schulleiter.
Darauf forderte er sie auf: „Nehmen Sie Ihren Zuckerknaben und kehren Sie
zurück nach Palästina!“ Hannah aber wandte sich an den Stadtschulrat. Anton
Fingerle war empört. Man lebe in einem demokratischen Deutschland, die
Juden seien willkommen. Fingerle rief in Mutters Gegenwart den Direktor an
und drohte ihm mit Entlassung, falls sich solche Vorfälle in seiner Schule
wiederholten.
Anderntags stürmte der Direx in die Klasse und wies unseren Lehrer Walk an,
die prügelnden Schüler ihrerseits mit dem Rohrstock zu bestrafen. Ich
wechselte die Schule. Dort gab es keinen Rohrstock. Direktor Hirschbold
ließ keine Judenverwünschungen zu. Er „kenne keine Katholiken, Protestanten
oder Juden, nur Menschen“, gelobte er. Ich begann der Versicherung meines
Vaters Ludwig zu glauben: „Deutschland wird dir gefallen.“
## Autorität in Geschichte
In der Mittelschule galt ich zunächst als Autorität in Geschichte, dem
einzigen Fach, für das ich mich interessierte. Meine Mitschüler fanden dank
meiner Einflussnahme Gefallen daran, dass der [1][Judenmörder Eichmann]
1961 in Jerusalem vor Gericht gestellt wurde.
Diese Haltung nahm ein Ende, als wir in der Abschlussklasse eine
Geschichtslehrerin bekamen, die Nazideutschland als Opfer einer
Einkreisungspolitik der „Kriegsverbrecher“ Churchill, Stalin und Roosevelt
schilderte.
Obgleich Frau Braun mir gegenüber höflich war und sich antisemitischer
Bemerkungen enthielt, kamen diese nunmehr in der Klasse hoch. Juden wurden
als Ausbeuter beschimpft, „Wiedergutmachung“ als jüdischer Schwindel
„entlarvt“.
Ich begriff, Antisemitismus liegt den Schülern nicht im Blut. Er wird ihnen
von Lehrern, Geistlichen, judenfeindlichen Politikern – die NPD befand sich
im Aufwind – kurz: von Autoritätspersonen eingebrannt.
## Die biologische Lösung
Ich flüchtete in den Trost der Ohnmächtigen und ersann eine
Geschichtslogik: Bewusste Nazis waren bei Kriegsende dreißig Jahre alt.
1965 waren sie fünfzig Jahre – wie unsere Frau Braun. Ich musste mich noch
15 Jahre gedulden, um zu erleben, dass die meisten Nazis und Antisemiten in
Rente gehen würden. Dann, so redete ich mir ein, würde die Judenfeindschaft
verglimmen.
Meine biologische Nazi-Rechnung schien aufzugehen. 1963 musste Hans Globke,
ein Kommentator der Nazi-Rassegesetze, sein Amt als Chef des Kanzleramtes
räumen. 1969 wurde der ehemalige NS-Parteigenosse Kurt Georg Kiesinger als
Bundeskanzler abgewählt. Kiesingers Bezwinger Willy Brandt war ein
ausgewiesener Anti-Nazi, der wegen seiner demokratischen Gesinnung in die
Emigration fliehen musste. Deshalb wurde Brandt lange verunglimpft.
Die Entscheidung der Mehrheit, zumal der Jüngeren, für Brandt war in meinen
Augen auch ein Wendepunkt im Kampf gegen den Antisemitismus. Der Prozess
des Abtretens von alten Nazis und Judenfeinden beschleunigte sich. Parallel
dazu verlief der Aufstieg der 68er. Sie erhoben sich gegen ihre
Nazi-Eltern, Erzieher und Autoritäten. Ihre Idole waren vielfach
antiautoritäre Philosophen jüdischer Herkunft.
Ich war überzeugt, dass der Antijudaismus in Deutschland unwiederbringlich
verlöschen würde. Doch bald musste ich erkennen, dass dies Wunschdenken
war. Denn der Antisemitismus gleicht einem Retrovirus. Er ändert seine Form
von religiöser über „rassische“ zur ideologischen Feindseligkeit.
## Die Mimikrytaktik der DDR
Offen gegen Juden zu hetzen, wie das Alt- und Neonazis, NPDisten und ihre
Geistesverwandten taten, ist zumindest im Mainstream der deutschen
Gesellschaft out. Seit den siebziger Jahren war offene Judenfeindschaft in
der Bundesrepublik nicht salonfähig. Die Antisemiten begannen sich an der
Mimikrytaktik der DDR zu orientieren.
Im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat war Antisemitismus qua
Ideologie abgeschafft, doch Antizionismus gemäß ebendieser Staatsideologie
angesagt. Gegen Juden durfte man nichts haben. Doch Zionisten besetzten
fremdes Land, unterdrückten und vertrieben die genuine Bevölkerung.
Bemerkenswert war allerdings, dass dies nur im Falle des jüdischen Staates
so unnachsichtig angeprangert wurde. Einerlei, wer in Ost oder West etwas
gegen Juden hatte, nannte sich fortan „Antizionist“.
Wohin dies [2][im Extremfall führte, zeigten westdeutsche Terroristen], die
sich als Marxisten bezeichneten. Gemeinsam mit ihren palästinensischen
Genossen [3][entführten sie 1976 eine Air-France-Maschine] ins Reich des
Judenhassers Idi Amin und selektierten dort die jüdischen Passagiere wie
einst ihre Naziväter an der Rampe von Auschwitz. Ein Extremfall. Fünf Jahre
später fand ein verwandtes Phänomen Eingang in die etablierte Gesellschaft.
[4][SPD-Kanzler Helmut Schmidt] setzte sich an die Spitze der
Rüstungslobby, die für einen Export deutscher Leopard-Panzer nach
Saudi-Arabien eintrat. Um sein Anliegen besser zu verkaufen, polemisierte
Schmidt in einem Fernsehinterview gegen das „ganze moralisch-historische
Gepäck“ wie Auschwitz. Israels Premier Begin beschimpfte Schmidt im
Gegenzug als Nazi-Offizier.
## Israel gleich Nordkorea
Die meisten alten Nazis waren damals bereits tot – zumindest nicht mehr
wirkungsmächtig. Es ging um gegenwärtige Waffengeschäfte. Doch der rüde
Zank vergiftete die deutsch-israelischen Beziehungen derartig, dass das
Ansehen des jüdischen Staates in der Gunst des deutschen Publikums
unwiederbringlich erodierte. Seither ist Israel neben Nordkorea eines der
unbeliebtesten Länder in Deutschland.
[5][Die hiesigen Juden] bekommen es zu spüren. Einerlei, in welchen Kreisen
man sich als Jude bewegt, stets wird man als Vertreter Israels angesehen.
Nicht nur von sogenannten einfachen Menschen. Immer wieder wurde ich auch
von Politikern, Ministern angesprochen, sie führen jetzt in meine Heimat zu
meinem Minister. Das ist gut gemeint und verrät doch die Identifizierung
der Juden als Teil einer auswärtigen Macht. Kein „Deutscher wie wir“.
Die Kanzlerin mochte 2008 vor der Knesset [6][Israels Sicherheit] zur
deutschen Staatsraison erklären, Politiker demokratischer Parteien den
Schutz jüdischer Einrichtungen hervorheben und Antisemitismus verdammen.
Den deutschen Juden helfen die Deklamationen nichts. Als Tausende
Demonstranten beim Al-Quds-Tag 2014 in deutschen Städten brüllten: „Jude,
Jude, feiges Schwein!“ – „Juden ins Gas!“ erfolgten weder Festnahmen no…
Anzeigen.
[7][Nach dem Anschlag in Halle] gelobte man Besserung. In Berlin,
Frankfurt, Hamburg ebenso. [8][Der Antisemitismus lebt wie die Wüste,] und
er ist ebenso heiß. Man darf sich dennoch nicht mit ihm abfinden und nicht
auf seine Taschenspielertricks hereinfallen. Ein Alibi für Judenhass ist
nicht statthaft. Weder ein religiöses noch ein rassistisches oder ein
ideologisches. Kritik an Israels Politik ist legitim. Sie findet
allenthalben statt. Aber die Verweigerung des Existenzrechts des jüdischen
Staates ist Antisemitismus.
Es gibt kein Allheilmittel gegen Judenfeindschaft. Der moderne Antisemit
trägt kein Hakenkreuz, mancher gibt sich gar als Freund Israels. Er bleibt
Menschenverächter. Dennoch darf man nicht resignieren. Es gilt,
unverdrossen zu diskutieren und aufzuklären. Der Fortschritt ist eine
Schildkröte. Sie kommt langsam voran.
9 Nov 2020
## LINKS
[1] /75-Jahre-Wannsee-Konferenz/!5374380
[2] /Prozess-gegen-Revolutionaere-Zellen/!5083603
[3] /Augenzeugenbericht-eines-Ex-Guerilleros/!5726548/
[4] /Buch-ueber-Helmut-Schmidt/!5248977
[5] /Buch-ueber-Juden-in-Deutschland/!5718149
[6] /Israel-feiert-70-Jahre-Unabhaengigkeit/!5497078
[7] /Gedenken-an-den-Halle-Anschlag/!5717144
[8] /Betroffene-ueber-Antisemitismus/!5711551
## AUTOREN
Rafael Seligmann
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