Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Rafael Seligmanns Buch „Rafi, Judenbub“: Ein Wohnsitz, keine He…
> Im abschließenden Teil seiner Trilogie über seine Familie beschreibt
> Rafael Seligmann das Leben als jüdische Rückkehrer in München.
Bild: Elisabeth und Rafael Seligmann bekamen 2021 den Verdienstorden der Bundes…
Es schmerzt auf fast jeder Seite. Wenn [1][Rafael Seligmann] berichtet, mit
welch antisemitischen Tiraden vom „intelligenten Juden“ er in seiner neuen
Schule konfrontiert wird. Wenn der Vater versucht, in seinem Heimatort an
vergangene Zeiten vor Krieg und Holocaust anzuknüpfen, und dabei an seiner
Umgebung scheitert.
Man möchte sich entschuldigen für all die Tiraden, Vorurteile, für diese
judenfeindliche deutsche Miefigkeit, die die Familie Seligmann erfährt, als
sie sich 1957 zur Rückkehr aus Israel in das Land entschließt, das
eigentlich ihre Heimat ist: Deutschland.
In München, so hofft der Vater, könne man einen wirtschaftliche Neuanfang
in einem neuen, geläuterten Staat wagen, der vom Wirtschaftswunder verwöhnt
wird. Sein Optimismus wird nicht belohnt.
Dies sei ein Roman, steht auf dem Schutzumschlag von Seligmanns Buch, mit
dem er seine Trilogie über die eigene Familie beendet. Da bestehen gewisse
Zweifel. Eine Autobiografie ist es aber gewiss auch nicht, denn der Autor
wechselt die Rollen des Erzählenden zwischen dem jungen, bei der
Einwanderung zehnjährigen Rafael, seinem Vater und der widerstrebenden
Mutter.
## Trilogie vollendet
Dieses Buch ist wohl beides, und es ist so glänzend erzählt, dass man es in
einem Rutsch durchlesen möchte, obwohl es Bedrückung auslöst. „Lauf,
Ludwig, lauf“ sowie [2][„Hannah und Ludwig“] heißen die ersten beiden B�…
der Trilogie.
Der Titel „Rafi, Judenbub“ leitet sich nicht etwa aus einem stolzen
Bekenntnis zur eigenen Religion oder Herkunft ab. Er kennzeichnet die
negativen Zuschreibungen der christlich-deutschen Außenwelt am neuen
Wohnort München, die sie dem Heranwachsenden angedeihen lässt. Die Rückkehr
der Seligmanns wird weder als etwas Bereicherndes erkannt noch als ein
völlig normaler Vorgang. Die Familie erhält qua ihrem religiösen Bekenntnis
einen gesellschaftlichen Sonderstatus. Sie sind diejenigen, die die
christlichen Deutschen an die Verbrechen im NS-Staat erinnern. So werden
sie zwangsläufig zu Außenseitern, meist gemieden, selten umschmeichelt.
Vater Ludwig will das nicht wahrhaben und endlich wieder als Verkäufer
arbeiten. Er wird betrogen und scheitert. Schließlich erhält er eine Stelle
bei einem jüdischen Münchner Unternehmen, wo er wortwörtlich bis zum
Umfallen tätig ist – er erleidet einen Herzinfarkt. Der Sohn Rafael
verweigert sich den ihm feindlich gesinnten Lehrern und flüchtet in eine
Traumwelt. Mutter Hannah, die schon mit großer Skepsis nach Deutschland
zurückgekehrt ist, sieht ihr Urteil über die Deutschen bestätigt und lehnt
Beziehungen zu nichtjüdischen Deutschen ab. Und so kriecht die Familie in
einen Kokon.
Man lebt und arbeitet zwar mitten in München, doch bleiben die
Außenkontakte auf wenige Nichtjuden reduziert. Die Angst vor diesen
Deutschen kehrt zurück. Die Stadt wird für die Seligmanns zwar zum
Wohnsitz, aber nicht zur Heimat.
## Sittenbild der Nachkriegszeit
Seligmanns „Rafi, Judenbub“ ist mehr als ein Familienroman. Das Buch
vermittelt ein Sittenbild bundesdeutscher Nachkriegszeit mit all seinen
Vorurteilen und gepaart mit dem unbedingten Wunsch seiner Bewohner,
keinesfalls zurückzublicken auf das, was sie wenige Jahre zuvor angerichtet
hatten.
Dieses Bild wird den meisten Deutschen verschlossen geblieben sein, weil
sie eben nicht der winzigen jüdischen Minderheit angehörten und sich auch
nicht weiter für diese interessierten. Die nachfolgenden Generationen haben
von diesem Sittenbild auch niemals etwas erfahren, denn es gibt niemanden,
der ihnen davon erzählen kann.
Seligmanns Roman lässt den Leser an dem ganzen Elend, unter dem die
Rückkehrer aus Israel und die davongekommenen Opfer in der Bundesrepublik
leiden müssen, teilnehmen. Es ist kein Spaß, das zu lesen. Aber es ist
unbedingt lesenswert.
16 Apr 2022
## LINKS
[1] /9-November-und-Antisemitismus/!5723590
[2] /Rueckkehr-nach-Deutschland/!5722064
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Buch
deutsche Literatur
Judentum
Nachkriegszeit
Familiengeschichte
70er
Buch
Juden
Westjordanland
Nachruf
Antisemitismus
Literatur
## ARTIKEL ZUM THEMA
Andreas Maiers Roman „Die Heimat“: Ein Land vor der Sesamstraße
Der Schriftsteller Andreas Maier springt und hascht nach der verlorenen
Zeit. Sein Roman „Die Heimat“ beschreibt, was sich hier alles verändern
musste.
Tagebücher junger Juden und Jüdinnen: „Freude ist für mich verboten“
Jüdische Kinder und Jugendliche schrieben Tagebuch während der NS-Zeit.
„Der papierene Freund“ macht einige der erschütternden Zeugnisse
zugänglich.
Podcast „Freitagnacht Jews“: Jüdisches Leben statt Holocaust
Im neuen Podcast „Freitagnacht Jews“ von Daniel Donskoy diskutieren die
jüdischen und nichtjüdischen Gäste detailreich. Es geht um jüdische Themen.
Viele Verletzte in Jerusalem: Kämpfe auf dem Tempelberg
Israelische Sicherheitskräfte dringen in die Al-Aqsa-Moschee ein, im
Westjordanland gibt es mehrere Razzien. Die Angst vor weiterer Eskalation
wächst.
Nachruf auf Inge Deutschkron: Die Unbeugsame
Von den Nazis verfolgt, im Untergrund überlebt, niemals bequem: Die
Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron ist mit 99 Jahren verstorben.
9. November und Antisemitismus: „Deutschland wird dir gefallen“
Als Kind zog Rafael Seligmann mit den Eltern von Israel in die
Bundesrepublik. Und erlebte Antisemitismus: den alten und den der Neuen
Linken.
Rückkehr nach Deutschland: Enttäuscht vom Leben in Tel Aviv
Rafael Seligmann verarbeitet die Flucht seiner Eltern in einem Roman. Und
deckt die dabei verschwiegenen Seiten auf.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.