# taz.de -- Prozess gegen „Revolutionäre Zellen“: „Es waren harte Zeiten… | |
> Sie versteckten sich 24 Jahre, jetzt stehen sie vor Gericht. 2010 traf | |
> die taz die ehemaligen Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ Sonja Suder | |
> und Christian Gauger. Eine Dokumentation. | |
Bild: Fahndungsfotos von Sonja Suder und Christian Gauger aus dem Jahr 1978. | |
taz: Frau Suder, Herr Gauger, wann merkten Sie erstmals, dass Sie | |
observiert werden? | |
Sonja Suder: Es war im Sommer 1978. Wir waren gerade vom Urlaub aus | |
Südfrankreich zurück nach Frankfurt gekommen. Wir sind um 6 Uhr morgens | |
los, um unseren Stand auf dem Flohmarkt am Eisernen Steg am Mainufer | |
aufzubauen. | |
Und da merkten Sie, dass Ihnen jemand folgt? | |
Suder: Um sechs Uhr morgens ist es auffällig, wenn jemand von deiner | |
Haustür bis zum Flohmarkt hinter dir ist und dann selber keinen Stand | |
aufbaut. Wir haben das am Nachmittag überprüft, und da war es klar: Wir | |
werden überwacht. Es wurde ein heißer Sommertag in Frankfurt am Main, ich | |
glaube im August. Und wir mussten eine Entscheidung treffen. | |
Warum? | |
Na ja. Es waren harte Zeiten, ein Jahr nach der Schleyer-Entführung und den | |
Toten in Stammheim. Wir beschlossen wegzugehen. | |
## Rückblende | |
1978. Wer erinnert sich an 1978, das Jahr, in dem Sonja Suder und Christian | |
Gauger von der Bildfläche verschwanden, um die nächsten 22 Jahre lang | |
unauffindbar zu bleiben? Das Jahr, in dem Argentinien die Fußball-WM | |
gewann. Oder in dem die heutige Vizechefin der Partei Die Linke, Katja | |
Kipping, geboren wurde. Die DDR gab es noch, und Westeuropa befand sich in | |
der Spätphase der Achtundsechzigerbewegung. In Nicaragua stürmten die | |
Sandinisten den Nationalpalast, in Italien ermordeten die Roten Brigaden | |
den Christdemokraten Aldo Moro. | |
Und in der Bundesrepublik Deutschland macht sich im Juni 1978 ein - nach | |
Ansicht der Staatsanwaltschaft - Bekannter von Sonja Suder und Christian | |
Gauger daran, eine Bombe am Konsulat Argentiniens in München zu platzieren. | |
Herrmann F. hieß er und soll wie Suder und Gauger im Umfeld der sogenannten | |
Revolutionären Zellen agiert haben. Die RZ waren für den Staatsschutz | |
schwer einzuschätzen, da sie nach ihrer Spaltung 1976/77 ohne erkennbare | |
Steuerung agierten. Die Gruppierung propagierte Anschläge mit Sachschäden | |
und versuchte, anders als die RAF, Opfer zu vermeiden. | |
Suder und Gauger sollen, sagt die Staatsanwaltschaft heute, 1977 an zwei | |
Anschlägen gegen Firmen, die Urangeschäfte mit Südafrika machten, sowie | |
einem Brandanschlag aufs Heidelberger Schloss 1978 beteiligt gewesen sein. | |
Am 15. September 1978 erließ ein Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof | |
deshalb Haftbefehl gegen die zwei. | |
Falls sich Gauger, Suder und F. tatsächlich kannten, wie die | |
Staatsanwaltschaft glaubt, dann dürften sie sich 1978 darin einig gewesen | |
sein, Argentinien als Unrechtsstaat zu betrachten. Die Militärs hatten dort | |
1976 geputscht und in der Folge über 30.000 Menschen ermorden lassen. In | |
diesem Land fand unter skandalösen Umständen die Fußballweltmeisterschaft | |
statt. Und die sozialliberale Koalition in Bonn tolerierte Geschäfte | |
deutscher Firmen mit der argentinischen Diktatur, während sie in | |
argentinische Folterhaft geratenen deutschen Staatsbürgern nur zögerlich | |
half. | |
Es gab also wahrnehmbare Missstände, auch wenn nur wenige wie Hermann F. | |
deshalb versuchten, ein Loch in die Mauer des argentinischen Konsulats zu | |
bomben. Zu dem Anschlag auf das Konsulat kam es nie. Für Hermann F., den | |
mutmaßlichen Bekannten Suders und Gaugers, verlief die Vorbereitung fatal. | |
Der Sprengsatz explodierte am 23. Juni in Heidelberg vorzeitig, F. verlor | |
beide Beine und Augen. | |
Der Schwerverletzte wurde damals offenbar noch in der Uniklinik Heidelberg | |
von Fahndern vernommen. Über Wochen und Monate hinweg, sagen Freunde und | |
Anwälte, isolierten die Ermittler F., um an Informationen über die | |
Organisationsstruktur der Revolutionären Zellen zu gelangen. Auch über | |
Suder und Gauger. Die Ermittler protokollierten, was ihnen F. unter | |
Medikamenteneinfluss und ohne Rechtsbeistand eigener Wahl gesagt haben soll | |
- und was er später widerrief. | |
Wenige Wochen nach F.s Unfall bemerkten Suder und Gauger die | |
Observationsteams in Frankfurt - und entzogen sich ihnen. Seither sollen | |
sie irgendwo im Ausland gelebt haben und - so sie es vorher waren - nicht | |
mehr im Zusammenhang mit den RZ aktiv gewesen sein. | |
Der Tatverdacht gegen Suder und Gauger "stützt sich im Wesentlichen auf die | |
Angaben des Zeugen F. von 1978," bestätigt die Frankfurter | |
Staatsanwaltschaft jetzt auf Nachfrage. Erst 1999 kam laut der Behörde ein | |
weiterer Verdacht gegen Sonja Suder hinzu. Vorwurf: Beteiligung am | |
Opec-Überfall 1975 in Wien und Beihilfe zum Mord. Die Verjährungsfrist für | |
die Anschläge, die Gauger und Suder ursprünglich zur Last gelegt wurden, | |
beträgt 20 Jahre. Sie wäre 1998 verstrichen. Doch, so sagt die | |
Staatsanwaltschaft, die Verjährung sei "mehrfach unterbrochen" worden und | |
sie könne "maximal bis zur doppelten Zeit - also 40 Jahre - laufen". Aus | |
einer Brandstiftung von 1978 (Verjährungsfrist: 10 Jahre) kann eine | |
menschengefährdende Brandstiftung (Verjährungsfrist: 20 Jahre) werden und | |
die Verjährungsfrist auf 40 Jahre ausgedehnt werden. | |
2000 kam es zur spektakulären Enttarnung und Festnahme der beiden | |
"RZ-Rentner" in Paris, wie sie genannt wurden. Seither ringen deutsche und | |
französische Behörden zäh um Suder und Gauger. 2001 wies Frankreich ein | |
Auslieferungsbegehren der Deutschen ab. Nun könnte sich das Blatt aufgrund | |
des neuen EU-Haftbefehls gegen die zwei Siebziger-Jahre-Linken wenden. Im | |
Moment liegt der Fall beim französischen Verfassungsgericht. Ob Frankreich | |
ausliefert, ist völlig ungewiss. | |
2010. Paris, St. Deniz, nahe der Universität 8. Auf sehr kleinen | |
Grundstücken stehen sehr kleine Häuser, in der Ferne sieht man die Kulisse | |
einiger Hochhäuser. Ein nasskalter Tag, kaum Menschen auf den Straßen. In | |
einem der Häuschen, oder besser gesagt: in einem winzigen Teil eines dieser | |
Häuschen leben seit ihrer Enttarnung und vorübergehenden Inhaftierung Sonja | |
Suder und Christian Gauger. Sonja Suder ist mittlerweile 77 Jahre alt, | |
Christian Gauger 68. Sie waren schon vor ihrer Flucht 1978 ein Paar. Es ist | |
das erste Mal, dass sie mit der deutschen Presse sprechen. Es gibt Tee und | |
Gebäck zum Gespräch. Ihre Wohnküche ist keine 16 Quadratmeter groß. | |
Wie ist das, wenn man deutsche Firmen wegen ihrer Geschäfte mit dem | |
Apartheidstaat Südafrika attackierte, dann abtauchte, ein klandestines | |
Leben in Frankreich führte, um Jahrzehnte später enttarnt und verhaftet zu | |
werden? Suder und Gauger lächeln. Darüber reden sie nicht. Die beiden | |
suchen das Gespräch mit der taz unter der Voraussetzung, dass sie keine | |
Fragen beantworten müssen, die für die Verfahren juristisch relevant sein | |
könnten. Sie sagen nicht, ob und, wenn ja, wofür sie Verantwortung tragen. | |
*** | |
taz: Wie lange leben Sie schon im Exil? | |
Sonja Suder: Seit 1978. | |
Sie haben vorher in Frankfurt am Main gelebt? | |
Suder: Ja, ich hab Medizin studiert. Als wir weg sind, war ich fast fertig. | |
Wie alt waren Sie damals? | |
Suder: Da muss ich um die 45 gewesen sein. | |
Und Sie, Herr Gauger? | |
Christian Gauger: Ich hab auch in Frankfurt gelebt. Ich hatte ein Diplom in | |
Psychologie und bei den Sonderpädagogen an der Uni gearbeitet. | |
Als wissenschaftlicher Mitarbeiter? | |
Gauger: Nein, als wissenschaftlich Bediensteter. So hieß das damals. | |
*** | |
Gauger mustert den Journalisten. Er nippt an seiner Tasse, trinkt wie Suder | |
Kräutertee, ist konzentriert, ruhig. Sein schneeweißes Haar hat er hinten | |
zum Zopf zusammengebunden, das Gesicht rahmt ein kurz geschnittener | |
weißgrauer Bart. Mit seinem Blümchenhemd und dem leichten hessischen | |
Dialekt könnte er direkt aus einem Antiquariat in Frankfurt-Bockenheim | |
marschieren. Sonja Suder hat die Gesprächsführung. Ihre 77 Jahre merkt man | |
ihr nicht an. Eine agile, lebhafte und spontane Persönlichkeit mit | |
resoluter Stimme, schwarz und sportlich gekleidet, und mit kürzerem, | |
dunklem Haar. | |
Das Zimmer in St. Deniz ist mit gebrauchten Holzmöbeln eingerichtet, | |
gemütlich und unaufwendig, so wie man es aus vielen Wohngemeinschaften der | |
Alternativszene kennt. Antikonsumismus scheint eine praktische Ideologie | |
für das spartanische Leben in der Klandestinität, ohne Rente und festes | |
Einkommen. Neben Büchern fallen unzählige Messerbänkchen in den Regalen | |
auf. | |
Messerbänkchen benutzt man in Frankreich gern zur Ablage des Bestecks | |
zwischen den Gängen, um den Tisch nicht zu beschmutzen. Sie sind aus | |
Porzellan und Edelmetall, aus verschiedenen Mineralien, schlicht oder | |
kunstvoll gefertigt. Jeder Mensch hat ein Hobby, und das Sammeln von | |
Messerbänkchen ist das von Christian Gauger. Er erzählt langsam, fast | |
schleppend. 1997 hatte er einen Schlaganfall und musste wiederbelebt | |
werden. | |
*** | |
taz: Wie war die Situation, als Sie im Jahr 2000 festgenommen wurden? | |
Suder: Wir waren gerade in Paris und sind aus dem Hotel rausgekommen. Es | |
ging alles sehr schnell: Hände hoch! Und dann Arme und Gesicht zur Wand. | |
Französische Polizei? | |
Suder: Ja. Französische Polizei. | |
Keine Deutschen dabei? | |
Suder: Nee, erst später im Bullenrevier, da waren dann auch Deutsche dabei. | |
Die haben sich zwar nicht sehen lassen, du hast sie aber gehört, wie sie | |
miteinander sprachen. | |
Ist es Ihnen wichtig, dass wir von "Bullen" reden? | |
Suder [lacht]: Nein, wir können auch Polizei sagen. | |
Hatten Sie damit gerechnet, 2000 geschnappt zu werden? | |
Suder: Nee. Nicht zu diesem speziellen Zeitpunkt, auch wenn du eine | |
Einstellung zu deinem Leben hast, als könne es jederzeit passieren. Man | |
weiß ja nie, was gerade tatsächlich läuft. Insofern rechnest du prinzipiell | |
damit. | |
Also, es gab keinerlei konkrete Hinweise, die Sie bemerkten? | |
Suder: Nee. Obwohl die sicher schon eine Weile an uns dran waren. | |
Wissen Sie, wie man Sie nach 22 Jahren aufspüren konnte? | |
Suder: Es ist unklar. Wir hatten damals ein Treffen mit einer Verwandten. | |
Vielleicht haben sie sich irgendwie an die drangeklemmt. | |
Meinen Sie, Sie hatten die ganzen Jahre ein Zielfahndungskommando am Hals? | |
Suder: Ich glaube, nicht. Bis zu den Aussagen von Hans-Joachim Klein | |
1998/99 waren wir zeitweise wohl nicht einmal europaweit zur Fahndung | |
ausgeschrieben. Das muss sich danach geändert haben. | |
Hans-Joachim Klein war am Opec-Überfall in Wien 1975 beteiligt. Er | |
distanzierte sich danach vom Terrorismus, wurde aber erst 1998 von | |
Zielfahndern in Frankreich gestellt. Nach seiner Verhaftung behauptete er | |
1999 erstmals, Sonja Suder könne als Logistikerin am Opec-Anschlag | |
beteiligt gewesen sein. Bis 1999 gab es keinen internationalen Haftbefehl? | |
Suder: Nein, das sagen unsere Anwälte. Deswegen haben wir wahrscheinlich | |
vorher auch ziemlich unsere Ruhe gehabt. | |
Herr Gauger, Sie halten sich sehr zurück? Möchten Sie an unserem Gespräch | |
nicht richtig teilnehmen? | |
Gauger: Ich habe an vieles keine eigene Erinnerung. Ich hatte einen | |
Schlaganfall und lag im Koma. | |
Wann war das? | |
Suder: 1997. | |
Gauger: Ich hatte einen Herzstillstand. War praktisch tot. Sonja hat mich | |
wiederbelebt. [Herzstillstand und Schlaganfall und die damit einhergehende | |
Beeinträchtigung von Gehirn und Erinnerungsvermögen bestätigen medizinische | |
Gutachten aus Frankreich.] | |
War Ihre falsche Identität so gut, dass Sie ärztliche Betreuung in Anspruch | |
nehmen konnten? | |
Suder: Mussten! Allein wegen der Kontrolle und der Medikamente. Die Reha | |
hab ich dann selber mit ihm gemacht. Das war schon eine sehr blöde | |
Situation. | |
Und Sie flogen nicht auf? | |
Suder: Nein. Manchmal hat man zwar tief Luft geholt, aber bei unserem | |
Alter, da sind die Leute nicht mehr so misstrauisch. | |
Gauger: Ich hatte vollständig meine Erinnerung verloren. | |
Aber Sonja Suder haben Sie wiedererkannt? | |
Suder: Was mich auch gewundert hat, muss ich sagen. | |
Gauger: Aber ich hab vorher nicht gewusst, dass sie existierte, erst als | |
sie ins Zimmer zurückkam, hab ich sie erkannt. | |
Was ist das für ein Gefühl, wenn man alles vergessen hat, im Untergrund | |
lebt und einer einzigen Person vertrauen muss, die einen lehrt, wer man | |
ist? | |
Gauger: Da kam irgendwann die Furcht: Oh Scheiße, was ist, wenn ich jetzt | |
blöd bleibe. Als ich diese Furcht bekam, war das aber auch zugleich der | |
Punkt, an dem ich merkte, dass ich jetzt wieder selber denken kann. Das hat | |
ein Weilchen gedauert. | |
Sonja Suder musste Ihnen auch erzählen, weswegen Sie im Untergrund lebten? | |
Gauger: Ja. Aber ich weiß natürlich nicht, ob sie mir alles erzählt hat. | |
Das weiß ich einfach nicht. | |
Suder: Das kannst du ja auch nicht. Du kannst ja nicht ein ganzes Leben | |
erzählen. Wenn jemand fragt und wenn man mit bestimmten Reha-Büchern | |
arbeitet, kann man einiges re-erzählen, aber man darf ja auch einen Kopf | |
nicht überhäufen. Das geht Stückchen für Stückchen. | |
1997 und 2000 - zwischen Herzstillstand und Verhaftung lag gar nicht so | |
viel Zeit. | |
Suder: Ja, aber er war schon stabilisiert. Der Punkt, von dem er vorhin | |
sprach, das war nach anderthalb Jahren Reha. Aber bis heute fragt mich der | |
Christian nach Dingen aus seiner Vergangenheit, und wir setzen die Reha | |
praktisch fort. | |
Sie sind nach der Verhaftung sofort getrennt worden? | |
Suder: Ja, sofort. | |
Haben Sie noch Familie in Deutschland? | |
Suder: Ja. Wir haben beide zu unseren Schwestern Kontakt. | |
Herr Gauger, dann können Sie also jetzt selbstständig überprüfen, ob es | |
stimmt, was Ihnen Frau Suder erzählt hat? | |
Gauger: Ja, zumindest das ist leichter geworden. | |
Wie war Ihre Lage bei den Vernehmungen nach der Verhaftung? | |
Suder: Wenn du vorher ausgemacht hast: "Wenn einmal was passiert, dann kein | |
Wort, keine Aussage", dann hast du ein sehr sicheres Gefühl. | |
Wie lange waren Sie beim ersten Verfahren 2000/2001 in Untersuchungshaft? | |
Suder: Nicht ganz drei Monate. Christian saß in Paris, das Frauengefängnis | |
war außerhalb. | |
War dies Ihr erster Aufenthalt im Gefängnis? | |
Suder: Ja, ich war Ende 60, Christian Anfang 60. | |
Wie war das im Gefängnis? | |
Suder: Man sagt, die französischen seien die schrecklichsten Gefängnisse | |
der Welt. Aber ich kann das nicht sagen. Ich kam in eine Zelle und hatte | |
ganz normalen Hofgang. Ich bin gleich auf ein paar Baskinnen gestoßen. Von | |
da an wurde mir alles, was ich brauchte, wie von allein organisiert, | |
natürlich unter der Hand. Ich war also gleich ein bisschen privilegiert. | |
Diese Solidarität war faszinierend. | |
Was war das Belastendste im Gefängnis? | |
Suder: Eigentlich der Krach. An jedem Zugang sind Eisentüren, die permanent | |
aufgeschlossen und wieder zugeknallt werden. Das ist ein fortwährendes | |
Knallen. Ein unglaublicher Krach. Das Eingeschlossensein selber war für | |
mich nicht so schlimm, da befasst du dich ja auch vorher schon ein wenig | |
mit. Du musst sofort schauen, das man etwas tun kann, Sport treiben, lesen. | |
Herr Gauger, wie ging es Ihnen? | |
Gauger: Beim Hofgang ist gleich einer auf mich zugekommen. Der wusste schon | |
Bescheid. Da war ich dann immer mit dem und noch einem anderen zusammen | |
beim Hofgang. In der Zelle waren wir zu dritt. Unangenehm waren die | |
Stockbetten. Im dritten oben, das ist doch ganz schön hoch, da kann dir | |
schwindlig werden. Ansonsten: Mäuse und Kakerlaken, das sind doch | |
Haustiere. Besser als eine weiß gekachelte Einzelzelle, wo du niemanden | |
siehst und hörst. | |
Was denkt man, wenn man nach mehr als zwanzig Jahren im Exil verhaftet | |
wird? | |
Suder: Jetzt hat's uns doch noch erwischt. | |
Gauger: Und ich hab gedacht: Das muss doch nicht sein. | |
Sie wissen, was Ihnen konkret vorgeworfen wird? | |
Suder: Drei Anschläge, zwei gegen das Atomprogramm des damaligen | |
Apartheidregimes in Südafrika und ein Anschlag gegen die Stadtsanierung in | |
Heidelberg. Und mir zusätzlich Wien. Diese Opec-Geschichte. Und damit die | |
Behauptung: Beihilfe zum Mord. In Frankreich wäre auch dies verjährt. Das | |
Einzige, was hier nicht verjährt, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. | |
Überraschte Sie der Vorwurf der Beteiligung am Opec-Anschlag? | |
Suder: Ja. | |
*** | |
## Rückblende | |
1975. Kleins Festnahme 1998 kam genauso aus heiterem Himmel wie seine | |
Behauptungen von einer Tatbeteiligung Suders. Klein hatte im Dezember 1975 | |
einem Kommando unter Führung von Ilich Ramírez Sánchez, genannt "Carlos", | |
angehört, das in Wien für den Tod von drei Menschen verantwortlich war. Dem | |
bei der Aktion selber angeschossenen Klein gelang mit anderen | |
Kommandomitgliedern und Opec-Ministern als Geiseln die Flucht. | |
1976 entführte dann ein deutsch-palästinensisches Kommando eine | |
Air-France-Maschine nach Entebbe; dabei starben Wilfried Böse und Brigitte | |
Kuhlmann, die als Köpfe der frühen RZ gelten. Die RZ formierten sich danach | |
neu und gingen auf Distanz zu nahöstlichen Gruppierungen und Gestalten wie | |
Carlos. Sie kritisierten Antiamerikanismus und Antizionismus in der | |
"antiimperialistischen Linken" und propagierten Anschläge, die keine | |
Todesopfer fordern sollten. | |
Auf Nachfrage bestätigt die Staatsanwaltschaft Frankfurt heute, dass es bis | |
1999 und außer Kleins Aussagen keinerlei Hinweise gegeben habe, Suder könne | |
in die frühe Phase der RZ bis 1976 involviert gewesen sein. Klein, dessen | |
Glaubwürdigkeit oft mit der des ehemaligen RAF-Mitglieds und | |
-Geschichtenerzählers Peter-Jürgen Boock verglichen wird, bezichtigte 1999 | |
RZ-Mitglieder und andere Personen, am Wiener Opec-Überfall beteiligt | |
gewesen zu sein. | |
Rudolf Schindler wurde deswegen bereits 2001 vor dem Landgericht Frankfurt | |
der Prozess gemacht. Und er wurde, entgegen Kleins Aussagen, vom Vorwurf | |
der Mittäterschaft am Opec-Überfall freigesprochen. Das Gericht bezweifelte | |
Kleins "Identifizierungssicherheit bei der Lichtbildvorlage vom 2. 9. | |
1999". Bei dieser beschuldigte er neben Schindler auch Suder, "obwohl er | |
diesbezüglich zuvor nie von einer weiteren Frau gesprochen hat", befand das | |
Gericht schon 2001. Außer Kleins Aussagen hat die Staatsanwaltschaft auch | |
heute nichts gegen Suder in Sachen Opec in der Hand. | |
*** | |
taz: Wie präsent waren Ihnen all die Jahre die Vorwürfe aus den Siebzigern, | |
aus einer immer weiter zurückliegenden Phase Ihres Lebens? Konnten Sie ein | |
normales Leben führen? | |
Suder: Erst mal nicht. Da schaust du ja immer, ob jemand hinter dir her | |
ist. Deutsch spricht. | |
Gauger: Möglichst kein Kontakt zu Deutschen, das ist sehr wichtig. | |
Frau Suder, Herr Gauger, kam Ihnen in all den Jahren nicht auch einmal in | |
den Sinn: Die Geschichte liegt so lange zurück, was soll das, wir wollen | |
zurück und stellen uns der Vergangenheit? | |
Suder: Also mir nicht. Und dir, Christian? | |
Gauger: Doch, wenn die Haftbefehle aufgehoben worden wären. | |
Suder: Sehr witzig. Jetzt ist aber klar: Sollte Frankreich dem | |
Auslieferungsbegehren stattgeben, werden wir uns dem Verfahren in | |
Deutschland stellen. | |
Die Gruppierung, der Sie angehört haben sollen, hat sich Anfang der | |
Neunzigerjahre endgültig aufgelöst. Hatte das zuletzt irgendwelche | |
Auswirkungen auf das Verfahren? | |
Suder: Juristisch keine. Nachdem die neue EU-Rechtsprechung kam, sind wir | |
2007 ein zweites Mal in Frankreich verhaftet worden. Christian für vierzehn | |
Tage und ich für einen Monat. Und seit 2009 müssen wir täglich mit der | |
Auslieferung rechnen, obwohl das französische Gericht eine Auslieferung | |
2001 bereits abgelehnt hatte. | |
Nach Ihrer Enttarnung im Jahr 2000 und der Niederschlagung des | |
Auslieferungsverfahrens lebten Sie in Paris erstmals wieder legal. Wie war | |
das für Sie? | |
Suder: Wenn du ständig mit einer Legende lebst, kannst du keine wirklichen | |
Freundschaften aufbauen. Wir lebten all die Jahre eher zurückgezogen. In | |
Paris hatten wir zunächst gar keine Kontakte. Unsere Anwältin hatte dann | |
für uns einen italienischen Genossen aufgetrieben, damit wir überhaupt eine | |
Wohnadresse vorweisen konnten, um aus dem Gefängnis rauskommen zu können. | |
Dann hat uns eine sehr nette Frau aufgenommen. | |
Ich glaube, in Deutschland wäre das alles etwas schwieriger gewesen. Aber | |
die republikanische Kultur in Frankreich hat eine reiche, jahrhundertealte | |
Tradition, Exilanten einen Zufluchtsort zu geben. Menschen, die wir nicht | |
kannten, haben uns für ein halbes Jahr ihr Haus überlassen, sind in ihr | |
Haus nach Südfrankreich gefahren und so konnten wir uns erst mal hier in | |
Paris eine eigene Wohnung suchen. | |
Die haben uns und unsere Geschichte praktisch kaum gekannt und haben | |
einfach geholfen. Wir waren auch schnell integriert in die große | |
italienische Exilszene um die geflüchteten Militanten aus den Siebzigern, | |
mit ihren Diskussionen und Festen. Sie sind sehr solidarisch. Da haben wir | |
viel Glück gehabt. | |
21 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
Andreas Fanizadeh | |
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