| # taz.de -- Augenzeugenbericht eines Ex-Guerilleros: Der Terrorist Carlos und d… | |
| > „Carlos – der Schakal“. Thomas Kram, einst Mitglied bei den | |
| > Revolutionären Zellen, spricht mit der taz exklusiv über diesen Thriller. | |
| Bild: Nora von Waldstätten als Magdalena Kopp und Édgar Ramírez als Carlos i… | |
| Anläßlich des monumentalen Filmepos „Carlos – Der Schakal“ von Olivier | |
| Assayas sprach die taz 2010 mit einem früheren Untergrundkämpfer. Der | |
| spektakuläre Actionfilm beleuchtet die Kooperation deutscher und | |
| palästinensischer Untergrundgruppen. Ein bis heute eher gut gehütetes | |
| Geheimnis der militanten Szenen. Thomas Kram, früheres Mitglied der | |
| deutschen Revolutionären Zellen (RZ), berichtete hier erstmals öffentlich | |
| über die Zusammenarbeit mit der Carlos-Gruppe in den 1970er Jahren. Der | |
| Venezolaner Carlos fungierte für die palästinensische Terrorszene als | |
| Mittelsmann nach Westeuropa. Seine Gruppierung verübte im Auftrag der | |
| palästinensischen PFLP sowie später eigenständig zahlreiche | |
| Terroranschläge, vor allen in Frankreich. Das Gespräch mit Kram ist ein | |
| wichtiges Dokument der Zeitgeschichte, weswegen wir es hier zehn Jahre nach | |
| seinem Erscheinen in der Printausgabe der taz auch auf taz.de neu | |
| veröffentlichen. | |
| taz: 1975 wurde Ilich Ramírez Sánchez, genannt „Carlos“, weltberühmt. Ein | |
| Kommando unter seiner Führung stürmte die Opec-Konferenz in Wien. An | |
| vorderster Front dabei auch ein Mitglied der deutschen Revolutionären | |
| Zellen (RZ). Herr Kram, Sie gehörten den RZ an, hatten sie damals | |
| persönlich Kontakt zu Carlos? | |
| Thomas Kram: 1975 war ich bei den RZ gerade frisch eingestiegen und über | |
| die Opec-Aktion vorher nicht informiert. | |
| Wie alt waren Sie damals? | |
| 27 Jahre alt. Ich kannte Carlos nur aus den Medien und hatte nichts mit ihm | |
| zu tun. Später habe ich ihn kennengelernt. Bei meinen Besuchen bei Johannes | |
| Weinrich, nachdem der illegal war, das war 1978/79. | |
| Haben Sie Carlos öfter gesehen? | |
| Drei- oder viermal. Er kam manchmal dazu, wenn ich mich mit Weinrich in | |
| Ostberlin oder Budapest traf. | |
| Was war der Anlass der Treffen? | |
| Johannes Weinrich und Magdalena Kopp kamen aus RZ-Zusammenhängen und | |
| verstanden sich Ende der 70er Jahre nach wie vor als Mitglieder der RZ. Da | |
| ich mit ihnen nicht nur politisch, sondern auch freundschaftlich verbunden | |
| war, wollte ich den Kontakt zu ihnen aufrechterhalten, auch wenn es bereits | |
| unterschiedliche politische Prioritäten gab. | |
| Anfang November 2010 startet der Film „Carlos – Der Schakal“ in | |
| Deutschland. Gespielt wird Carlos von dem venezolanischen Schauspieler | |
| Édgar Ramírez. Sie haben den Film bereits gesehen. Als jemand, der Carlos | |
| persönlich traf: Spielt Ramírez seinen Carlos überzeugend? | |
| Das ist schwierig zu beurteilen, wenn man jemand nur sporadisch erlebt hat. | |
| Für mich war er erst mal ein Phantom, das die Medien in die Welt gesetzt | |
| hatten. Trotzdem gibt es natürlich Dinge, die ich wiedererkenne. Carlos | |
| verhielt sich solidarisch und verantwortlich denen gegenüber, die er für | |
| Revolutionäre hielt. Er war politisch gut geschult und sehr eloquent, war | |
| aber auch sehr bestimmend, sehr dominant. | |
| Also so, wie der Film dies darstellt? | |
| Mehr oder weniger. | |
| Im Auftrag der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) führte Carlos in | |
| Westeuropa in den 70er Jahren Terroranschläge durch. Die aus der RZ | |
| stammende Deutsche Magdalena Kopp wurde seine Freundin, Carlos rechte Hand | |
| blieb bis zur Festnahme Mitte der 90er Jahre Johannes Weinrich. Wie konnte | |
| es zu dieser intensiven internationalen terroristischen Zusammenarbeit in | |
| den 70er Jahren kommen? | |
| Könnten Sie den Begriff „terroristisch“ in diesem Zusammenhang streichen? | |
| Wieso, wie würden Sie das sonst bezeichnen? | |
| Es gab in den RZ eine kleine Gruppe, die sich international bewegte. Das | |
| hatte pragmatische Gründe, entsprach aber auch dem Selbstverständnis vieler | |
| Linker Anfang der 70er. Wir bezogen uns auf die antikolonialen | |
| Befreiungsbewegungen, die sich den bewaffneten Kampf auf ihre Fahnen | |
| geschrieben hatten. Den Palästinensern kam dabei eine besondere Rolle zu. | |
| Für die RZ war die Zusammenarbeit mit der PFLP Ausdruck internationaler | |
| Solidarität, die auch die Möglichkeit eröffnete, politische Gefangene aus | |
| den Gefängnissen zu befreien. Dass man dabei die Kampfformen | |
| palästinensischer Organisationen übernahm, war allerdings kaum Thema. Aus | |
| der Sicht der Palästinenser schienen Flugzeugentführungen wie die nach | |
| Entebbe 1976 gerechtfertigt. Als Vertriebene konnten sie nur zu | |
| exterritorialen Kampfformen greifen, um ihren Forderungen Geltung zu | |
| verschaffen. | |
| Assayas’ Film beruht vor allem auf direkten Zeugenaussagen sowie Gerichts- | |
| und Polizeiakten. Er zeigt einige der Deutschen wie Gabriele | |
| Kröcher-Tiedemann bei dem Wiener Opec-Anschlag 1975 als extrem fanatisiert. | |
| Was sagen Sie dazu? | |
| Ich habe Gabriele Kröcher-Tiedemann persönlich nicht gekannt. Sie reagiert | |
| in dem Film erst aggressiv und bricht schließlich in Tränen aus, als klar | |
| wird, dass die Opec-Aktion ihr Ziel verfehlt. Das finde ich kein Zeichen | |
| von Fanatismus. Eher Ausdruck einer enormen Anspannung, die sich plötzlich | |
| entlädt. Sie war selbst erst ein paar Monate vorher aus dem Knast befreit | |
| worden. Dass die Mehrzahl der Zuschauer dies vermutlich anders wahrnehmen | |
| wird, hängt doch auch damit zusammen, dass der Film nicht versucht, | |
| begreiflich zu machen, was in den 70er Jahren los war. | |
| Teilweise wohl schon:Die Waffen für den Opec-Überfall werden laut Assayas’ | |
| Filmproduktion von irakischen Diplomaten beschafft. Der Venezolaner Carlos | |
| und die deutschen RZ gemeinsam auf dem Ticket von arabischen Despoten wie | |
| Saddam Hussein und der palästinensischen PFLP: Was sagen sie von heute aus | |
| dazu? | |
| Von den konkreten Hintergründen weiß ich nichts. | |
| Aber halten Sie es für plausibel, dass die Waffen für den Opec-Überfall | |
| über die Iraker kamen? | |
| Ziel der Opec-Aktion war, das kann man dem Film entnehmen, die reaktionären | |
| arabischen Staaten unter Druck zu setzen. Sie sollten sich wieder stärker | |
| der palästinensischen Sache annehmen, nachdem sie erst aus Jordanien | |
| vertrieben und dann von den Falangisten im Libanon bekämpft wurden. | |
| Deswegen kann ich mir vorstellen, dass es von Seiten der arabischen | |
| Staaten, die man damals für progressiv hielt, ein Interesse an der | |
| Geiselnahme der Ölminister in Wien gab. Aber darüber haben wir nicht | |
| gesprochen. | |
| Da wurden Aktionen im Weltmaßstab durchgeführt, die auch noch schiefgingen, | |
| und Sie haben intern darüber nicht diskutiert? | |
| 1975 gehörte ich einer regionalen Gruppe der RZ an, die sich auf einem | |
| völlig anderen Terrain bewegte. Deshalb wurde, zumindest in meiner | |
| Gegenwart, nicht über Opec diskutiert. Ist das so verwunderlich? | |
| Heißt das, solche Aktionen wurden für gut befunden? | |
| Nein, das heißt es nicht. Für Außenstehende war schwer nachvollziehbar, was | |
| das Ganze sollte. Die Geiselnahme in Wien war spektakulär, aber was sollte | |
| damit erreicht werden? Später hieß es, dass die Opec-Aktion nach der | |
| Landung des Kommandos mit den Geiseln in Algier abgebrochen werden musste | |
| und deshalb ihr Ziel verfehlt hatte. Das legt ja auch der Film nahe. | |
| Bedeutet dies, man fand sie nicht gut, weil sie nicht erfolgreich war? | |
| Wurde die Opec-Aktion als solche damals noch nicht infrage gestellt? | |
| Ich kann nur für mich sprechen: Der Überfall auf die Opec bewegte sich | |
| jenseits meines Horizonts. Zwar war Hans-Joachim Klein in Wien dabei, ich | |
| wusste aber noch nicht, dass er Mitglied der RZ war. Diese Zusammenhänge | |
| waren mir im Dezember 1975 nicht bewusst. Erst hinterher habe ich gemerkt, | |
| wie nah ich da dran war. Die Mehrheit der RZ begriff sich als | |
| sozialrevolutionäre Organisation und agierte nicht in der Logik des | |
| Befreiungsnationalismus. Die Unterscheidung zwischen guten und schlechten | |
| Staaten war nicht unser Ding. Das hat in letzter Konsequenz ja auch zum | |
| Bruch mit der Gruppe um Carlos geführt. | |
| Von welcher Zeit sprechen Sie? | |
| Von der Zeit nach der gescheiterten Flugzeugentführung nach Entebbe 1976. | |
| Diese gemeinsame Aktion von PFLP und RZ hatte zum Ziel, Gefangene aus | |
| israelischen und deutschen Knästen zu befreien. Das wurde nicht erreicht | |
| und das Kommando mit den RZ-Mitgliedern Brigitte Kuhlmann und Wilfried Böse | |
| wurde getötet. Die RZ hinterfragten in der Folge die praktische | |
| Zusammenarbeit mit palästinensischen Organisationen sowie Aktionsformen wie | |
| Flugzeugentführungen. | |
| Sie haben zu Beginn der 1970er Jahre in Bochum im Politischen Buchladen | |
| gearbeitet, wie zuvor auch Johannes Weinrich. Eine Filmszene zeigt, wie | |
| Weinrich ein palästinensisches Kommando unterstützen soll. Das | |
| PFLP-Kommando versuchte auf dem Flughafen Orly eine israelische | |
| Passagiermaschine mit einer Rakete zu treffen. Wie gut kannten sie | |
| Weinrich? | |
| Als Weinrich Anfang 1975 das erste Mal ins Gefängnis kam, hielt ich das für | |
| einen Justizirrtum. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er etwas mit dem | |
| Anschlag zu tun hatte. Ich kannte die Texte der RZ und die Aktionen, zu | |
| denen sie sich erklärt hatten. Die Palette reichte von gefälschten | |
| Fahrkarten über Brandanschläge auf Autos von Miethaien bis hin zu Bomben | |
| vor Konzernen wie ITT. Dass es auch noch eine andere Seite gab, konnte man | |
| zwar zwischen den Zeilen lesen, aber ohne zu wissen, was sie praktisch | |
| beinhaltete. Diese Seite der RZ war abgeschottet. Darüber wurde nicht mit | |
| allen diskutiert. Das habe ich auch akzeptiert. | |
| Warum das? | |
| In klandestin operierenden Organisationen gibt es einen Widerspruch | |
| zwischen notwendiger Abschottung und dem Bedarf an Transparenz. Der lässt | |
| sich letztendlich nur lösen durch das Vertrauen, das man Leuten | |
| entgegenbringt, die schon länger dabei sind oder politisch erfahrener sind | |
| als man selbst. Ich hatte damals keinen Anlass, Weinrich zu misstrauen, | |
| auch wenn ich sicherlich nur Bruchteile von dem wusste, was ihn | |
| beschäftigte. | |
| Es gibt viele Filmszenen mit Deutschen in palästinensischen | |
| Ausbildungslagern. Haben Sie selber auch eine militärische Ausbildung in | |
| den Camps der PFLP durchlaufen? | |
| Es hat Anfang 1976 ein Camp gegeben, in dem auch RZ-Leute waren. Darüber | |
| berichtet Magdalena Kopp in ihrem Buch, und Hans-Joachim Klein erwähnt es | |
| ebenfalls. Das war nur wenige Wochen nach Opec. Über die Zeit in dem Camp | |
| wurde von den Einzelnen sehr unterschiedlich berichtet. Einige fühlten sich | |
| ausgesprochen wohl. In der BRD stand man permanent unter Verfolgungsdruck. | |
| Außerdem relativierten sich dort viele Probleme, mit denen sich die | |
| bewaffneten Gruppen in der westlichen Welt herumschlugen. Vor dem | |
| Hintergrund der Erzählungen der palästinensischen Kämpfer, die auf der | |
| Flucht waren oder in Lagern lebten, schienen die eigenen Zweifel banal. Das | |
| hat sich bestimmt auch politisch in den Köpfen niedergeschlagen und erklärt | |
| nicht zuletzt, warum sich einzelne für Aktionen wie Opec oder Entebbe | |
| entschieden haben. Es gab aber auch andere, die mit der militärischen | |
| Ausbildung nichts anzufangen wussten, denen nicht einleuchtete, warum sie | |
| auf dem Bauch durch den Sand robben mussten. Da prallten also auch | |
| unterschiedliche Welten aufeinander. | |
| Weinrich blieb bis zu seiner Festnahme Mitte der 1990er Jahre Carlos’ | |
| treuester Begleiter. Haben Sie ihn nach der Spaltung der RZ in eine mit | |
| Carlos weiterhin agierende Minderheit und dem Hauptstrom der Gruppierung, | |
| der sie angehörten und die dies ablehnte, noch einmal gesehen? | |
| Eine solche Spaltung der RZ hat es in meinen Augen nicht gegeben. Das wurde | |
| zwar oft behauptet, ist aber trotzdem falsch. Ich würde eher sagen, dass in | |
| der Auseinandersetzung um die gescheiterte Gefangenenbefreiung, die | |
| Flugzeugentführung nach Entebbe 1976 ein Streit um mögliche Konsequenzen | |
| entbrannte, der zu einem vorläufigen Bruch führte. Es gab vorübergehend | |
| zwei RZ-Gruppierungen, die sich in der praktischen Reaktion auf das, was | |
| nach Entebbe passieren sollte, unterschieden. Das blieb allerdings ein | |
| theoretischer Streit, weil die wüsten Vergeltungspläne der einen Fraktion | |
| durch die andere zum Glück verhindert wurden. Dass sich zunächst Johannes | |
| Weinrich und später auch Magdalena Kopp der Gruppe um Carlos angeschlossen | |
| haben, hat mit dieser Auseinandersetzung innerhalb der RZ allerdings nichts | |
| zu tun. Ausschlaggebend dafür waren eher die Entwicklungen nach dem | |
| Deutschen Herbst 1977 in der BRD nach der Offensive der RAF und den Toten | |
| im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim. Und der Tod von PFLP-Chef Wadi Haddad | |
| im April 1978 hat sicherlich auch eine Rolle gespielt. | |
| Carlos gründete Ende der 70er Jahre seine eigene Gruppe. Wann haben Sie ihn | |
| das letzte Mal getroffen? | |
| Getroffen habe ich mich mit Weinrich und Kopp. Anfang der 1980er war Carlos | |
| ein letztes Mal kurz dabei. | |
| Um was ging es dabei? | |
| Zwischen 1976 und 1978 ist Carlos raus aus der PFLP und hat eine Gruppe | |
| aufgebaut, die sich Gruppe Internationaler Revolutionäre nannte. Dieser | |
| Gruppe hatten sich Weinrich und Kopp angeschlossen. Ihr Ziel war der Aufbau | |
| eines globalen Netzwerks der unterschiedlichsten bewaffneten | |
| Organisationen. Vor allem sollte es um gegenseitige logistische | |
| Unterstützung gehen. Die Gruppe hatte Stützpunkte in verschiedenen | |
| Ostblockländern und arabischen Staaten. | |
| Wussten Sie, dass die Carlos-Gruppe so eng mit solchen staatlichen Stellen | |
| dort verknüpft war? | |
| Ich wusste es nicht, konnte mir aber auch nicht vorstellen, dass die Gruppe | |
| ohne staatliche Rückendeckung so viel Bewegungsfreiheit haben würde. Zu der | |
| Frage hatten Weinrich und ich sehr unterschiedliche Einschätzungen. | |
| Johannes Weinrich formulierte nach wie vor den Anspruch, RZ-Mitglied zu | |
| sein, und verstand sich als Vertreter der RZ in der Carlos-Gruppe. Das | |
| stand im ziemlichen Gegensatz zu den Diskussionen, die damals innerhalb der | |
| RZ geführt wurden. | |
| Die RZ standen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre vor einem Neuanfang, | |
| einer Neuformulierung ihrer Politik. Dazu gehörte auch der Rückzug aus den | |
| internationalen Verbindungen. Sie wollten sich wieder stärker auf die | |
| sozialen Kämpfe in der BRD beziehen, auf die Anti-AKW-Bewegung, den | |
| Häuserkampf, die Frauenbewegung. Eine Reihe von Leuten waren in der Folge | |
| der Entwicklungen zwischen 1976 und 1978 ausgestiegen. Andere waren im | |
| Knast, „verbrannt“, illegal oder tot. Die alten Kontakte hatten nur noch | |
| Einzelne. Insofern ist es reines Wunschdenken, wenn der Darsteller von | |
| Weinrich im Film sagt, hinter ihm stünden an die 40 RZ-Mitglieder. Das | |
| Gegenteil war der Fall: Die neu gegründete RZ hatte diese Kontakte für sich | |
| abgebrochen. | |
| Die Revolutionären Zellen verwarfen also das Konzept des internationalen, | |
| antiimperialistischen Kampfs. Sie begingen fortan weniger spektakuläre | |
| Anschläge im Inland. Gab es nach dem Desaster der Frühphase, Anschlägen mit | |
| antisemitischer Tönung, nicht Leute, die forderten, sich Ende der 70er | |
| Jahre einfach aufzulösen? | |
| Solche Stimmen gab es auch. Mir ging es aber um eine Kontinuität | |
| bewaffneter Gruppen. Um die Behauptung, dass diese in der Lage sind, sich | |
| selbst zu korrigieren und nicht zwangsläufig, wie gerne unterstellt, in die | |
| militärische Eskalation abdriften. Aus persönlichen Gründen habe ich den | |
| Kontakt zu Johannes Weinrich und Magdalena Kopp nicht völlig eingestellt. | |
| Aber der Konflikt mit ihnen spitzte sich zu. Ihr Konzept einer Gruppe, die | |
| im luftleeren Raum agiert und zumindest auf staatliche Duldung angewiesen | |
| ist, stand im krassen Gegensatz zu dem sozialrevolutionären Anspruch der | |
| RZ. Die Carlos-Gruppe versuchte zwar anfangs, die verschiedenen Staaten | |
| gegeneinander auszuspielen und so die eigene Selbständigkeit zu wahren. | |
| Aber das überzeugte mich nicht und hat ja auch nicht funktioniert. | |
| Kopp und Weinrich agierten im arabischen Kontext, haben Sie über Israel | |
| gesprochen? | |
| Nein, das war zwischen uns kaum Thema. Mir blieb die politische | |
| Stoßrichtung der Carlos-Gruppe unklar. Die neue RZ hatte sich vom platten | |
| Antizionismus der 70er Jahre verabschiedet. | |
| Der am Wiener Opec-Anschlag beteiligte Hans-Joachim Klein spielt in | |
| Assayas’ Film eine sehr selbstkritische Rolle. Er hatte die RZ in den 70er | |
| Jahren verlassen und wurde erst 1998 in Frankreich aufgespürt und | |
| verhaftet. Wie finden Sie ihn dargestellt? | |
| Klein hat nach seiner Verhaftung 1998 entgegen allem, was er zuvor beteuert | |
| hat, nicht lange gezögert, einen früheren Mitstreiter schwer zu belasten, | |
| um seine eigene Situation zu verbessern. Assayas’ Film zeigt eine | |
| idealisierte Figur von Klein. Von allen RZlern, die im Film dargestellt | |
| werden, ist Klein der Einzige, der weder Verstand noch Moral verloren hat. | |
| Nur er meldet frühzeitig Bedenken gegen Opec und Entebbe an. Leider hat er | |
| dies innerhalb der RZ aber nicht getan. Er behauptet, dass er das nicht | |
| gekonnt hätte, weil es ihn den Kopf gekostet hätte. Eine Szene des Films im | |
| Aostatal suggeriert, es wäre geplant gewesen, ihn umzubringen. Zu diesem | |
| Zeitpunkt hatte er noch die volle Unterstützung der RZ. Die Pistole, die er | |
| im April 1977 dem Spiegel geschickt hat, hatte er sich kurz davor von | |
| Leuten der RZ bringen lassen. Gibt man jemandem eine Waffe, den man | |
| umbringen will? | |
| Bekanntlich hat die Carlos-Gruppe auch andere, die sie für Verräter hielt, | |
| hingerichtet. | |
| Er wollte aber nicht die Carlos-Gruppe verlassen, die gab’s ja 1977 noch | |
| gar nicht, sondern die PFLP von Wadi Haddad. | |
| Und die hat so etwas nicht praktiziert? | |
| Zumindest konnte auch Carlos die PFLP/Outside-Operation verlassen, ohne | |
| umgebracht zu werden. | |
| Also, Sie halten das wirklich alles für eine paranoide Projektion von | |
| Klein? | |
| Ich glaube, Klein hätte in Absprache mit der PFLP und den RZ einen anderen | |
| Weg wählen können. Stattdessen hat er seinen Ausstieg mit Hilfe der | |
| Frankfurter Spontiszene und des „Spiegels“ inszeniert. In Frankfurt gab es | |
| zu der Zeit eine Spontiszene, die den RZ ursprünglich nahestand. Diese | |
| Leute hatten 1976 selber schlechte Erfahrungen mit ihrer Militanz gemacht | |
| und appellierten deshalb auch an die RZ, „die Waffen niederzulegen“. Sie | |
| benutzten Klein für ihre Kritik an den bewaffneten Gruppen. | |
| Die RZ wendeten sich in den 1980er Jahren ausdrücklich gegen | |
| Antiamerikanismus und einen simplen linken Antiimperialismus. Gleichzeitig | |
| deckten sie aber ihre (früheren) Kampfgefährten, die für palästinensische | |
| Terrorgruppen arbeiteten. Wie geht das zusammen? | |
| Hätten wir uns öffentlich von den Leuten distanzieren sollen? Und wie hätte | |
| eine solche Distanzierung aussehen sollen, ohne die falsche Seite zu | |
| bedienen? Die RZ haben sich anders entschieden: Sie haben die Kontakte | |
| abgebrochen und zugleich versucht, sich inhaltlich deutlich zu | |
| positionieren. Es gibt eine Reihe von Texten der RZ, aus denen dies | |
| deutlich hervorgeht, der Revolutionäre Zorn 6, das Papier zur | |
| Friedensbewegung et cetera. | |
| 1991 veröffentlichte eine RZ-Gruppe das Papier „Gerd Albartus ist tot“. Sie | |
| machte damit öffentlich, dass Gerd Albartus, einer ihrer früheren | |
| Mitstreiter, 1987 durch Palästinenser beziehungsweise die Carlos-Gruppe | |
| ermordet wurde. Herr Kram, Sie sollen das Papier verfasst haben. Warum | |
| dauerte es nach dem Mord bis zu einer Reaktion ihrer Gruppe weitere vier | |
| Jahre? | |
| Weil wir davon selber erst Jahre später erfahren hatten. Gerd Albartus war | |
| nach Damaskus gefahren, um die Carlos-Gruppe zu treffen. Als er von der | |
| Reise nicht mehr zurückkam, gingen wir davon aus, dass er sich abgesetzt | |
| hatte. Zum selben Zeitpunkt wurde verstärkt nach RZ-Mitgliedern in der BRD | |
| gefahndet. | |
| Gibt es Hinweise, warum er umgebracht wurde? | |
| Ein Grund war – und das bestätigt Kopp in unterschiedlichen Varianten – | |
| dass er sich noch Stasi-Kontakte zunutze gemacht hat, nachdem die | |
| Carlos-Gruppe in den Ostblockstaaten schon längst nicht mehr erwünscht war. | |
| Deswegen galt er als Verräter. Bizarrerweise hat Gerd 1985 Magdalena die | |
| Ausreise aus Deutschland über den Ostblock organisiert. Außerdem soll er | |
| unsorgfältig recherchiert und Geld unterschlagen haben. Und dann noch seine | |
| Homosexualität! Man kann wohl unterstellen, dass in Gruppen, die den Bezug | |
| zur sozialen Realität verloren haben, nonkonformes Verhalten ohnehin | |
| verdächtig ist und im schlimmsten Fall bestraft wird. Durch seinen Tod kam | |
| bei uns die alte Auseinandersetzung um Entebbe und Opec 1990 wieder hoch. | |
| Dies führte zu einer kritischen Bestandsaufnahme der gesamten RZ-Politik. | |
| Die RZ lösten sich in der Folge Anfang der 1990er auf. Die Carlos-Gruppe | |
| hätte ohne Logistik aus den Ostblockstaaten und die Unterstützung | |
| arabischer Diktaturen nicht existieren können. Gilt das auch für Sie, die | |
| sogenannte Feierabendguerilla, die den Mehrheitsflügel dieser bewaffneten | |
| Formation in der alten BRD ausmachte? | |
| Die Diskussion Anfang der 80er Jahre beinhaltete auch, dass die RZ sich | |
| logistisch vollständig auf eigene Beine stellte. Wir wollten uns unabhängig | |
| machen von allen Kontakten, die wir nicht einschätzen konnten. Das war Teil | |
| des Bruchs. | |
| Also hatten Sie auch keine weiteren Kontakte zur DDR oder zu anderen | |
| Ostblockstaaten? | |
| Nein, zum Glück, deswegen bin ich nach 1989/90 auch nicht aufgeflogen und | |
| festgenommen worden. Ich war längere Zeit von der Bildfläche verschwunden. | |
| 2006 habe ich mich selbst gestellt, nachdem die Urteile im Berliner | |
| RZ-Prozess rechtskräftig waren. Ich fühlte mich als Fossil einer | |
| Geschichte, die in dieser Form an ihr Ende gelangt war. | |
| Am 4.November (2010) startet der Carlos-Film. Was halten Sie von ihm? | |
| Der Film ist auf den ersten Blick schwer angreifbar. Er ist spannend | |
| gemacht und suggeriert, dass er sich an die Fakten hält. Doch vieles stimmt | |
| nicht: Klein war nicht der einzige aufrechte, kritische Denker der RZ. Und | |
| die Frauen verfügten über ganz andere Möglichkeiten als Fanatismus, | |
| Rücksichtslosigkeit oder Verführungskünste. Leider beurteilt Assayas die | |
| 70er Jahre nach heutigen Maßstäben, er macht wenig Anstalten, die Stimmung | |
| dieser Zeit einzufangen. Vor allem aber signalisiert er, dass alles, was | |
| einmal als Utopie begann, irgendwann im Schrecken endet. Wer vom Film | |
| ausgeht, wird die RZ-Geschichte für reinsten Horror halten. Aber das ist | |
| sie nicht. Deshalb würde ich mir wünschen, dass die Leute den Film als | |
| Anregung sehen, sich auch mit den Dingen dahinter zu beschäftigen. Der | |
| wesentliche Teil der RZ-Geschichte kommt überhaupt nicht zur Sprache und | |
| ist über Carlos auch nicht zu thematisieren. | |
| 6 Nov 2020 | |
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| Andreas Fanizadeh | |
| Christoph Villinger | |
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