| # taz.de -- Prozess gegen „Revolutionäre Zellen“: „Es waren harte Zeiten… | |
| > Sie versteckten sich 24 Jahre, jetzt stehen sie vor Gericht. 2010 traf | |
| > die taz die ehemaligen Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ Sonja Suder | |
| > und Christian Gauger. Eine Dokumentation. | |
| Bild: Fahndungsfotos von Sonja Suder und Christian Gauger aus dem Jahr 1978. | |
| taz: Frau Suder, Herr Gauger, wann merkten Sie erstmals, dass Sie | |
| observiert werden? | |
| Sonja Suder: Es war im Sommer 1978. Wir waren gerade vom Urlaub aus | |
| Südfrankreich zurück nach Frankfurt gekommen. Wir sind um 6 Uhr morgens | |
| los, um unseren Stand auf dem Flohmarkt am Eisernen Steg am Mainufer | |
| aufzubauen. | |
| Und da merkten Sie, dass Ihnen jemand folgt? | |
| Suder: Um sechs Uhr morgens ist es auffällig, wenn jemand von deiner | |
| Haustür bis zum Flohmarkt hinter dir ist und dann selber keinen Stand | |
| aufbaut. Wir haben das am Nachmittag überprüft, und da war es klar: Wir | |
| werden überwacht. Es wurde ein heißer Sommertag in Frankfurt am Main, ich | |
| glaube im August. Und wir mussten eine Entscheidung treffen. | |
| Warum? | |
| Na ja. Es waren harte Zeiten, ein Jahr nach der Schleyer-Entführung und den | |
| Toten in Stammheim. Wir beschlossen wegzugehen. | |
| ## Rückblende | |
| 1978. Wer erinnert sich an 1978, das Jahr, in dem Sonja Suder und Christian | |
| Gauger von der Bildfläche verschwanden, um die nächsten 22 Jahre lang | |
| unauffindbar zu bleiben? Das Jahr, in dem Argentinien die Fußball-WM | |
| gewann. Oder in dem die heutige Vizechefin der Partei Die Linke, Katja | |
| Kipping, geboren wurde. Die DDR gab es noch, und Westeuropa befand sich in | |
| der Spätphase der Achtundsechzigerbewegung. In Nicaragua stürmten die | |
| Sandinisten den Nationalpalast, in Italien ermordeten die Roten Brigaden | |
| den Christdemokraten Aldo Moro. | |
| Und in der Bundesrepublik Deutschland macht sich im Juni 1978 ein - nach | |
| Ansicht der Staatsanwaltschaft - Bekannter von Sonja Suder und Christian | |
| Gauger daran, eine Bombe am Konsulat Argentiniens in München zu platzieren. | |
| Herrmann F. hieß er und soll wie Suder und Gauger im Umfeld der sogenannten | |
| Revolutionären Zellen agiert haben. Die RZ waren für den Staatsschutz | |
| schwer einzuschätzen, da sie nach ihrer Spaltung 1976/77 ohne erkennbare | |
| Steuerung agierten. Die Gruppierung propagierte Anschläge mit Sachschäden | |
| und versuchte, anders als die RAF, Opfer zu vermeiden. | |
| Suder und Gauger sollen, sagt die Staatsanwaltschaft heute, 1977 an zwei | |
| Anschlägen gegen Firmen, die Urangeschäfte mit Südafrika machten, sowie | |
| einem Brandanschlag aufs Heidelberger Schloss 1978 beteiligt gewesen sein. | |
| Am 15. September 1978 erließ ein Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof | |
| deshalb Haftbefehl gegen die zwei. | |
| Falls sich Gauger, Suder und F. tatsächlich kannten, wie die | |
| Staatsanwaltschaft glaubt, dann dürften sie sich 1978 darin einig gewesen | |
| sein, Argentinien als Unrechtsstaat zu betrachten. Die Militärs hatten dort | |
| 1976 geputscht und in der Folge über 30.000 Menschen ermorden lassen. In | |
| diesem Land fand unter skandalösen Umständen die Fußballweltmeisterschaft | |
| statt. Und die sozialliberale Koalition in Bonn tolerierte Geschäfte | |
| deutscher Firmen mit der argentinischen Diktatur, während sie in | |
| argentinische Folterhaft geratenen deutschen Staatsbürgern nur zögerlich | |
| half. | |
| Es gab also wahrnehmbare Missstände, auch wenn nur wenige wie Hermann F. | |
| deshalb versuchten, ein Loch in die Mauer des argentinischen Konsulats zu | |
| bomben. Zu dem Anschlag auf das Konsulat kam es nie. Für Hermann F., den | |
| mutmaßlichen Bekannten Suders und Gaugers, verlief die Vorbereitung fatal. | |
| Der Sprengsatz explodierte am 23. Juni in Heidelberg vorzeitig, F. verlor | |
| beide Beine und Augen. | |
| Der Schwerverletzte wurde damals offenbar noch in der Uniklinik Heidelberg | |
| von Fahndern vernommen. Über Wochen und Monate hinweg, sagen Freunde und | |
| Anwälte, isolierten die Ermittler F., um an Informationen über die | |
| Organisationsstruktur der Revolutionären Zellen zu gelangen. Auch über | |
| Suder und Gauger. Die Ermittler protokollierten, was ihnen F. unter | |
| Medikamenteneinfluss und ohne Rechtsbeistand eigener Wahl gesagt haben soll | |
| - und was er später widerrief. | |
| Wenige Wochen nach F.s Unfall bemerkten Suder und Gauger die | |
| Observationsteams in Frankfurt - und entzogen sich ihnen. Seither sollen | |
| sie irgendwo im Ausland gelebt haben und - so sie es vorher waren - nicht | |
| mehr im Zusammenhang mit den RZ aktiv gewesen sein. | |
| Der Tatverdacht gegen Suder und Gauger "stützt sich im Wesentlichen auf die | |
| Angaben des Zeugen F. von 1978," bestätigt die Frankfurter | |
| Staatsanwaltschaft jetzt auf Nachfrage. Erst 1999 kam laut der Behörde ein | |
| weiterer Verdacht gegen Sonja Suder hinzu. Vorwurf: Beteiligung am | |
| Opec-Überfall 1975 in Wien und Beihilfe zum Mord. Die Verjährungsfrist für | |
| die Anschläge, die Gauger und Suder ursprünglich zur Last gelegt wurden, | |
| beträgt 20 Jahre. Sie wäre 1998 verstrichen. Doch, so sagt die | |
| Staatsanwaltschaft, die Verjährung sei "mehrfach unterbrochen" worden und | |
| sie könne "maximal bis zur doppelten Zeit - also 40 Jahre - laufen". Aus | |
| einer Brandstiftung von 1978 (Verjährungsfrist: 10 Jahre) kann eine | |
| menschengefährdende Brandstiftung (Verjährungsfrist: 20 Jahre) werden und | |
| die Verjährungsfrist auf 40 Jahre ausgedehnt werden. | |
| 2000 kam es zur spektakulären Enttarnung und Festnahme der beiden | |
| "RZ-Rentner" in Paris, wie sie genannt wurden. Seither ringen deutsche und | |
| französische Behörden zäh um Suder und Gauger. 2001 wies Frankreich ein | |
| Auslieferungsbegehren der Deutschen ab. Nun könnte sich das Blatt aufgrund | |
| des neuen EU-Haftbefehls gegen die zwei Siebziger-Jahre-Linken wenden. Im | |
| Moment liegt der Fall beim französischen Verfassungsgericht. Ob Frankreich | |
| ausliefert, ist völlig ungewiss. | |
| 2010. Paris, St. Deniz, nahe der Universität 8. Auf sehr kleinen | |
| Grundstücken stehen sehr kleine Häuser, in der Ferne sieht man die Kulisse | |
| einiger Hochhäuser. Ein nasskalter Tag, kaum Menschen auf den Straßen. In | |
| einem der Häuschen, oder besser gesagt: in einem winzigen Teil eines dieser | |
| Häuschen leben seit ihrer Enttarnung und vorübergehenden Inhaftierung Sonja | |
| Suder und Christian Gauger. Sonja Suder ist mittlerweile 77 Jahre alt, | |
| Christian Gauger 68. Sie waren schon vor ihrer Flucht 1978 ein Paar. Es ist | |
| das erste Mal, dass sie mit der deutschen Presse sprechen. Es gibt Tee und | |
| Gebäck zum Gespräch. Ihre Wohnküche ist keine 16 Quadratmeter groß. | |
| Wie ist das, wenn man deutsche Firmen wegen ihrer Geschäfte mit dem | |
| Apartheidstaat Südafrika attackierte, dann abtauchte, ein klandestines | |
| Leben in Frankreich führte, um Jahrzehnte später enttarnt und verhaftet zu | |
| werden? Suder und Gauger lächeln. Darüber reden sie nicht. Die beiden | |
| suchen das Gespräch mit der taz unter der Voraussetzung, dass sie keine | |
| Fragen beantworten müssen, die für die Verfahren juristisch relevant sein | |
| könnten. Sie sagen nicht, ob und, wenn ja, wofür sie Verantwortung tragen. | |
| *** | |
| taz: Wie lange leben Sie schon im Exil? | |
| Sonja Suder: Seit 1978. | |
| Sie haben vorher in Frankfurt am Main gelebt? | |
| Suder: Ja, ich hab Medizin studiert. Als wir weg sind, war ich fast fertig. | |
| Wie alt waren Sie damals? | |
| Suder: Da muss ich um die 45 gewesen sein. | |
| Und Sie, Herr Gauger? | |
| Christian Gauger: Ich hab auch in Frankfurt gelebt. Ich hatte ein Diplom in | |
| Psychologie und bei den Sonderpädagogen an der Uni gearbeitet. | |
| Als wissenschaftlicher Mitarbeiter? | |
| Gauger: Nein, als wissenschaftlich Bediensteter. So hieß das damals. | |
| *** | |
| Gauger mustert den Journalisten. Er nippt an seiner Tasse, trinkt wie Suder | |
| Kräutertee, ist konzentriert, ruhig. Sein schneeweißes Haar hat er hinten | |
| zum Zopf zusammengebunden, das Gesicht rahmt ein kurz geschnittener | |
| weißgrauer Bart. Mit seinem Blümchenhemd und dem leichten hessischen | |
| Dialekt könnte er direkt aus einem Antiquariat in Frankfurt-Bockenheim | |
| marschieren. Sonja Suder hat die Gesprächsführung. Ihre 77 Jahre merkt man | |
| ihr nicht an. Eine agile, lebhafte und spontane Persönlichkeit mit | |
| resoluter Stimme, schwarz und sportlich gekleidet, und mit kürzerem, | |
| dunklem Haar. | |
| Das Zimmer in St. Deniz ist mit gebrauchten Holzmöbeln eingerichtet, | |
| gemütlich und unaufwendig, so wie man es aus vielen Wohngemeinschaften der | |
| Alternativszene kennt. Antikonsumismus scheint eine praktische Ideologie | |
| für das spartanische Leben in der Klandestinität, ohne Rente und festes | |
| Einkommen. Neben Büchern fallen unzählige Messerbänkchen in den Regalen | |
| auf. | |
| Messerbänkchen benutzt man in Frankreich gern zur Ablage des Bestecks | |
| zwischen den Gängen, um den Tisch nicht zu beschmutzen. Sie sind aus | |
| Porzellan und Edelmetall, aus verschiedenen Mineralien, schlicht oder | |
| kunstvoll gefertigt. Jeder Mensch hat ein Hobby, und das Sammeln von | |
| Messerbänkchen ist das von Christian Gauger. Er erzählt langsam, fast | |
| schleppend. 1997 hatte er einen Schlaganfall und musste wiederbelebt | |
| werden. | |
| *** | |
| taz: Wie war die Situation, als Sie im Jahr 2000 festgenommen wurden? | |
| Suder: Wir waren gerade in Paris und sind aus dem Hotel rausgekommen. Es | |
| ging alles sehr schnell: Hände hoch! Und dann Arme und Gesicht zur Wand. | |
| Französische Polizei? | |
| Suder: Ja. Französische Polizei. | |
| Keine Deutschen dabei? | |
| Suder: Nee, erst später im Bullenrevier, da waren dann auch Deutsche dabei. | |
| Die haben sich zwar nicht sehen lassen, du hast sie aber gehört, wie sie | |
| miteinander sprachen. | |
| Ist es Ihnen wichtig, dass wir von "Bullen" reden? | |
| Suder [lacht]: Nein, wir können auch Polizei sagen. | |
| Hatten Sie damit gerechnet, 2000 geschnappt zu werden? | |
| Suder: Nee. Nicht zu diesem speziellen Zeitpunkt, auch wenn du eine | |
| Einstellung zu deinem Leben hast, als könne es jederzeit passieren. Man | |
| weiß ja nie, was gerade tatsächlich läuft. Insofern rechnest du prinzipiell | |
| damit. | |
| Also, es gab keinerlei konkrete Hinweise, die Sie bemerkten? | |
| Suder: Nee. Obwohl die sicher schon eine Weile an uns dran waren. | |
| Wissen Sie, wie man Sie nach 22 Jahren aufspüren konnte? | |
| Suder: Es ist unklar. Wir hatten damals ein Treffen mit einer Verwandten. | |
| Vielleicht haben sie sich irgendwie an die drangeklemmt. | |
| Meinen Sie, Sie hatten die ganzen Jahre ein Zielfahndungskommando am Hals? | |
| Suder: Ich glaube, nicht. Bis zu den Aussagen von Hans-Joachim Klein | |
| 1998/99 waren wir zeitweise wohl nicht einmal europaweit zur Fahndung | |
| ausgeschrieben. Das muss sich danach geändert haben. | |
| Hans-Joachim Klein war am Opec-Überfall in Wien 1975 beteiligt. Er | |
| distanzierte sich danach vom Terrorismus, wurde aber erst 1998 von | |
| Zielfahndern in Frankreich gestellt. Nach seiner Verhaftung behauptete er | |
| 1999 erstmals, Sonja Suder könne als Logistikerin am Opec-Anschlag | |
| beteiligt gewesen sein. Bis 1999 gab es keinen internationalen Haftbefehl? | |
| Suder: Nein, das sagen unsere Anwälte. Deswegen haben wir wahrscheinlich | |
| vorher auch ziemlich unsere Ruhe gehabt. | |
| Herr Gauger, Sie halten sich sehr zurück? Möchten Sie an unserem Gespräch | |
| nicht richtig teilnehmen? | |
| Gauger: Ich habe an vieles keine eigene Erinnerung. Ich hatte einen | |
| Schlaganfall und lag im Koma. | |
| Wann war das? | |
| Suder: 1997. | |
| Gauger: Ich hatte einen Herzstillstand. War praktisch tot. Sonja hat mich | |
| wiederbelebt. [Herzstillstand und Schlaganfall und die damit einhergehende | |
| Beeinträchtigung von Gehirn und Erinnerungsvermögen bestätigen medizinische | |
| Gutachten aus Frankreich.] | |
| War Ihre falsche Identität so gut, dass Sie ärztliche Betreuung in Anspruch | |
| nehmen konnten? | |
| Suder: Mussten! Allein wegen der Kontrolle und der Medikamente. Die Reha | |
| hab ich dann selber mit ihm gemacht. Das war schon eine sehr blöde | |
| Situation. | |
| Und Sie flogen nicht auf? | |
| Suder: Nein. Manchmal hat man zwar tief Luft geholt, aber bei unserem | |
| Alter, da sind die Leute nicht mehr so misstrauisch. | |
| Gauger: Ich hatte vollständig meine Erinnerung verloren. | |
| Aber Sonja Suder haben Sie wiedererkannt? | |
| Suder: Was mich auch gewundert hat, muss ich sagen. | |
| Gauger: Aber ich hab vorher nicht gewusst, dass sie existierte, erst als | |
| sie ins Zimmer zurückkam, hab ich sie erkannt. | |
| Was ist das für ein Gefühl, wenn man alles vergessen hat, im Untergrund | |
| lebt und einer einzigen Person vertrauen muss, die einen lehrt, wer man | |
| ist? | |
| Gauger: Da kam irgendwann die Furcht: Oh Scheiße, was ist, wenn ich jetzt | |
| blöd bleibe. Als ich diese Furcht bekam, war das aber auch zugleich der | |
| Punkt, an dem ich merkte, dass ich jetzt wieder selber denken kann. Das hat | |
| ein Weilchen gedauert. | |
| Sonja Suder musste Ihnen auch erzählen, weswegen Sie im Untergrund lebten? | |
| Gauger: Ja. Aber ich weiß natürlich nicht, ob sie mir alles erzählt hat. | |
| Das weiß ich einfach nicht. | |
| Suder: Das kannst du ja auch nicht. Du kannst ja nicht ein ganzes Leben | |
| erzählen. Wenn jemand fragt und wenn man mit bestimmten Reha-Büchern | |
| arbeitet, kann man einiges re-erzählen, aber man darf ja auch einen Kopf | |
| nicht überhäufen. Das geht Stückchen für Stückchen. | |
| 1997 und 2000 - zwischen Herzstillstand und Verhaftung lag gar nicht so | |
| viel Zeit. | |
| Suder: Ja, aber er war schon stabilisiert. Der Punkt, von dem er vorhin | |
| sprach, das war nach anderthalb Jahren Reha. Aber bis heute fragt mich der | |
| Christian nach Dingen aus seiner Vergangenheit, und wir setzen die Reha | |
| praktisch fort. | |
| Sie sind nach der Verhaftung sofort getrennt worden? | |
| Suder: Ja, sofort. | |
| Haben Sie noch Familie in Deutschland? | |
| Suder: Ja. Wir haben beide zu unseren Schwestern Kontakt. | |
| Herr Gauger, dann können Sie also jetzt selbstständig überprüfen, ob es | |
| stimmt, was Ihnen Frau Suder erzählt hat? | |
| Gauger: Ja, zumindest das ist leichter geworden. | |
| Wie war Ihre Lage bei den Vernehmungen nach der Verhaftung? | |
| Suder: Wenn du vorher ausgemacht hast: "Wenn einmal was passiert, dann kein | |
| Wort, keine Aussage", dann hast du ein sehr sicheres Gefühl. | |
| Wie lange waren Sie beim ersten Verfahren 2000/2001 in Untersuchungshaft? | |
| Suder: Nicht ganz drei Monate. Christian saß in Paris, das Frauengefängnis | |
| war außerhalb. | |
| War dies Ihr erster Aufenthalt im Gefängnis? | |
| Suder: Ja, ich war Ende 60, Christian Anfang 60. | |
| Wie war das im Gefängnis? | |
| Suder: Man sagt, die französischen seien die schrecklichsten Gefängnisse | |
| der Welt. Aber ich kann das nicht sagen. Ich kam in eine Zelle und hatte | |
| ganz normalen Hofgang. Ich bin gleich auf ein paar Baskinnen gestoßen. Von | |
| da an wurde mir alles, was ich brauchte, wie von allein organisiert, | |
| natürlich unter der Hand. Ich war also gleich ein bisschen privilegiert. | |
| Diese Solidarität war faszinierend. | |
| Was war das Belastendste im Gefängnis? | |
| Suder: Eigentlich der Krach. An jedem Zugang sind Eisentüren, die permanent | |
| aufgeschlossen und wieder zugeknallt werden. Das ist ein fortwährendes | |
| Knallen. Ein unglaublicher Krach. Das Eingeschlossensein selber war für | |
| mich nicht so schlimm, da befasst du dich ja auch vorher schon ein wenig | |
| mit. Du musst sofort schauen, das man etwas tun kann, Sport treiben, lesen. | |
| Herr Gauger, wie ging es Ihnen? | |
| Gauger: Beim Hofgang ist gleich einer auf mich zugekommen. Der wusste schon | |
| Bescheid. Da war ich dann immer mit dem und noch einem anderen zusammen | |
| beim Hofgang. In der Zelle waren wir zu dritt. Unangenehm waren die | |
| Stockbetten. Im dritten oben, das ist doch ganz schön hoch, da kann dir | |
| schwindlig werden. Ansonsten: Mäuse und Kakerlaken, das sind doch | |
| Haustiere. Besser als eine weiß gekachelte Einzelzelle, wo du niemanden | |
| siehst und hörst. | |
| Was denkt man, wenn man nach mehr als zwanzig Jahren im Exil verhaftet | |
| wird? | |
| Suder: Jetzt hat's uns doch noch erwischt. | |
| Gauger: Und ich hab gedacht: Das muss doch nicht sein. | |
| Sie wissen, was Ihnen konkret vorgeworfen wird? | |
| Suder: Drei Anschläge, zwei gegen das Atomprogramm des damaligen | |
| Apartheidregimes in Südafrika und ein Anschlag gegen die Stadtsanierung in | |
| Heidelberg. Und mir zusätzlich Wien. Diese Opec-Geschichte. Und damit die | |
| Behauptung: Beihilfe zum Mord. In Frankreich wäre auch dies verjährt. Das | |
| Einzige, was hier nicht verjährt, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. | |
| Überraschte Sie der Vorwurf der Beteiligung am Opec-Anschlag? | |
| Suder: Ja. | |
| *** | |
| ## Rückblende | |
| 1975. Kleins Festnahme 1998 kam genauso aus heiterem Himmel wie seine | |
| Behauptungen von einer Tatbeteiligung Suders. Klein hatte im Dezember 1975 | |
| einem Kommando unter Führung von Ilich Ramírez Sánchez, genannt "Carlos", | |
| angehört, das in Wien für den Tod von drei Menschen verantwortlich war. Dem | |
| bei der Aktion selber angeschossenen Klein gelang mit anderen | |
| Kommandomitgliedern und Opec-Ministern als Geiseln die Flucht. | |
| 1976 entführte dann ein deutsch-palästinensisches Kommando eine | |
| Air-France-Maschine nach Entebbe; dabei starben Wilfried Böse und Brigitte | |
| Kuhlmann, die als Köpfe der frühen RZ gelten. Die RZ formierten sich danach | |
| neu und gingen auf Distanz zu nahöstlichen Gruppierungen und Gestalten wie | |
| Carlos. Sie kritisierten Antiamerikanismus und Antizionismus in der | |
| "antiimperialistischen Linken" und propagierten Anschläge, die keine | |
| Todesopfer fordern sollten. | |
| Auf Nachfrage bestätigt die Staatsanwaltschaft Frankfurt heute, dass es bis | |
| 1999 und außer Kleins Aussagen keinerlei Hinweise gegeben habe, Suder könne | |
| in die frühe Phase der RZ bis 1976 involviert gewesen sein. Klein, dessen | |
| Glaubwürdigkeit oft mit der des ehemaligen RAF-Mitglieds und | |
| -Geschichtenerzählers Peter-Jürgen Boock verglichen wird, bezichtigte 1999 | |
| RZ-Mitglieder und andere Personen, am Wiener Opec-Überfall beteiligt | |
| gewesen zu sein. | |
| Rudolf Schindler wurde deswegen bereits 2001 vor dem Landgericht Frankfurt | |
| der Prozess gemacht. Und er wurde, entgegen Kleins Aussagen, vom Vorwurf | |
| der Mittäterschaft am Opec-Überfall freigesprochen. Das Gericht bezweifelte | |
| Kleins "Identifizierungssicherheit bei der Lichtbildvorlage vom 2. 9. | |
| 1999". Bei dieser beschuldigte er neben Schindler auch Suder, "obwohl er | |
| diesbezüglich zuvor nie von einer weiteren Frau gesprochen hat", befand das | |
| Gericht schon 2001. Außer Kleins Aussagen hat die Staatsanwaltschaft auch | |
| heute nichts gegen Suder in Sachen Opec in der Hand. | |
| *** | |
| taz: Wie präsent waren Ihnen all die Jahre die Vorwürfe aus den Siebzigern, | |
| aus einer immer weiter zurückliegenden Phase Ihres Lebens? Konnten Sie ein | |
| normales Leben führen? | |
| Suder: Erst mal nicht. Da schaust du ja immer, ob jemand hinter dir her | |
| ist. Deutsch spricht. | |
| Gauger: Möglichst kein Kontakt zu Deutschen, das ist sehr wichtig. | |
| Frau Suder, Herr Gauger, kam Ihnen in all den Jahren nicht auch einmal in | |
| den Sinn: Die Geschichte liegt so lange zurück, was soll das, wir wollen | |
| zurück und stellen uns der Vergangenheit? | |
| Suder: Also mir nicht. Und dir, Christian? | |
| Gauger: Doch, wenn die Haftbefehle aufgehoben worden wären. | |
| Suder: Sehr witzig. Jetzt ist aber klar: Sollte Frankreich dem | |
| Auslieferungsbegehren stattgeben, werden wir uns dem Verfahren in | |
| Deutschland stellen. | |
| Die Gruppierung, der Sie angehört haben sollen, hat sich Anfang der | |
| Neunzigerjahre endgültig aufgelöst. Hatte das zuletzt irgendwelche | |
| Auswirkungen auf das Verfahren? | |
| Suder: Juristisch keine. Nachdem die neue EU-Rechtsprechung kam, sind wir | |
| 2007 ein zweites Mal in Frankreich verhaftet worden. Christian für vierzehn | |
| Tage und ich für einen Monat. Und seit 2009 müssen wir täglich mit der | |
| Auslieferung rechnen, obwohl das französische Gericht eine Auslieferung | |
| 2001 bereits abgelehnt hatte. | |
| Nach Ihrer Enttarnung im Jahr 2000 und der Niederschlagung des | |
| Auslieferungsverfahrens lebten Sie in Paris erstmals wieder legal. Wie war | |
| das für Sie? | |
| Suder: Wenn du ständig mit einer Legende lebst, kannst du keine wirklichen | |
| Freundschaften aufbauen. Wir lebten all die Jahre eher zurückgezogen. In | |
| Paris hatten wir zunächst gar keine Kontakte. Unsere Anwältin hatte dann | |
| für uns einen italienischen Genossen aufgetrieben, damit wir überhaupt eine | |
| Wohnadresse vorweisen konnten, um aus dem Gefängnis rauskommen zu können. | |
| Dann hat uns eine sehr nette Frau aufgenommen. | |
| Ich glaube, in Deutschland wäre das alles etwas schwieriger gewesen. Aber | |
| die republikanische Kultur in Frankreich hat eine reiche, jahrhundertealte | |
| Tradition, Exilanten einen Zufluchtsort zu geben. Menschen, die wir nicht | |
| kannten, haben uns für ein halbes Jahr ihr Haus überlassen, sind in ihr | |
| Haus nach Südfrankreich gefahren und so konnten wir uns erst mal hier in | |
| Paris eine eigene Wohnung suchen. | |
| Die haben uns und unsere Geschichte praktisch kaum gekannt und haben | |
| einfach geholfen. Wir waren auch schnell integriert in die große | |
| italienische Exilszene um die geflüchteten Militanten aus den Siebzigern, | |
| mit ihren Diskussionen und Festen. Sie sind sehr solidarisch. Da haben wir | |
| viel Glück gehabt. | |
| 21 Sep 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
| Andreas Fanizadeh | |
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