# taz.de -- Kraushaar über linken Antizionismus: „Eine geheime Entlastungsst… | |
> Haben Linksradikale den tödlichen Brandanschlag auf die Israelitische | |
> Kultusgemeinde 1970 in München verübt? Der Historiker Wolfgang Kraushaar | |
> rollt den Fall neu auf. | |
Bild: Kommune 1: Kunzelmann (ganz links), Langhans (auch links), Teufel (sowies… | |
sonntaz: Herr Kraushaar, zwei Seiten vorab in der FAZ, eine in der SZ, in | |
der Welt, drei Seiten im Spiegel – haben Sie mit diesem enormen Interesse | |
zum Erscheinen Ihres Buchs gerechnet? | |
Wolfgang Kraushaar: Rechnen kann man mit so etwas natürlich nicht, aber es | |
kam für mich nicht ganz so überraschend, schließlich hat dieses Buch eine | |
nicht unerhebliche Brisanz. | |
Dann kommen wir doch gleich zur Brisanz: Im Februar 1970 gab es mehrere | |
Anschläge gegen jüdische Einrichtungen und israelische Bürger in der | |
Bundesrepublik, vor allem in München. Sie behaupten, das geschah auch mit | |
Unterstützung der linken Szene. | |
Mich hat seit Langem, genauer seit 2004, irritiert, dass damals innerhalb | |
von nur elf Tagen eine Serie von terroristischen Anschlägen verübt wurde, | |
die aus dem öffentlichen Bewusstsein so gut wie verschwunden war. | |
Aber was hat das mit der damaligen Linken zu tun? | |
Damals recherchierte ich für mein Buch über „Die Bombe im Jüdischen | |
Gemeindehaus“, das im Sommer 2005 erschienen ist. Es ging um den Anschlag, | |
den die Tupamaros West-Berlin auf die Gedenkveranstaltung für die Opfer der | |
sogenannten Reichskristallnacht 1969 verübt hatten. Diese Bombe ist | |
glücklicherweise nicht hochgegangen, hat aber dennoch in der Öffentlichkeit | |
für enormen Wirbel gesorgt. Ich stieß auf einen Zeitungsartikel, in dem | |
Heinz Galinski, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Berlin, im | |
Februar 1970 schrieb, dass das, was in Berlin noch misslang, auf | |
fürchterliche Weise in München Wirklichkeit geworden sei. | |
Sie sprechen von dem bis heute unaufgeklärten Brandanschlag in München auf | |
die Israelitische Kultusgemeinde in der Reichenbachstraße vom 13. Februar | |
1970. | |
Ja, dem sieben ältere Menschen, Holocaustüberlebende, zum Opfer gefallen | |
sind. Seitdem hatte ich das im Auge. Als ich mich 2005 an die | |
Staatsanwaltschaft München wandte, konnte man mir nicht sagen, wo die | |
Ermittlungsakten hingekommen waren. Aber sie mussten ja noch existieren, da | |
es sich um einen nicht abgeschlossenen Fall handelt. Bei einem | |
unaufgeklärten Mordanschlag kann jederzeit neu ermittelt werden. | |
Schließlich gelangten sie aber an die Akten? | |
Zunächst hatten wir einen neuen Beweggrund, uns noch einmal um die Münchner | |
Ermittlungsakten zu bemühen. Dies hing mit einem Dokumentenfund im Archiv | |
unseres Instituts in Hamburg zusammen. Wir stießen dort auf das Protokoll | |
einer Vernehmung, die BKA-Beamte im April 1976 mit dem ehemaligen | |
RAF-Mitglied Gerhard Müller durchgeführt hatten. | |
Das Sie auch in Ihrem Buch zitieren. | |
Darin wird ein Konflikt zwischen Gudrun Ensslin und Irmgard Möller | |
beschrieben, der sich vor der Bombenanschlagsserie der RAF im Mai 1972 in | |
Frankfurt abgespielt haben muss. Ensslin warf Möller vor, man könne froh | |
sein, dass ein Anschlag, den sie verübt hätten, nicht ihnen, sondern | |
Neonazis in die Schuhe geschoben worden wäre. Damit war der Anschlag auf – | |
wie es damals in der Presse hieß – das Jüdische Altersheim in München vom | |
13.Februar 1970 gemeint. Für Müller schien klar, dass Ensslin der | |
Überzeugung war, dass der Anschlag aus dem unmittelbaren Umfeld von Irmgard | |
Möller – später RAF, damals aber noch Tupamaros München und Lebensgefährt… | |
Fritz Teufels – verübt worden sei. In der Folge erhielten wir einen | |
Hinweis, dass sich die Ermittlungsakten im Staatsarchiv München befänden. | |
So ist das in Gang gekommen. | |
Sie sehen in Ihrem jetzt erschienen 800-seitigen Werk den Brandanschlag auf | |
die Israelitische Kultusgemeinde in München im Zusammenhang mit dem | |
Überfall eines palästinensischen Kommandos auf dem Flughafen München-Riem | |
drei Tage zuvor, am 10. Februar 1970. Wie plausibel ist das? | |
Nur unter der Annahme, dass es eine Kooperation zwischen Palästinensern und | |
Tupamaros gegeben hat. Die Anschläge, die sich zwischen dem 10. und dem 21. | |
Februar 1970 abspielten, richteten sich gegen Israelis oder Juden. Es | |
begann mit der versuchten Flugzeugentführung einer El-Al-Maschine in | |
München. Dort gab es ein Todesopfer und mehrere zum Teil Schwerverletzte. | |
Ari Katzenstein, Sohn des deutsch-jüdischen Flüchtlings Heinz Katzenstein, | |
starb, weil er sich über eine Handgranate geworfen hatte, der israelischen | |
Schauspielerin Hanna Maron musste ein Fuß amputiert werden. Das dreiköpfige | |
palästinensische Kommando wurde verhaftet. Auftraggeber war die | |
Befreiungsorganisation AOLP von Issam Sartawi, einem Herzchirurgen, der | |
später noch eine wichtige Rolle als Diplomat von Arafats PLO spielen | |
sollte. | |
München-Riem, das bezeichnet die erste palästinensische Kommandoaktion in | |
der Bundesrepublik. Aber wie ziehen Sie den direkten Zusammenhang zu dem | |
Anschlag in der Reichenbachstraße? | |
Am 10. Februar war der Überfall in München-Riem, am 13. der Brandanschlag | |
auf das Gemeindehaus der Israelitischen Kultusgemeinde, am 17. wurde eine | |
weitere schwer bewaffnete dreiköpfige Kommandogruppe der Palästinenser in | |
München-Riem verhaftet, und am 21. Februar kam es zu einer nochmaligen | |
Eskalationsstufe. Ursprünglich gegen EL-Al-Flugzeuge gerichtete Paketbomben | |
explodierten in einer Austrian-Airlines- und einer Swiss-Air-Maschine. | |
Letztere stürzte auf dem Weg von Zürich nach Tel Aviv ab. Alle 47 | |
Passagiere und Besatzungsmitglieder sind dabei ums Leben gekommen. Die | |
Paketbombenattentate wurden von einem Palästinenser organisiert, der sich | |
in München aufhielt. Einen Tag zuvor hatten die Tupamaros München erstmals | |
mit einem Flugblatt auf sich aufmerksam gemacht und Anschläge angekündigt. | |
Damals stand der Staatsbesuch des israelischen Außenministers Abba Eban an. | |
Eban war der erste israelische Minister auf Staatsbesuch in der | |
Bundesrepublik. Gegen ihn gab es eine Kampagne der Generalunion | |
Palästinensischer Studenten, deren Zentrale in Frankfurt am Main war. | |
Spätestens seit 1969 bestanden direkte Verbindungen deutscher | |
Linksradikaler zu palästinensischen Gruppen. Und die Gruppe um den | |
Ex-Kommunarden Dieter Kunzelmann war von Rom aus zu einer militärischen | |
Ausbildung nach Jordanien weitergereist. Das alles halte ich für keinen | |
Zufall. | |
Sie messen dieser Reise Kunzelmanns eine entscheidende Bedeutung bei? | |
Ja. Bereits im Juli 1969 waren verschiedene Mitglieder des Sozialistischen | |
Deutschen Studentenbundes von Frankfurt über Kairo nach Amman geflogen und | |
hatten dort an einem internationalen Camp teilgenommen. Zumindest einige | |
von ihnen haben sich auch militärisch ausbilden lassen. Das haben mir | |
Teilnehmer dieser Reise bestätigt. Das war der erste Schritt, die | |
Vorläufergeschichte, ich komme gleich noch auf Kunzelmann … | |
… dem Kopf der mit den Münchnern und Fritz Teufel eng verknüpften Tupamaros | |
West-Berlin. | |
Die hatten in einem Ford-Transit-Bus, der dem Asta der TU-Berlin gehörte, | |
die Tausende von Kilometern dauernde Reise nach Jordanien zurückgelegt. Zu | |
dieser Gruppe zählten neben Kunzelmann noch Georg von Rauch, Ingrid | |
Siepmann, Roswitha Conradt und Albert Fichter. Sie trafen im September 1969 | |
in Jordanien ein und traten dort in Kontakt mit den Spitzenfiguren von | |
Fatah und PLO, deren Vorsitzenden Jassir Arafat und Faruk Kaddoumi, dem | |
späteren außenpolitischen Sprecher der PLO. | |
Große Namen … | |
… ja, eigentlich erstaunlich, dass sich so hochrangige Leute seitens der | |
Palästinenser mit deutschen Subkulturfreaks aus der Berliner | |
Hasch-Rebellen-Szene überhaupt abgegeben und sie an Waffen und mit | |
Sprengstofftechniken ausgebildet haben. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr kam | |
es dann am 9. November 1969 zum Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in | |
Westberlin, deren Drahtzieher nach Albert Fichters später Offenbarung | |
Kunzelmann gewesen sein soll. Das heißt: Den Auftakt zum linken Terrorismus | |
in Westdeutschland machte ein antisemitischer Anschlag. | |
Der mithilfe des Verfassungsschutzes und seines Agenten Peter Urbach | |
ausgeführt wurde. | |
Nicht ganz. Die Bombe stammte vom Verfassungsschutz, genauer gesagt von | |
Urbach. Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass er wusste, was damit | |
geplant war. Die danach einsetzende monatelange Anschlagsserie richtete | |
sich vor allem gegen Angehörige der Justiz, US-amerikanische sowie | |
israelische Einrichtungen. | |
Die bislang nicht ermittelten Täter des Anschlags auf die Israelitische | |
Kultusgemeinde in der Reichenbachstraße in München 1970 vermuten Sie im | |
Umfeld der Tupamaros München. Sie deuten auf einen zum Tatzeitpunkt | |
18-Jährigen aus der sogenannten Aktion Südfront. | |
Die Münchner Kriminalpolizei hatte damals alle Spuren sorgfältig verfolgt. | |
Wurde der Brandanschlag von innen verübt, waren es Neonazis oder | |
Palästinenser? Wenn man sich die Akten von damals genau anschaut, dann ist | |
die Spur zu dem 18-Jährigen von der Aktion Südfront die wahrscheinlichste. | |
Es gab einen anonymen Anrufer, der ihn belastete. Bei Hausdurchsuchungen | |
wurde Krepppapier gefunden, das identisch war mit dem, das beim Anschlag | |
verwendet worden war; er wohnte nahe einer Aral-Tankstelle, beim Anschlag | |
wurde ein Aral-Kanister benutzt; er arbeitete zusammen mit zwei führenden | |
Südfrontlern in einer chemischen Firma bei München, in der man sich leicht | |
brennbare Flüssigkeiten beschaffen konnte. Der Mann weigerte sich, ein | |
Alibi für die Tatnacht anzugeben. Auch wenn ihn die Behörden damals laufen | |
ließen: Bei ihm findet sich die dichteste Häufung von Verdachtsmomenten. | |
Was verbarg sich hinter der Bezeichnung Aktion Südfront? | |
Die Aktion Südfront wurde im Juni 1969 gegründet. Sie verfolgte die | |
sogenannte Randgruppen-Strategie der radikalen Linken. Man wollte die | |
Insassen von Erziehungsheimen herausholen und versprach sich von ihnen ein | |
besonders zu radikalisierendes, politisierbares Potenzial. Da man glaubte, | |
dass das Proletariat als künftiges revolutionäres Subjekt weitgehend | |
ausfallen würde, hat man sich auf diese jungen Leute kapriziert. Einer der | |
führenden Männer der Aktion Südfront war Alois Aschenbrenner. Er war eng | |
mit den Münchener Tupamaros verbunden, eine Zeitlang auch Lebensgefährte | |
der später führenden RAF-Frau Brigitte Mohnhaupt. Er hat mit dem damals | |
18-jährigen Verdächtigen einen besonders engen Kontakt gehabt. Auch in dem | |
Dokumentarfilm von Georg Hafner „München 1970“ erklärt Oberstaatsanwalt | |
Thomas Steinkraus-Koch, die heißeste Spur würde immer noch zu den | |
Südfrontlern führen. | |
Haben Sie versucht, mit einzelnen der damaligen Akteure Kontakt | |
aufzunehmen? | |
Ich hatte bereits 2004 einen Anlauf unternommen, mit ehemaligen Mitgliedern | |
der Tupamaros München zu sprechen. Da ging sofort der Rollladen runter. Ich | |
bin noch nicht mal in das Archiv des Trikont-Verlages gelassen worden, | |
einem der wichtigsten Publikationsorte der damaligen Szene. Auch Kunzelmann | |
lehnte jedes Gespräch strikt ab. Es ist mir aber möglich gewesen, mit drei | |
ehemaligen Mitgliedern der Tupamaros West-Berlin zu sprechen. Und darüber | |
und insbesondere durch das Tagebuch, das Kunzelmann für die zweite | |
Jahreshälfte 1969 hinterlassen hat, habe ich viele Details erfahren, die | |
für meine jetzigen Thesen sprechen. | |
Wie sind Sie an die Tagebücher von Kunzelmann gekommen? | |
Zunächst einmal gibt es eine polizeiliche Abschrift eines seiner | |
Tagebücher, die sich in den Akten zum Anschlag auf das Jüdische | |
Gemeindehaus befindet. Dann gibt es im Staatsarchiv München aber auch eine | |
Ablichtung des Originaltagebuchs, in dem viel mehr Details stecken. | |
Sie zitieren auch eine Vielzahl von Dokumenten, in denen sich die damalige | |
radikale Linke antizionistisch und antisemitisch äußert. Prominente wie | |
Georg von Rauch, Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann. Erschreckend ist auch | |
eine Stellungnahme von Ulrike Meinhof, in der sie im Namen der RAF 1972 den | |
Überfall auf die Olympischen Spiele bejubelt. Auch die Reisen in die | |
palästinensischen Ausbildungscamps sind unbestritten. Doch lässt sich | |
daraus tatsächlich eine Indizienkette zu den Tätern in der | |
Reichenbachstraße ziehen? | |
Durch die Aussage, die Gerhard Müller dem Bundeskriminalamt 1976 gemacht | |
hat, gibt es jedenfalls einen starken Hinweis darauf, dass der Anschlag in | |
der Reichenbachstraße aus dem Umfeld oder direkt von den Tupamaros München | |
verübt worden ist. | |
Müller ist ein Zeuge vom Hörensagen. Einer, der sich zudem als Kronzeuge | |
mildernde Umstände von der Justiz versprach. | |
Zweifelsohne ist die Rolle von Gerhard Müller umstritten. Dennoch ist im | |
Sinne einer Vorteilnahme kein Grund zu erkennen, sich zu diesem Zeitpunkt | |
noch einmal auf den Anschlag in der Reichenbachstraße zu beziehen. | |
In der Geschichtsschreibung der bundesdeutschen Linken spielten diese | |
Geschehnisse von Anfang der 1970er Jahre bald keine Rolle mehr, sie wurden | |
vergessen. Sogar Dan Diner, ein ausgezeichneter deutscher Historiker mit | |
links-jüdischem Hintergrund, sagte bei der Vorstellung Ihres Buchs, er habe | |
die damaligen Ereignisse gar nicht mehr erinnert. Wie konnte das sein? | |
Das ist in der Tat bemerkenswert. Was ich jetzt in dem Buch | |
dokumentengestützt ausbreite und rekonstruiere, muss also selbst für intime | |
Kenner der damaligen Zusammenhänge neu sein. Das ist erstaunlich, weil die | |
Presse an Berichten geradezu überquoll. An der großen Trauerfeier am 18. | |
Februar 1970 haben keine Geringeren als Bundespräsident Gustav Heinemann, | |
Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher und Münchens Oberbürgermeister | |
Hans-Jochen Vogel teilgenommen. | |
Dan Diner meint, dass erst 1979 die Ausstrahlung der Filmserie Holocaust | |
für einen Bewusstwerdungsschub in der Bundesrepublik gesorgt habe. Ein | |
derartiger Verdrängungsakt wäre danach undenkbar gewesen. Zu Beginn der | |
1970er Jahre war das aber noch ganz anders. Und als die Ermittlungen im | |
Fall Reichenbachstraße gescheitert waren, wurde das durch den Überfall auf | |
die israelische Olympiamannschaft im September 1972 in München und das | |
anschließende Desaster beim Befreiungsversuch auf dem Flughafen | |
Fürstenfeldbruck überlagert. Da gerieten die 55 Toten der Attentatsserie | |
vom Februar 1970 in Vergessenheit. | |
Der Kommunarde und spätere Stadtguerillero Kunzelmann sprach vom | |
„Judenknax“ in der bundesdeutschen Linken und davon, die palästinensischen | |
„durch besser organisierte zielgerichtete Kommandos zu ersetzen, die von | |
uns selbst durchgeführt werden“. | |
Am spektakulärsten haben diesen – antizionistisch motivierten – | |
Antisemitismus die Revolutionären Zellen bis zur Flugzeugentführung von | |
Entebbe 1976 praktiziert. Dennoch: Ist es nicht ein wenig weit hergeholt, | |
Fritz Teufels großsprecherische Agitation gegen ein Großereignis wie die | |
Olympischen Spiele in München mit dem blutigen Überfall des | |
palästinensischen „Schwarzen Septembers“ in direkte Verbindung zu setzen? | |
Nun, bereits im Oktober 1968 riefen Leute aus der Münchner Szene dazu auf, | |
den Olympia-Turm in die Luft zu sprengen. | |
Eben, großsprecherisch. | |
Aber nicht nur. Es ist nicht dazu gekommen, aber es war ein erstes Signal. | |
Teufel hat Anfang Februar 1970 am Rande eines Interviews erklärt, dass | |
während der Olympischen Spiele „etwas passieren“ würde. Bei der Verhaftung | |
von Kunzelmann am 19. Juli 1970 fand man in dessen konspirativer Wohnung | |
eine Reihe von Aktenordnern. Darunter befand sich ein Planungsschreiben, | |
das sich direkt auf die Spiele in München bezog. | |
Hatte Kunzelmann es verfasst? | |
Es war von Georg von Rauch geschrieben worden. | |
Was stand in dem Schreiben? | |
Darin ging es darum, dass man die Eröffnung der Olympischen Spiele mit | |
Waffengewalt stürmen wollte. Allerdings ist in dem Papier keine Rede von | |
einem Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft, es finden sich aber | |
eine ganze Reihe von Szenarien zur Durchführung bewaffneter Aktionen | |
während der Wettkämpfe. Es spricht zudem einiges dafür, dass durch die | |
Kontakte, die es zur Fatah gegeben hat, auch die fürchterliche Aktion des | |
„Schwarzen Septembers“ in München 1972 mit angestoßen worden ist. | |
Woraus schließen Sie das? | |
Der Mann, der einem BND-Dossier zufolge der eigentliche Chef des „Schwarzen | |
Septembers“ gewesen ist, war der Begründer des Fatah-Geheimdienstes und | |
spätere PLO-Außenminister Farouk Kaddoumi, den Kunzelmanns Gruppe 1969 in | |
Jordanien getroffen hatte. Kunzelmann und die Tupamaros hielten auch engen | |
Kontakt zum Büro Abdallah Frangis in Frankfurt am Main … | |
… der zu der Zeit Vorsitzender der offenbar von der Fatah gesteuerten | |
Generalunion Palästinensischer Studenten war. | |
Die Attentäter des „Schwarzen Septembers“ hatten Frangis private | |
Telefonnummer bei sich. Nach dem Olympia-Anschlag wurde er aus der | |
Bundesrepublik ausgewiesen. Die Kontakte von Kunzelmann zu Farouk Kaddoumi, | |
dessen Vertrauter Frangi war, lassen sich ebenso belegen wie die seiner | |
Gefährtin Ingrid Siepmann in Amman wiederum zu Kaddoumi. Das war ganz | |
offenkundig ein Netz, von dem die Münchner Ermittler keine Ahnung hatten. | |
Kunzelmann und andere sprachen von Israel als dem neuen, unbedingt zu | |
bekämpfenden faschistischen Staat. Aber war ihre antiimperialistisch | |
verstandene Identifikation mit dem palästinensischen Volkskampf nicht eine | |
extreme Randerscheinung innerhalb der radikalen Linken? | |
Nein. Bis zum 6-Tage-Krieg 1967 war die westdeutsche Linke und insbesondere | |
der SDS mehrheitlich proisraelisch. Das änderte sich durch den Sieg Israels | |
und die dann folgenden Gebietsannexionen. Die Israelis erschienen ihnen nun | |
als die Täter. Das war aber nichts anderes als eine insgeheime | |
Entlastungsstrategie, ein untauglicher Versuch, sich von der Last der durch | |
die Elterngeneration begangenen NS-Verbrechen zu befreien. Israel wurde zum | |
bekämpfenswerten Vorposten der USA im Nahen Osten umgedeutet. | |
Der sogenannte Antizionismus wurde mit einem Mal zur Grundposition des | |
linksradikalen Selbstverständnisses. Vom Frühjahr 1969 schlug sich das auch | |
in einschlägigen Aktionen nieder. Das begann mit merkwürdigen Anschlägen | |
gegen die jüdischen Besitzer von Bars und Restaurants in | |
Berlin-Charlottenburg. Und die Konsequenz war: Keine der westdeutschen | |
Stadtguerilla-Gruppierungen ist in den 1970er Jahren ganz ohne Ausbildung | |
bei den Palästinensern ausgekommen. Und am Ende war man so weit, sogar | |
„Auftragsarbeiten“ für Wadi Haddads PFLP-Spezialkommando zu übernehmen und | |
Terroraktionen für die Palästinenser zu verüben. | |
5 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
Andreas Fanizadeh | |
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