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# taz.de -- Kommentar zum linken Antisemitismus: Linker Antisemitismus?
> Die Neue Linke nach 1968 war offen für Antisemitismus, so der Historiker
> Wolfgang Kraushaar. Eine große These – mit spärlichen Belegen.
Bild: Dieter Kunzelmann, rechts, im Handgefecht mit dem Bürgermeister West-Ber…
Waren antisemitische Meinungen und Taten typisch für die Neue Linke 1968?
Oder nur für eine verschwindende Minderheit? Diese Fragen sind nicht neu
und die Aktualität der Debatte hat einen zweifelhaften Anlass: Wolfgang
Kraushaars Studie über den Anschlag auf ein jüdisches Altersheim 1970.
Das Buch ist dick, der Erkenntnisgewinn dünn. Kraushaar versucht Mitglieder
der „Kommune 1“ und Militante als Initiatoren und Täter des Anschlags
dingfest zu machen. Doch die Indizienkette, in der hippieske deutsche
Radikale mit palästinensischen Terroristen gemeinsame Sache gemacht haben
sollen, übersteht keinen Windhauch. Es ist erstaunlich, dass ein Verlag ein
Buch, in dem so viel bloß vermutet wird, als großen Wurf verkauft.
Nun ist Selbstaufklärung der Ex-Linksradikalen immer eine gute Sache, auch
wenn all das schon mehr als 40 Jahre her ist. Dass „1968“ als
identitätspolitisch aufgeladenes Symbol schon länger verblasst ist, hat ja
den Vorteil, dass ein distanzierter Rückblick möglich sein sollte.
Befassen wir uns nicht mit Spekulationen über München, sondern mit einer
antisemitischen Aktion, die von militanten Linken verübt wurde. 1969 legte
Albert Fichter, offenbar inspiriert von Dieter Kunzelmann, eine Bombe im
jüdischen Gemeindehaus in Berlin, am 9. November, dem 31. Jahrestag des
Naziprogroms. Im Bekennerschreiben der „Tupamaros Westberlin“ zu dem
glücklicherweise misslungenen Anschlag hieß es in irrwitziger
Geschichtsverleugnung: „Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind
selbst Faschisten geworden“.
Dass mit der Identifizierung jüdischer Deutscher mit Israel diese wie in
der NS-Zeit aus der deutschen Volksgemeinschaft ausbürgert wurden, fiel den
Tätern nicht auf. Chefideologe Kunzelmann gab die Parole aus: „Palästina
ist für die BRD, was für die Amis Vietnam ist. Die Linken haben das noch
nicht begriffen. Warum? Der Judenknacks.“
## Die verstörte Linke
Die linke Szene reagierte verstört. Im Republikanischen Club Berlin empörte
sich Otto Schily, solitär wie immer, über die Tat, während Horst Mahler
nach der Erinnerung eines SDSlers „die Jüdische Gemeinde als Speerspitze
des Zionismus“ bezeichnete. Das Gros der Linken war indes immun gegen den
Kunzelmann-Irrsinn. Dessen Versuch, mit dieser antisemitischen Parole die
Meinungsführerschaft unter den Militanten zu erobern, scheiterte auf ganzer
Linie.
Allerdings begriff die Neue Linke auch nicht, welchen moralischen
Totalschaden dieses Attentat oder später Ulrike Meinhofs Rechtfertigung der
Ermordung israelischer Sportler 1972 in München bedeutete. Das
Selbstverständliche – Empathie mit den angegriffenen Juden, entschlossener
Bruch mit den Tätern – brachte sie nur halbherzig zu Wege. Warum?
## Die Konfusionen des Juni 1967
Es gibt nur unfertige Antworten. Im Juni 1967 wurde der Student Benno
Ohnesorg erschossen, und gleichzeitig verwandelte sich Israel im
Sechs-Tage-Krieg vom existenziell Bedrängten in die militärisch führende
Regionalmacht, die Palästina seitdem völkerrechtswidrig besetzt hält. Die
Neue Linke war bis dato proisraelisch gewesen – man sympathisierte mit den
sozialistisch-experimentellen Kibbuzim und dem Land der NS-Opfer.
All das implodierte, als die Springer-Presse, die die Studenten in
Karikaturen als neue SA inszenierte, israelische Militärs als Helden
feierte. Die Mehrheitsgesellschaft gerierte sich nach 1967 philosemitisch –
die Mixtur von Bewunderung für Kriegsheld Dayan und Amnestie der Nazitäter
hatte etwas Abgründiges. Viele Linke flüchten reflexhaft in das Gegenteil.
Dass sich die PLO eines marxistischen Vokabulars bediente, ließ sie als
Teil des globalen antiimperialistischen Kampfes erscheinen. Israel wurde in
binärer Logik auf der Täterseite verortet.
Das war der Beginn eines Sturms von Projektionen, in dem Opfer- und
Täterbilder, NS-Zeit und Nahostkonflikt und die Revolte gegen die Eltern
heillos verwirbelt wurden. Die Bezeichnung Faschist wurde zur kleinen Münze
im deutschen Generationskampf. Manche Linke träumten sich an die Stelle der
jüdischen Opfer, mit denen man in eine fantasierte Opferkonkurrenz trat.
Hatte nicht auch der von den Nazis ins Exil vertriebene Adorno 1967 gesagt,
dass die Studenten in Deutschland „ein wenig die Rolle der Juden übernommen
haben“ (auch wenn er dies später revidierte)?
## Rhetorische Knalleffekte
Aus dieser Melange rührte die Taubheit vieler Linker gegenüber der
antisemitischen Tat 1969, für die indes nur eine Handvoll Militanter
verantwortlich war. Und diese Proportion gerät im großformatigen Reden vom
linken Antisemitismus aus dem Blick. Die Gleichung „68 = Antizionismus =
linker Antisemitismus“, die bei Kraushaar oder auch Götz Aly aufblinkt,
geht nicht auf. Es ist unlauter, Antizionismus oder Parteinahme für die
Palästinenser, mit denen auch einige jüdische Deutsche sympathisierten, mit
der antisemitischen Gewalt der Wenigen kurzzuschließen. Dabei entstehen nur
rhetorische Knalleffekte.
Für Kraushaar zeigte der 9. November 1969 „die ungebrochene Wirksamkeit
eines antisemitischen Latenzzusammenhangs“ der Neuen Linken. Die Bewegung
war also irgendwie schon immer antisemitisch gewesen – bei erster
Gelegenheit kam dies zum Vorschein. Die Idee, dass es etwas Latentes,
Verborgenes gibt, das nur der gewiefte Aufklärer durchschaut, ist eine
argumentative Figur, die oft zu Übertreibungen, Andeutungen, Raunendem
einlädt.
Michael Brenner hat im aktuellen Kursbuch vermerkt, dass es eine Geschichte
enttäuschter Liebe der Juden zur deutschen Linken gab. Man erhoffte sich
dauerhafte Solidarität – und bekam es mit den konfusen Rollenspielen des
deutschen Generationskampfes zu tun. Die Enttäuschung ist indes beidseitig:
Das philosemitische Traumbild vom jüdischen Staat als eine Art moralischem
Super-Über-Ich hatte ja auch enorme Wunschanteile.
Was kommt nach der enttäuschten Liebe? Im schlechten Fall Bitterkeit, im
besseren Fall pragmatische Freundschaft und Einsicht in die eigenen
Projektionen. Der Verdachtsrhetorik à la Kraushaar gehört eher noch zur
Phase enttäuschter Liebe.
16 Mar 2013
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Stefan Reinecke
## TAGS
Schwerpunkt 1968
Antisemitismus
68er
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Linke Szene
Kommune 1
Wolfgang Kraushaar
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