| # taz.de -- Antisemitismus in der 70er-Linken: „Im Nachhinein ist jeder schla… | |
| > Wie antisemitisch war die radikale Linke in den 1970er Jahren? Bis auf | |
| > wenige Ausnahmen kaum, sagt Bommi Baumann, früherer Haschrebell und | |
| > Stadtguerillero. | |
| Bild: Kommunarde Dieter Kunzelmann wird von Polizisten weggetragen. | |
| taz: Herr Baumann, am 9. November 1969 gab es einen versuchten | |
| Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Westberlin. Wussten Sie | |
| bereits vorab davon? | |
| Bommi Baumann: Nein. Ich habe davon erfahren, als es in der Zeitung stand. | |
| Folgendes zum Ablauf: Die Kommunarden Dieter Kunzelmann, Georg von Rauch, | |
| Albert Fichter, Ina Siepmann und Lena Conradt waren Ende Oktober aus | |
| Jordanien zurückgekommen. Die waren auf Speed. | |
| Die wollten unbedingt Aktionen machen. Wir nicht. Wir haben gesagt: Wenn | |
| nicht heute, dann halt morgen – und erst mal eine Tüte geraucht. Wir | |
| wollten Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll. Wir hießen ja zu Recht | |
| „Umherschweifende Haschrebellen“. | |
| Was für Aktionen wollten die machen? | |
| Sie wollten mit dem bewaffneten Kampf Ernst machen, irgendeinen Anschlag | |
| durchführen. Sie sind aber nie konkret geworden. Georg von Rauch war mein | |
| bester Kumpel. Der wusste, dass wir noch Bomben hatten. Wir hatten die auf | |
| dem Schrank bei einem Kunststudenten in Kreuzberg versteckt. Der Mann war | |
| völlig unbedarft. Wir sind dort hingefahren und haben denen zwei | |
| Plastiktüten mit Bomben übergeben. | |
| Wussten Sie, dass diese Brandbombe im jüdischen Gemeindehaus deponiert | |
| werden sollte? | |
| Nein. Davon haben wir erst aus der Zeitung erfahren. | |
| Wie haben Sie reagiert? | |
| Ich dachte: Irrsinn, was hat das mit uns zu tun? Komplett irrsinnig war | |
| auch die Argumentation: Wir bräuchten einen neuen Aufhänger, nachdem es mit | |
| dem Vietnamkrieg nicht mehr funktioniere. Die haben sich nicht einmal die | |
| Mühe gemacht, nach einer Thematik hierzulande zu suchen. Die waren | |
| losgelöst von der Welt. | |
| Und dann? | |
| Wir konnten anschließend nirgendwo mehr hin. Wir hatten ja keine eigenen | |
| Wohnungen, haben in Kommunen geschlafen. Alle dachten, wir Haschrebellen | |
| stecken hinter dem Anschlag. In den Kommunen sagten die Leute: Seid ihr | |
| Idioten? Seid ihr wahnsinnig? | |
| Warum? | |
| Weil es purer Antisemitismus war. Stellenweise konnten wir uns, ob in | |
| Kreuzberg, Schöneberg oder Moabit, nicht mehr blicken lassen. Einer der | |
| Kommunarden sagte: Mein Vater war SS-Offizier, und ich habe die politische | |
| Pflicht, seine Schuld wenigstens etwas abzutragen. Und jetzt ein Anschlag | |
| gegen Juden? | |
| Wer hat das gesagt? | |
| Ein Kommunarde. Ich habe den Namen vergessen. | |
| Albert Fichter hat später gesagt, dass er am 9. November 1969 gar nicht | |
| wusste, was dieses Datum historisch bedeutet. | |
| Das nehm ich ihm ab. Der hat das nicht geschnallt. | |
| Linke Aktivisten, die noch nie etwas von der Reichspogromnacht gehört | |
| hatten? | |
| Ja, von damals aus gesehen. Die hatten eineinhalb Kilo Hasch auf dem Tisch | |
| liegen, haben geraucht und geraucht, dann ist Abi los gegangen. Ich habe | |
| damals auch nicht sofort verstanden, was das Besondere am 9. November ist. | |
| Sie wussten, dass Albert Fichter am 9. November 1969 die Bombe gelegt hatte | |
| und Kunzelmann die treibende Kraft war. Warum haben Sie geschwiegen? | |
| Ich verrate niemand. Aber als der [1][Historiker Kraushaar] mich 2002 | |
| gefragt hat, hab ich ihm den Tipp gegeben: Geh zu Tilman Fichter, dem | |
| Bruder von Albert. Insofern hab ich auch mein Scherflein zur Aufklärung | |
| beigetragen. | |
| Die Parole, die Dieter Kunzelmann ausgegeben hatte, hieß: Unser Vietnam | |
| heißt Palästina. | |
| Ja, richtig. | |
| Damit wollte Kunzelmann in der militanten Szene die Meinungsführerschaft an | |
| sich reißen? Hat die Tat jemand mobilisiert? | |
| Nein. Die Reaktionen auf den Brandanschlag waren durch und durch ablehnend. | |
| Daher ist die These, dass alle Militanten damals Antisemiten waren, | |
| vollkommener Schwachsinn. | |
| War [2][Dieter Kunzelmann] ein Antisemit? | |
| Ja. Ich kenne den Mann seit 1967. Im Juni 1967, nachdem die Polizei Benno | |
| Ohnesorg erschossen hatte, standen abends auf dem Ku’damm Leute | |
| unterschiedlichster Couleur zusammen und haben diskutiert. Das war wie in | |
| einer griechischen Polis. Im Juni 1967 war auch der Sechstagekrieg. | |
| Ich bin in das jüdische Gemeindehaus gegangen, das lag um die Ecke des | |
| Ku’damms, und habe mich in ein Buch eingetragen: Ich unterstütze Israel. | |
| Das fand Kunzelmann unmöglich. Er war der einzige, der ständig abfällig | |
| über Juden redete. | |
| Aber damals ist Ihnen das nicht aufgefallen? | |
| Nee, damals nicht. Ich habe gedacht, das ist bizarrer, schwarzer Humor. Bis | |
| wir realisierten, dass Kunzelmann das ernst meinte, brauchte es eine Weile. | |
| Sie waren faktisch in einer Gruppe mit Kunzelmann, Sie hätten ihm die | |
| Gefolgschaft aufkündigen können? | |
| Man darf nicht übersehen, dass die Sache mit jedem Tag schneller und | |
| militanter wurde. Der Brandanschlag auf das Kaufhaus des Westens in Berlin | |
| war der letzte Auslöser für die Gründung der RAF. Danach hat Horst Mahler | |
| gesagt, dass Kunzelmann, mit dem er zuvor immer gekungelt hat, ein Idiot | |
| ist, der mit seinem Irrsinn den militanten Prozess abwürgt. | |
| Mahler hat dann Gudrun Ensslin und Andreas Baader nach Berlin geholt. Dann | |
| kam die Baader-Festnahme, sein Ausbruch, mit dem Ulrike Meinhof in den | |
| Untergrund ging. Dies gilt allgemein als Geburtsstunde der RAF. Tatsächlich | |
| war der Anlass aber Kunzelmanns Bombe im Kaufhaus. Mahler und andere | |
| antworteten auf Kunzelmann damit, dass sie ihren eigenen Verein aufmachten. | |
| Albert Fichter sagt, dass sie 1969 der „Lautsprecher von Kunzelmann“ waren. | |
| Ja klar, am Anfang war das so. Damals war klar, dass wir Aktionen | |
| brauchten. Wir wollten die Militanz steigern – denn sonst wäre alles wieder | |
| zerbröselt. | |
| Mehr Militanz war das Ziel? | |
| Wir wollten den Angriff. Im Nachhinein ist jeder schlauer. Die Eule der | |
| Minerva fliegt immer nur des Abends. | |
| Nach Albert Fichter hat Georg Rauch auch von „Saujuden“ gesprochen. | |
| Wenn, dann höchstens beiläufig. Georg von Rauch ist mehr auf die Guerilla | |
| und ihre Aktionen abgefahren. In seiner Zeit in Jordanien ist er mal mit | |
| auf den Golan gefahren. Er war unbewaffnet bei einem Angriff der | |
| Palästinenser dabei. Die haben ihn mitgenommen, um ihm zu zeigen, wie ein | |
| Angriff in der Realität aussieht. | |
| Warum haben sich prominente Vertreter der Palästinenser mit eher | |
| unbekannten Militanten aus der Bundesrepublik abgegeben? | |
| Weil die die ersten waren, die sich bei ihnen aus der Bundesrepublik | |
| gemeldet haben und sagten: Wir wollen dasselbe machen wie ihr, aber in | |
| Deutschland. Wir wollen, dass ihr uns trainiert. Die Palästinenser | |
| brauchten im Gegenzug für ihre Aktionen Leute in Europa, die ihnen bei der | |
| Logistik halfen. Bei einer Flugzeugentführung musst du wissen, wo sollen | |
| die Leute vorher schlafen, solche Sachen. | |
| Diese logistische Unterstützung gab es? | |
| Soweit ich weiß in Berlin weniger. Aber die Waffen für den Überfall auf die | |
| Olympischen Spiele 1972 in München waren in Schließfächern auf dem | |
| Ostberliner Teil des S-Bahnhofs Berlin-Friedrichstraße zwischengelagert. | |
| Von dort wurden sie von Leuten aus Westberlin abgeholt und gelangten so | |
| nach München. | |
| Sie sagen, Kunzelmann war der einzige Antisemit in der militanten Linken. | |
| Doch Ulrike Meinhof hat die Ermordung israelischer Olympioniken 1972 in | |
| München als „antifaschistische Tat“ gelobt. 1976 waren westdeutsche | |
| RZ-Leute an der Selektion israelische Bürger bei der Flugzeugentführung in | |
| Entebbe beteiligt? | |
| Ja, furchtbar. Dazu kann ich aber nicht viel zu sagen, da war ich nicht | |
| dabei. | |
| Woher kam die Distanz der militanten Linke zu Israel? | |
| Das war eine Gegenreaktion. Die Deutschen fanden Israel gerade nach dem | |
| Sechstagekrieg 1967 gut. Israel kultivierte die Wüste und hatte den Krieg | |
| gegen die Araber gewonnen. Da haben wir gesagt: In den Zug steigen wir | |
| nicht ein. | |
| Weil der Freund meines Feindes auch mein Feind ist? | |
| So ungefähr. Das war falsch. Wir hätten uns mit Israel solidarisieren | |
| müssen. | |
| 1970 gab es noch ein antisemitisches Attentat – den Anschlag auf das | |
| jüdische Altersheim der Israelitische Kultusgemeinde in München. | |
| Das waren keine Linken. | |
| Woher wissen Sie das? | |
| Kunzelmann hat sofort bei den Tupamaros München angerufen, bei Fritz | |
| Teufel, und gefragt: Wart ihr das? Teufel hat gesagt: Nein, waren wir | |
| nicht. | |
| Waren Sie dabei, als Kunzelmann anrief? | |
| Nee, Kunzelmann hat mir das erzählt. | |
| Telefone können abgehört werden. Da sagt man nicht unbedingt die Wahrheit. | |
| Och, ja. Der Fritz Teufel schon. Dem habe ich immer getraut. Fritz war | |
| immer ehrlich. Der hätte wenigstens was angedeutet, wenn die Tupamaros | |
| beteiligt gewesen wären. Und: Mit einem Benzinkanister in ein Haus laufen | |
| und es anstecken, das passte nicht zu den Tupamaros. Die wollten technisch | |
| anspruchsvollere Sachen machen. | |
| Wolfgang Kraushaar glaubt, dass deutsche Militante auch Ideen für Anschläge | |
| lieferten – wie den Olympiaüberfall 1972 in München? | |
| Also da sind die Palästinenser schon ganz von selbst draufgekommen. | |
| Kraushaars Versuch, der Linken Antisemitismus nachzuweisen, hat ja was | |
| Zwanghaftes. | |
| Ihr Freund Georg von Rauch schrieb 1970 zu den Plänen für Olympia 1972: | |
| „Bei der Fahnenhissung fallen die ersten Schüsse. Wenn die Polizei schießt, | |
| schießen wir zurück.“ Außerdem sollten US-Schiffe gesprengt werden. | |
| Das waren wirre Spekulationen. | |
| Hintergrund dieses Gesprächs ist das aktuelle Buch von Wolfgang Kraushaar: | |
| „’Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?‘ | |
| München 1970: über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus“. | |
| Rowohlt, Reinbek 2013, 880 Seiten, 34,95 Euro. Lesung mit Wolfgang | |
| Kraushaar, Dienstag, 14. Mai, Jüdisches Museum Berlin | |
| 12 May 2013 | |
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