| # taz.de -- RAF-Terroristin Inge Viett gestorben: Ein Leben wie im Film | |
| > Zwischen Stasi und RAF: Inge Viett war eine Wortführerin der „Bewegung 2. | |
| > Juni“ und verteidigte ihr „revolutionäres Projekt“ bis zuletzt. Ein | |
| > Nachruf. | |
| Bild: Nach ihrer Festnahme in Magdeburg wird Inge Viett im Juli 1990 nach Karsl… | |
| Ihre Sozialisation steht in einem krassen Widerspruch zu der Radikalität, | |
| mit der sie sich später ein Jahrzehnt lang im Untergrund bewegen wird. Es | |
| macht ganz den Eindruck, als habe die 1944 geborene Inge Viett all das | |
| abschütteln wollen, was ihr in der Kindheit und Schulzeit in | |
| Schleswig-Holstein widerfahren ist. Da man ihrer Mutter das Sorgerecht | |
| entzogen hat, wächst sie zunächst in einem Kinderheim und dann in einer | |
| Pflegefamilie auf. | |
| Sie hätte Kinderpflegerin werden sollen, erlebt schon früh eine | |
| Vergewaltigung und unternimmt einen Selbstmordversuch. Auch dass sie ein | |
| Sportstudium an der Kieler Universität ausprobiert, gibt ihr keine | |
| Stabilität. Mal schlägt sie sich als Reiseleiterin durch, mal als | |
| Hausmädchen und mal als Bardame und Stripteasetänzerin. | |
| Ändern wird sich das erst, als Viett 1968 nach Westberlin geht und sich | |
| dort einer Frauen-WG anschließt. Sie hat zuvor bereits lesbische | |
| Erfahrungen gemacht. Aber nun gibt es [1][ein Milieu, das es ihr erlaubt, | |
| sich in gewisser Weise als Rebellin auszuprobieren]. Zusammen mit der acht | |
| Jahre jüngeren Verena Becker ist sie zu dieser Zeit ein Liebespaar. Sie | |
| wollen gegen die Unterdrückung von Frauen protestieren und insbesondere | |
| solche Einrichtungen angreifen, in denen sich diese Einstellung | |
| manifestiert. | |
| ## Mollis statt Brautkleider | |
| Mit Molotow-Cocktails setzen sie Geschäfte für Brautbekleidung und | |
| Sex-Shops in Brand. „Wir schleichen im Dunkeln durch die Stadt“, wird sie | |
| später in ihren Erinnerungen schreiben, „und bepflastern sie mit | |
| geheimnisvollen Aufklebern: ‚Die schwarze Braut kommt‘. Am Morgen sind die | |
| Schaufenster der Braut- und Pornoläden verwüstet. Die Bürger schütteln die | |
| Köpfe. Solche schöönen Brautkleider! Wir stürmen die ‚Misswahlen‘ in den | |
| Kaufhäusern. […] Wir halten revolutionäre Reden über die sexuelle | |
| Ausbeutung und Entwertung der Frau und sind wieder davon, bevor die Polizei | |
| anrückt.“ | |
| Dann wird sie über „Bommi“ Baumann zusammen mit Becker in die „Bewegung … | |
| Juni“ aufgenommen. Das ist der Auftakt. | |
| Was folgt, sind die Beteiligung an einem dilettantischen Bombenanschlag, | |
| der zum tragischen Tod eines Bootsbauers führt, ein Banküberfall, ein | |
| Überfall auf einen Waffenladen und immer wieder neue Anläufe, | |
| Sprengstoffanschläge zu verüben. Sie wird inhaftiert und beweist großes | |
| Geschick darin, sich ein ums andere Mal zu befreien. Inge Viett entwickelt | |
| sich zu einer der prägenden Figuren der in den 1970er Jahren mit der RAF | |
| konkurrierenden „Bewegung 2. Juni“. | |
| Nach der Beteiligung an der Lorenz-Entführung 1975 pendelt sie [2][zwischen | |
| Westberlin und dem Nahen Osten] hin und her, wo sie bei den Palästinensern | |
| eine militärische Ausbildung erfährt. Mal taucht sie bei der PFLP in Bagdad | |
| auf, mal bei der Palmers-Entführung in Wien, dann in Bulgarien, in Prag und | |
| in Aden im Südjemen. | |
| ## Anarchistin mit Stasi-Kontakten | |
| Doch während sich der „2. Juni“, diese anarchistisch inspirierte und mit | |
| der Subkultur besonders eng verbundene Gruppierung, 1980 auflöst, schließen | |
| sich einige wie Viett der RAF an, um ihren Kampf weiter fortzuführen. | |
| Dieser Schritt wird von anderen Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“, die | |
| zumeist inhaftiert waren, als Aufgabe ihres antiautoritären Ansatzes | |
| verstanden und kritisiert. | |
| In diesem Moment spielt Viett gewissermaßen Schicksal für ihre neue, | |
| mittlerweile in Paris befindliche Truppe. Weil ein Teil aus der RAF | |
| aussteigen will, erinnert sie sich an ihre bereits 1978 eingegangenen | |
| Kontakte zu Stasi-Major Harry Dahl, dem Leiter der Hauptabteilung XXII für | |
| Terrorabwehr. Man kommt überein, dass RAF-Aussteiger ein Leben unter | |
| falscher Identität in der DDR führen können. Acht RAF-Mitglieder reisen | |
| über Prag in die DDR ein, um dort unter dem Schutz der Stasi ein neues, | |
| unpolitisches Dasein fristen zu können. | |
| Doch das, was Viett mit Dahl ausgekungelt hat, gilt zunächst nicht für sie | |
| selbst. Im August 1981 gerät Viett in Paris in eine Polizeikontrolle. Weil | |
| sie auf ihrer Suzuki ohne Helm unterwegs ist. | |
| Sie versucht zu flüchten. Den ahnungslosen Verfolger, einen | |
| Verkehrspolizisten, streckt sie aus kurzer Entfernung nieder. Das Ergebnis | |
| ist eine Querschnittslähmung, die sein Leben zerstört. Er stirbt im Jahr | |
| 2000 mit nur 54 Jahren, ohne irgendein Zeichen des Mitleids oder Bedauerns | |
| von Viett erfahren zu haben. | |
| ## Letzte Ausfahrt DDR | |
| Viett gelang es noch einmal zu entwischen. Doch sie ist so entmutigt, dass | |
| sie ebenfalls nach einem Ausweg aus der desolaten Lage der RAF sucht. Und | |
| so kommt es, dass sie nun selbst aussteigt und in einem „Forsthaus an der | |
| Spree“ landet, bei Briesen gelegen, „fernab der Zivilisation“ firmiert es | |
| heute auf einem Feriencamp. | |
| Hinter dem „Objekt 74“ verbarg sich damals eine Stasi-Dependance, in der | |
| Viett auf die neue Existenz eingestimmt wird. Schließlich sollte verhindert | |
| werden, dass die DDR-Bevölkerung auf die Idee kommt, die SED würde mit der | |
| RAF unter einer Decke stecken. | |
| Doch diese Gefahr kommt nicht von ungefähr. Als Viett unter dem Decknamen | |
| „Eva-Maria Sommer“ in Dresden zur Repro-Fotografin ausgebildet wird, | |
| erkennt eine ihrer Kolleginnen, dass sie in der Bundesrepublik auf einem | |
| Fahndungsplakat abgebildet ist. Jetzt ist Alarm angesagt. | |
| Viett muss erneut ihre Identität wechseln und nun als „Eva Schnell“ in | |
| Magdeburg Kinderferienlager organisieren. Wie es sich für eine Diktatur | |
| gehört, wird sie wie alle anderen RAF-Aussteiger auch vom MfS rund um die | |
| Uhr kontrolliert. Durch Verwanzung ihrer Wohnunterkunft, durch das Abhören | |
| von Telefonaten und anderem mehr. | |
| ## Fall der Mauer und Enttarnung | |
| Erst als die DDR nach dem Mauerfall am 9. November 1989 nicht mehr zu | |
| retten ist, dürfte den im Staatssozialismus untergekommenen Ex-Terroristen | |
| klar geworden sein, dass es unter diesen Rahmenbedingungen keine Zukunft | |
| mehr für sie geben würde. Im Juni 1990 – es sind noch vier Monate bis zur | |
| deutschen Einigung – werden die abgetauchten RAF-Mitglieder einer nach dem | |
| anderen verhaftet, ausgeliefert und vor Gericht gestellt. | |
| Nun wird Viett 1992 wegen der in Paris als versuchten Mordanschlag | |
| bewerteten Schüsse vom Oberlandesgericht Koblenz zu einer dreizehnjährigen | |
| Haftstrafe verurteilt, von denen sie sieben Jahre absitzt. | |
| Das, was ihren Fall von denen vieler anderer unterscheidet, sind zwei | |
| miteinander verbundene Beweggründe. Zum einen verteidigt sie bei den | |
| unterschiedlichsten Gelegenheiten den RAF-Terrorismus unverändert doktrinär | |
| als einen gegen Imperialismus und Kapitalismus gerichteten Guerillakampf. | |
| Und zum anderen stellt sie sich in einer Weise hinter die gerade im | |
| Untergang begriffene DDR, dass weder Honecker noch Mielke irgendein Problem | |
| damit gehabt hätten. | |
| Die in dem Land verbrachten Jahre, das sich hinter die Ziele | |
| „Antifaschismus, Solidarität, Völkerfreundschaft und Solidarität“ gestel… | |
| habe, schreibt sie noch im Juni 1990, seien für sie „die wichtigsten Jahre“ | |
| ihres Lebens gewesen. Es klingt nach purer Projektion. | |
| Offenbar hat sie im bewaffneten Kampf nach einem Ausweg aus ihrer | |
| Sozialisation gesucht und sich immer tiefer in den Terrorismus verstrickt. | |
| Schließlich fand sie sich in einer Diktatur wieder, die keine | |
| Massenloyalität besaß. Ihr Agitprop war damit durch den doppelten Untergang | |
| besiegelt. Am 9.Mai ist sie mit 78 Jahren gestorben. | |
| 20 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Wolfgang Kraushaar | |
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