Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Augenzeugenbericht eines Ex-Guerilleros: Der Terrorist Carlos und d…
> „Carlos – der Schakal“. Thomas Kram, einst Mitglied bei den
> Revolutionären Zellen, spricht mit der taz exklusiv über diesen Thriller.
Bild: Nora von Waldstätten als Magdalena Kopp und Édgar Ramírez als Carlos i…
Anläßlich des monumentalen Filmepos „Carlos – Der Schakal“ von Olivier
Assayas sprach die taz 2010 mit einem früheren Untergrundkämpfer. Der
spektakuläre Actionfilm beleuchtet die Kooperation deutscher und
palästinensischer Untergrundgruppen. Ein bis heute eher gut gehütetes
Geheimnis der militanten Szenen. Thomas Kram, früheres Mitglied der
deutschen Revolutionären Zellen (RZ), berichtete hier erstmals öffentlich
über die Zusammenarbeit mit der Carlos-Gruppe in den 1970er Jahren. Der
Venezolaner Carlos fungierte für die palästinensische Terrorszene als
Mittelsmann nach Westeuropa. Seine Gruppierung verübte im Auftrag der
palästinensischen PFLP sowie später eigenständig zahlreiche
Terroranschläge, vor allen in Frankreich. Das Gespräch mit Kram ist ein
wichtiges Dokument der Zeitgeschichte, weswegen wir es hier zehn Jahre nach
seinem Erscheinen in der Printausgabe der taz auch auf taz.de neu
veröffentlichen.
taz: 1975 wurde Ilich Ramírez Sánchez, genannt „Carlos“, weltberühmt. Ein
Kommando unter seiner Führung stürmte die Opec-Konferenz in Wien. An
vorderster Front dabei auch ein Mitglied der deutschen Revolutionären
Zellen (RZ). Herr Kram, Sie gehörten den RZ an, hatten sie damals
persönlich Kontakt zu Carlos?
Thomas Kram: 1975 war ich bei den RZ gerade frisch eingestiegen und über
die Opec-Aktion vorher nicht informiert.
Wie alt waren Sie damals?
27 Jahre alt. Ich kannte Carlos nur aus den Medien und hatte nichts mit ihm
zu tun. Später habe ich ihn kennengelernt. Bei meinen Besuchen bei Johannes
Weinrich, nachdem der illegal war, das war 1978/79.
Haben Sie Carlos öfter gesehen?
Drei- oder viermal. Er kam manchmal dazu, wenn ich mich mit Weinrich in
Ostberlin oder Budapest traf.
Was war der Anlass der Treffen?
Johannes Weinrich und Magdalena Kopp kamen aus RZ-Zusammenhängen und
verstanden sich Ende der 70er Jahre nach wie vor als Mitglieder der RZ. Da
ich mit ihnen nicht nur politisch, sondern auch freundschaftlich verbunden
war, wollte ich den Kontakt zu ihnen aufrechterhalten, auch wenn es bereits
unterschiedliche politische Prioritäten gab.
Anfang November 2010 startet der Film „Carlos – Der Schakal“ in
Deutschland. Gespielt wird Carlos von dem venezolanischen Schauspieler
Édgar Ramírez. Sie haben den Film bereits gesehen. Als jemand, der Carlos
persönlich traf: Spielt Ramírez seinen Carlos überzeugend?
Das ist schwierig zu beurteilen, wenn man jemand nur sporadisch erlebt hat.
Für mich war er erst mal ein Phantom, das die Medien in die Welt gesetzt
hatten. Trotzdem gibt es natürlich Dinge, die ich wiedererkenne. Carlos
verhielt sich solidarisch und verantwortlich denen gegenüber, die er für
Revolutionäre hielt. Er war politisch gut geschult und sehr eloquent, war
aber auch sehr bestimmend, sehr dominant.
Also so, wie der Film dies darstellt?
Mehr oder weniger.
Im Auftrag der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) führte Carlos in
Westeuropa in den 70er Jahren Terroranschläge durch. Die aus der RZ
stammende Deutsche Magdalena Kopp wurde seine Freundin, Carlos rechte Hand
blieb bis zur Festnahme Mitte der 90er Jahre Johannes Weinrich. Wie konnte
es zu dieser intensiven internationalen terroristischen Zusammenarbeit in
den 70er Jahren kommen?
Könnten Sie den Begriff „terroristisch“ in diesem Zusammenhang streichen?
Wieso, wie würden Sie das sonst bezeichnen?
Es gab in den RZ eine kleine Gruppe, die sich international bewegte. Das
hatte pragmatische Gründe, entsprach aber auch dem Selbstverständnis vieler
Linker Anfang der 70er. Wir bezogen uns auf die antikolonialen
Befreiungsbewegungen, die sich den bewaffneten Kampf auf ihre Fahnen
geschrieben hatten. Den Palästinensern kam dabei eine besondere Rolle zu.
Für die RZ war die Zusammenarbeit mit der PFLP Ausdruck internationaler
Solidarität, die auch die Möglichkeit eröffnete, politische Gefangene aus
den Gefängnissen zu befreien. Dass man dabei die Kampfformen
palästinensischer Organisationen übernahm, war allerdings kaum Thema. Aus
der Sicht der Palästinenser schienen Flugzeugentführungen wie die nach
Entebbe 1976 gerechtfertigt. Als Vertriebene konnten sie nur zu
exterritorialen Kampfformen greifen, um ihren Forderungen Geltung zu
verschaffen.
Assayas’ Film beruht vor allem auf direkten Zeugenaussagen sowie Gerichts-
und Polizeiakten. Er zeigt einige der Deutschen wie Gabriele
Kröcher-Tiedemann bei dem Wiener Opec-Anschlag 1975 als extrem fanatisiert.
Was sagen Sie dazu?
Ich habe Gabriele Kröcher-Tiedemann persönlich nicht gekannt. Sie reagiert
in dem Film erst aggressiv und bricht schließlich in Tränen aus, als klar
wird, dass die Opec-Aktion ihr Ziel verfehlt. Das finde ich kein Zeichen
von Fanatismus. Eher Ausdruck einer enormen Anspannung, die sich plötzlich
entlädt. Sie war selbst erst ein paar Monate vorher aus dem Knast befreit
worden. Dass die Mehrzahl der Zuschauer dies vermutlich anders wahrnehmen
wird, hängt doch auch damit zusammen, dass der Film nicht versucht,
begreiflich zu machen, was in den 70er Jahren los war.
Teilweise wohl schon:Die Waffen für den Opec-Überfall werden laut Assayas’
Filmproduktion von irakischen Diplomaten beschafft. Der Venezolaner Carlos
und die deutschen RZ gemeinsam auf dem Ticket von arabischen Despoten wie
Saddam Hussein und der palästinensischen PFLP: Was sagen sie von heute aus
dazu?
Von den konkreten Hintergründen weiß ich nichts.
Aber halten Sie es für plausibel, dass die Waffen für den Opec-Überfall
über die Iraker kamen?
Ziel der Opec-Aktion war, das kann man dem Film entnehmen, die reaktionären
arabischen Staaten unter Druck zu setzen. Sie sollten sich wieder stärker
der palästinensischen Sache annehmen, nachdem sie erst aus Jordanien
vertrieben und dann von den Falangisten im Libanon bekämpft wurden.
Deswegen kann ich mir vorstellen, dass es von Seiten der arabischen
Staaten, die man damals für progressiv hielt, ein Interesse an der
Geiselnahme der Ölminister in Wien gab. Aber darüber haben wir nicht
gesprochen.
Da wurden Aktionen im Weltmaßstab durchgeführt, die auch noch schiefgingen,
und Sie haben intern darüber nicht diskutiert?
1975 gehörte ich einer regionalen Gruppe der RZ an, die sich auf einem
völlig anderen Terrain bewegte. Deshalb wurde, zumindest in meiner
Gegenwart, nicht über Opec diskutiert. Ist das so verwunderlich?
Heißt das, solche Aktionen wurden für gut befunden?
Nein, das heißt es nicht. Für Außenstehende war schwer nachvollziehbar, was
das Ganze sollte. Die Geiselnahme in Wien war spektakulär, aber was sollte
damit erreicht werden? Später hieß es, dass die Opec-Aktion nach der
Landung des Kommandos mit den Geiseln in Algier abgebrochen werden musste
und deshalb ihr Ziel verfehlt hatte. Das legt ja auch der Film nahe.
Bedeutet dies, man fand sie nicht gut, weil sie nicht erfolgreich war?
Wurde die Opec-Aktion als solche damals noch nicht infrage gestellt?
Ich kann nur für mich sprechen: Der Überfall auf die Opec bewegte sich
jenseits meines Horizonts. Zwar war Hans-Joachim Klein in Wien dabei, ich
wusste aber noch nicht, dass er Mitglied der RZ war. Diese Zusammenhänge
waren mir im Dezember 1975 nicht bewusst. Erst hinterher habe ich gemerkt,
wie nah ich da dran war. Die Mehrheit der RZ begriff sich als
sozialrevolutionäre Organisation und agierte nicht in der Logik des
Befreiungsnationalismus. Die Unterscheidung zwischen guten und schlechten
Staaten war nicht unser Ding. Das hat in letzter Konsequenz ja auch zum
Bruch mit der Gruppe um Carlos geführt.
Von welcher Zeit sprechen Sie?
Von der Zeit nach der gescheiterten Flugzeugentführung nach Entebbe 1976.
Diese gemeinsame Aktion von PFLP und RZ hatte zum Ziel, Gefangene aus
israelischen und deutschen Knästen zu befreien. Das wurde nicht erreicht
und das Kommando mit den RZ-Mitgliedern Brigitte Kuhlmann und Wilfried Böse
wurde getötet. Die RZ hinterfragten in der Folge die praktische
Zusammenarbeit mit palästinensischen Organisationen sowie Aktionsformen wie
Flugzeugentführungen.
Sie haben zu Beginn der 1970er Jahre in Bochum im Politischen Buchladen
gearbeitet, wie zuvor auch Johannes Weinrich. Eine Filmszene zeigt, wie
Weinrich ein palästinensisches Kommando unterstützen soll. Das
PFLP-Kommando versuchte auf dem Flughafen Orly eine israelische
Passagiermaschine mit einer Rakete zu treffen. Wie gut kannten sie
Weinrich?
Als Weinrich Anfang 1975 das erste Mal ins Gefängnis kam, hielt ich das für
einen Justizirrtum. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er etwas mit dem
Anschlag zu tun hatte. Ich kannte die Texte der RZ und die Aktionen, zu
denen sie sich erklärt hatten. Die Palette reichte von gefälschten
Fahrkarten über Brandanschläge auf Autos von Miethaien bis hin zu Bomben
vor Konzernen wie ITT. Dass es auch noch eine andere Seite gab, konnte man
zwar zwischen den Zeilen lesen, aber ohne zu wissen, was sie praktisch
beinhaltete. Diese Seite der RZ war abgeschottet. Darüber wurde nicht mit
allen diskutiert. Das habe ich auch akzeptiert.
Warum das?
In klandestin operierenden Organisationen gibt es einen Widerspruch
zwischen notwendiger Abschottung und dem Bedarf an Transparenz. Der lässt
sich letztendlich nur lösen durch das Vertrauen, das man Leuten
entgegenbringt, die schon länger dabei sind oder politisch erfahrener sind
als man selbst. Ich hatte damals keinen Anlass, Weinrich zu misstrauen,
auch wenn ich sicherlich nur Bruchteile von dem wusste, was ihn
beschäftigte.
Es gibt viele Filmszenen mit Deutschen in palästinensischen
Ausbildungslagern. Haben Sie selber auch eine militärische Ausbildung in
den Camps der PFLP durchlaufen?
Es hat Anfang 1976 ein Camp gegeben, in dem auch RZ-Leute waren. Darüber
berichtet Magdalena Kopp in ihrem Buch, und Hans-Joachim Klein erwähnt es
ebenfalls. Das war nur wenige Wochen nach Opec. Über die Zeit in dem Camp
wurde von den Einzelnen sehr unterschiedlich berichtet. Einige fühlten sich
ausgesprochen wohl. In der BRD stand man permanent unter Verfolgungsdruck.
Außerdem relativierten sich dort viele Probleme, mit denen sich die
bewaffneten Gruppen in der westlichen Welt herumschlugen. Vor dem
Hintergrund der Erzählungen der palästinensischen Kämpfer, die auf der
Flucht waren oder in Lagern lebten, schienen die eigenen Zweifel banal. Das
hat sich bestimmt auch politisch in den Köpfen niedergeschlagen und erklärt
nicht zuletzt, warum sich einzelne für Aktionen wie Opec oder Entebbe
entschieden haben. Es gab aber auch andere, die mit der militärischen
Ausbildung nichts anzufangen wussten, denen nicht einleuchtete, warum sie
auf dem Bauch durch den Sand robben mussten. Da prallten also auch
unterschiedliche Welten aufeinander.
Weinrich blieb bis zu seiner Festnahme Mitte der 1990er Jahre Carlos’
treuester Begleiter. Haben Sie ihn nach der Spaltung der RZ in eine mit
Carlos weiterhin agierende Minderheit und dem Hauptstrom der Gruppierung,
der sie angehörten und die dies ablehnte, noch einmal gesehen?
Eine solche Spaltung der RZ hat es in meinen Augen nicht gegeben. Das wurde
zwar oft behauptet, ist aber trotzdem falsch. Ich würde eher sagen, dass in
der Auseinandersetzung um die gescheiterte Gefangenenbefreiung, die
Flugzeugentführung nach Entebbe 1976 ein Streit um mögliche Konsequenzen
entbrannte, der zu einem vorläufigen Bruch führte. Es gab vorübergehend
zwei RZ-Gruppierungen, die sich in der praktischen Reaktion auf das, was
nach Entebbe passieren sollte, unterschieden. Das blieb allerdings ein
theoretischer Streit, weil die wüsten Vergeltungspläne der einen Fraktion
durch die andere zum Glück verhindert wurden. Dass sich zunächst Johannes
Weinrich und später auch Magdalena Kopp der Gruppe um Carlos angeschlossen
haben, hat mit dieser Auseinandersetzung innerhalb der RZ allerdings nichts
zu tun. Ausschlaggebend dafür waren eher die Entwicklungen nach dem
Deutschen Herbst 1977 in der BRD nach der Offensive der RAF und den Toten
im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim. Und der Tod von PFLP-Chef Wadi Haddad
im April 1978 hat sicherlich auch eine Rolle gespielt.
Carlos gründete Ende der 70er Jahre seine eigene Gruppe. Wann haben Sie ihn
das letzte Mal getroffen?
Getroffen habe ich mich mit Weinrich und Kopp. Anfang der 1980er war Carlos
ein letztes Mal kurz dabei.
Um was ging es dabei?
Zwischen 1976 und 1978 ist Carlos raus aus der PFLP und hat eine Gruppe
aufgebaut, die sich Gruppe Internationaler Revolutionäre nannte. Dieser
Gruppe hatten sich Weinrich und Kopp angeschlossen. Ihr Ziel war der Aufbau
eines globalen Netzwerks der unterschiedlichsten bewaffneten
Organisationen. Vor allem sollte es um gegenseitige logistische
Unterstützung gehen. Die Gruppe hatte Stützpunkte in verschiedenen
Ostblockländern und arabischen Staaten.
Wussten Sie, dass die Carlos-Gruppe so eng mit solchen staatlichen Stellen
dort verknüpft war?
Ich wusste es nicht, konnte mir aber auch nicht vorstellen, dass die Gruppe
ohne staatliche Rückendeckung so viel Bewegungsfreiheit haben würde. Zu der
Frage hatten Weinrich und ich sehr unterschiedliche Einschätzungen.
Johannes Weinrich formulierte nach wie vor den Anspruch, RZ-Mitglied zu
sein, und verstand sich als Vertreter der RZ in der Carlos-Gruppe. Das
stand im ziemlichen Gegensatz zu den Diskussionen, die damals innerhalb der
RZ geführt wurden.
Die RZ standen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre vor einem Neuanfang,
einer Neuformulierung ihrer Politik. Dazu gehörte auch der Rückzug aus den
internationalen Verbindungen. Sie wollten sich wieder stärker auf die
sozialen Kämpfe in der BRD beziehen, auf die Anti-AKW-Bewegung, den
Häuserkampf, die Frauenbewegung. Eine Reihe von Leuten waren in der Folge
der Entwicklungen zwischen 1976 und 1978 ausgestiegen. Andere waren im
Knast, „verbrannt“, illegal oder tot. Die alten Kontakte hatten nur noch
Einzelne. Insofern ist es reines Wunschdenken, wenn der Darsteller von
Weinrich im Film sagt, hinter ihm stünden an die 40 RZ-Mitglieder. Das
Gegenteil war der Fall: Die neu gegründete RZ hatte diese Kontakte für sich
abgebrochen.
Die Revolutionären Zellen verwarfen also das Konzept des internationalen,
antiimperialistischen Kampfs. Sie begingen fortan weniger spektakuläre
Anschläge im Inland. Gab es nach dem Desaster der Frühphase, Anschlägen mit
antisemitischer Tönung, nicht Leute, die forderten, sich Ende der 70er
Jahre einfach aufzulösen?
Solche Stimmen gab es auch. Mir ging es aber um eine Kontinuität
bewaffneter Gruppen. Um die Behauptung, dass diese in der Lage sind, sich
selbst zu korrigieren und nicht zwangsläufig, wie gerne unterstellt, in die
militärische Eskalation abdriften. Aus persönlichen Gründen habe ich den
Kontakt zu Johannes Weinrich und Magdalena Kopp nicht völlig eingestellt.
Aber der Konflikt mit ihnen spitzte sich zu. Ihr Konzept einer Gruppe, die
im luftleeren Raum agiert und zumindest auf staatliche Duldung angewiesen
ist, stand im krassen Gegensatz zu dem sozialrevolutionären Anspruch der
RZ. Die Carlos-Gruppe versuchte zwar anfangs, die verschiedenen Staaten
gegeneinander auszuspielen und so die eigene Selbständigkeit zu wahren.
Aber das überzeugte mich nicht und hat ja auch nicht funktioniert.
Kopp und Weinrich agierten im arabischen Kontext, haben Sie über Israel
gesprochen?
Nein, das war zwischen uns kaum Thema. Mir blieb die politische
Stoßrichtung der Carlos-Gruppe unklar. Die neue RZ hatte sich vom platten
Antizionismus der 70er Jahre verabschiedet.
Der am Wiener Opec-Anschlag beteiligte Hans-Joachim Klein spielt in
Assayas’ Film eine sehr selbstkritische Rolle. Er hatte die RZ in den 70er
Jahren verlassen und wurde erst 1998 in Frankreich aufgespürt und
verhaftet. Wie finden Sie ihn dargestellt?
Klein hat nach seiner Verhaftung 1998 entgegen allem, was er zuvor beteuert
hat, nicht lange gezögert, einen früheren Mitstreiter schwer zu belasten,
um seine eigene Situation zu verbessern. Assayas’ Film zeigt eine
idealisierte Figur von Klein. Von allen RZlern, die im Film dargestellt
werden, ist Klein der Einzige, der weder Verstand noch Moral verloren hat.
Nur er meldet frühzeitig Bedenken gegen Opec und Entebbe an. Leider hat er
dies innerhalb der RZ aber nicht getan. Er behauptet, dass er das nicht
gekonnt hätte, weil es ihn den Kopf gekostet hätte. Eine Szene des Films im
Aostatal suggeriert, es wäre geplant gewesen, ihn umzubringen. Zu diesem
Zeitpunkt hatte er noch die volle Unterstützung der RZ. Die Pistole, die er
im April 1977 dem Spiegel geschickt hat, hatte er sich kurz davor von
Leuten der RZ bringen lassen. Gibt man jemandem eine Waffe, den man
umbringen will?
Bekanntlich hat die Carlos-Gruppe auch andere, die sie für Verräter hielt,
hingerichtet.
Er wollte aber nicht die Carlos-Gruppe verlassen, die gab’s ja 1977 noch
gar nicht, sondern die PFLP von Wadi Haddad.
Und die hat so etwas nicht praktiziert?
Zumindest konnte auch Carlos die PFLP/Outside-Operation verlassen, ohne
umgebracht zu werden.
Also, Sie halten das wirklich alles für eine paranoide Projektion von
Klein?
Ich glaube, Klein hätte in Absprache mit der PFLP und den RZ einen anderen
Weg wählen können. Stattdessen hat er seinen Ausstieg mit Hilfe der
Frankfurter Spontiszene und des „Spiegels“ inszeniert. In Frankfurt gab es
zu der Zeit eine Spontiszene, die den RZ ursprünglich nahestand. Diese
Leute hatten 1976 selber schlechte Erfahrungen mit ihrer Militanz gemacht
und appellierten deshalb auch an die RZ, „die Waffen niederzulegen“. Sie
benutzten Klein für ihre Kritik an den bewaffneten Gruppen.
Die RZ wendeten sich in den 1980er Jahren ausdrücklich gegen
Antiamerikanismus und einen simplen linken Antiimperialismus. Gleichzeitig
deckten sie aber ihre (früheren) Kampfgefährten, die für palästinensische
Terrorgruppen arbeiteten. Wie geht das zusammen?
Hätten wir uns öffentlich von den Leuten distanzieren sollen? Und wie hätte
eine solche Distanzierung aussehen sollen, ohne die falsche Seite zu
bedienen? Die RZ haben sich anders entschieden: Sie haben die Kontakte
abgebrochen und zugleich versucht, sich inhaltlich deutlich zu
positionieren. Es gibt eine Reihe von Texten der RZ, aus denen dies
deutlich hervorgeht, der Revolutionäre Zorn 6, das Papier zur
Friedensbewegung et cetera.
1991 veröffentlichte eine RZ-Gruppe das Papier „Gerd Albartus ist tot“. Sie
machte damit öffentlich, dass Gerd Albartus, einer ihrer früheren
Mitstreiter, 1987 durch Palästinenser beziehungsweise die Carlos-Gruppe
ermordet wurde. Herr Kram, Sie sollen das Papier verfasst haben. Warum
dauerte es nach dem Mord bis zu einer Reaktion ihrer Gruppe weitere vier
Jahre?
Weil wir davon selber erst Jahre später erfahren hatten. Gerd Albartus war
nach Damaskus gefahren, um die Carlos-Gruppe zu treffen. Als er von der
Reise nicht mehr zurückkam, gingen wir davon aus, dass er sich abgesetzt
hatte. Zum selben Zeitpunkt wurde verstärkt nach RZ-Mitgliedern in der BRD
gefahndet.
Gibt es Hinweise, warum er umgebracht wurde?
Ein Grund war – und das bestätigt Kopp in unterschiedlichen Varianten –
dass er sich noch Stasi-Kontakte zunutze gemacht hat, nachdem die
Carlos-Gruppe in den Ostblockstaaten schon längst nicht mehr erwünscht war.
Deswegen galt er als Verräter. Bizarrerweise hat Gerd 1985 Magdalena die
Ausreise aus Deutschland über den Ostblock organisiert. Außerdem soll er
unsorgfältig recherchiert und Geld unterschlagen haben. Und dann noch seine
Homosexualität! Man kann wohl unterstellen, dass in Gruppen, die den Bezug
zur sozialen Realität verloren haben, nonkonformes Verhalten ohnehin
verdächtig ist und im schlimmsten Fall bestraft wird. Durch seinen Tod kam
bei uns die alte Auseinandersetzung um Entebbe und Opec 1990 wieder hoch.
Dies führte zu einer kritischen Bestandsaufnahme der gesamten RZ-Politik.
Die RZ lösten sich in der Folge Anfang der 1990er auf. Die Carlos-Gruppe
hätte ohne Logistik aus den Ostblockstaaten und die Unterstützung
arabischer Diktaturen nicht existieren können. Gilt das auch für Sie, die
sogenannte Feierabendguerilla, die den Mehrheitsflügel dieser bewaffneten
Formation in der alten BRD ausmachte?
Die Diskussion Anfang der 80er Jahre beinhaltete auch, dass die RZ sich
logistisch vollständig auf eigene Beine stellte. Wir wollten uns unabhängig
machen von allen Kontakten, die wir nicht einschätzen konnten. Das war Teil
des Bruchs.
Also hatten Sie auch keine weiteren Kontakte zur DDR oder zu anderen
Ostblockstaaten?
Nein, zum Glück, deswegen bin ich nach 1989/90 auch nicht aufgeflogen und
festgenommen worden. Ich war längere Zeit von der Bildfläche verschwunden.
2006 habe ich mich selbst gestellt, nachdem die Urteile im Berliner
RZ-Prozess rechtskräftig waren. Ich fühlte mich als Fossil einer
Geschichte, die in dieser Form an ihr Ende gelangt war.
Am 4.November (2010) startet der Carlos-Film. Was halten Sie von ihm?
Der Film ist auf den ersten Blick schwer angreifbar. Er ist spannend
gemacht und suggeriert, dass er sich an die Fakten hält. Doch vieles stimmt
nicht: Klein war nicht der einzige aufrechte, kritische Denker der RZ. Und
die Frauen verfügten über ganz andere Möglichkeiten als Fanatismus,
Rücksichtslosigkeit oder Verführungskünste. Leider beurteilt Assayas die
70er Jahre nach heutigen Maßstäben, er macht wenig Anstalten, die Stimmung
dieser Zeit einzufangen. Vor allem aber signalisiert er, dass alles, was
einmal als Utopie begann, irgendwann im Schrecken endet. Wer vom Film
ausgeht, wird die RZ-Geschichte für reinsten Horror halten. Aber das ist
sie nicht. Deshalb würde ich mir wünschen, dass die Leute den Film als
Anregung sehen, sich auch mit den Dingen dahinter zu beschäftigen. Der
wesentliche Teil der RZ-Geschichte kommt überhaupt nicht zur Sprache und
ist über Carlos auch nicht zu thematisieren.
6 Nov 2020
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
Christoph Villinger
## TAGS
Revolutionäre Zellen
Carlos
Geschichte
Antisemitismus
PLO
Bundesrepublik Deutschland
Israel
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
Schwerpunkt Berlinale
Revolutionäre Zellen
Schwerpunkt Rassismus
Rote Armee Fraktion / RAF
Kommune 1
68er
## ARTIKEL ZUM THEMA
RAF-Erinnerungen von Silke Maier-Witt: Radikalisierung – aus zeitlicher Dista…
Vom Antifaschismus zum Antiimperialismus: eine Nachkriegsjugend in
Westdeutschland. Silke Maier-Witt schreibt über ihren Weg in den linken
Terrorismus.
Berlinale Spielfilm „Hors du temps“: Aus der Zeit gefallen
In Olivier Assayas’ neuem Film fliehen zwei Brüder mit ihren Partnerinnen
aufs Land. Eine Hommage an den Corona-Lockdown.
Vergrabenes Fass nahe Seevetal: Doch kein RAF-Depot
Anfang des Jahres wurden in Niedersachsen versteckte Chemikalien und Texte
gefunden. Anders als vermutet stecken wohl die Revolutionären Zellen (RZ)
dahinter.
Film über die Antifa: Wann, wenn nicht jetzt?
Liebe, Action, Antifa. Julia von Heinz’ Spielfilm „Und morgen die ganze
Welt“ ist frisch, temporeich und sehr gegenwärtig inszeniert.
Vergrabene RAF-Schriftstücke im Wald: Mögliches RAF-Depot entdeckt
In Niedersachsen haben Waldarbeiter wohl ein Depot der Roten Armee Fraktion
entdeckt. Neben Schriftstücken seien auch verschiedene Flüssigkeiten
gefunden worden.
Kraushaar über linken Antizionismus: „Eine geheime Entlastungsstrategie“
Haben Linksradikale den tödlichen Brandanschlag auf die Israelitische
Kultusgemeinde 1970 in München verübt? Der Historiker Wolfgang Kraushaar
rollt den Fall neu auf.
Prozess gegen „Revolutionäre Zellen“: „Es waren harte Zeiten“
Sie versteckten sich 24 Jahre, jetzt stehen sie vor Gericht. 2010 traf die
taz die ehemaligen Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ Sonja Suder und
Christian Gauger. Eine Dokumentation.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.