# taz.de -- Israel feiert 70 Jahre Unabhängigkeit: Gretels Jahrhundert | |
> Den 1. Weltkrieg, Weimar, die Nazizeit – das alles hat Gretel Merom | |
> erlebt. Sie ist 105 Jahre alt. 1934 ging sie als überzeugte Zionistin | |
> nach Palästina. | |
Bild: Gretel Merom im April 2018, aufgenommen in ihrem Altersheim im israelisch… | |
HAIFA taz | Vom Bahnhof am Strand aus führt die Straße in großen | |
Serpentinen hinauf in die Karmel-Berge. Es geht steil aufwärts in Haifa, | |
der Hafenstadt im Norden Israels. In einer Seitenstraße liegt das | |
Elternheim Rischonei Hacarmel. Elternheime werden in Israel die Altenheime | |
genannt, und dieses hier, betrieben vom Verein der mitteleuropäischen | |
Einwanderer, ist ein besonders schöner Platz, mit einer großen | |
Eingangshalle und von Gärten unterbrochenen Nebengebäuden. | |
Gretel Merom sitzt in ihrem kleinen Apartment an einem Tisch und wartet | |
schon auf die Besucher. Sie ist sehr klein und wirkt zerbrechlich, sie hat | |
unendlich viele kleine Fältchen im Gesicht und strahlend blaue Augen. | |
Gretel Merom, die unter dem Namen Gretel Baum in Frankfurt am Main | |
aufgewachsen ist, steht in ihrem 106. Lebensjahr. Und sie ist wach, | |
unglaublich wach. | |
„Ich bin 1913 geboren worden. Ich erinnere mich dunkel an den Ersten | |
Weltkrieg. Es gab keinen Kaffee und keine Butter. Viele Leute hatten nichts | |
zu essen. Aber wir haben nicht hungern müssen. Mein Vater ist als | |
Freiwilliger in den Krieg gezogen. Er war schon Jahre 50 alt und hätte | |
nicht mehr gehen müssen. Wir hatten selbst in den Kriegsjahren immer eine | |
Weihnachtsgans. Ein Kriegskamerad meines Vaters brachte sie zu uns.“ | |
Zwei Jahre nach der Geburt Gretels bekommt sie einen Bruder. Er erhält den | |
Namen Rudolf. Viele deutsche Juden lassen sich wie Gretels Vater in ihrem | |
Patriotismus nicht überbieten und ziehen für Kaiser und Vaterland in den | |
Krieg. Norbert Baum kommt aus kleinen Verhältnissen aus Hasselbach im | |
Taunus. Die Mutter Julie Baum entstammt der angesehenen Familie Geiger, die | |
schon seit dem 17. Jahrhundert in Frankfurt ansässig ist. Das berühmteste | |
Familienmitglied ist zweifellos Dr. Abraham Geiger (1810–1874), ein | |
liberaler Rabbiner, der zu den Mitbegründern der Hochschule für die | |
Wissenschaft des Judentums in Berlin zählt. Das Abraham Geiger Kolleg in | |
Potsdam, an dem Rabbiner ausgebildet werden, erinnert mit seinem Namen | |
heute an ihn. | |
## Keine fromme Familie, dafür sehr deutsch | |
„Unsere Famile war nicht sehr fromm. Wir haben auch keinen koscheren | |
Haushalt geführt. Aber wir haben alle jüdischen Feiertage begangen. Mein | |
Vater besaß ein Geschäft für Seide, feines Gewebe und Futterstoffe, | |
Schneiderartikel en gros. Es ging uns recht gut. Wir hatten auch ein | |
Kindermädchen. Wir wohnten im Reuterweg 73 im dritten Stock, ganz in der | |
Nähe vom Opernplatz. Eigentlich war die Wohnung viel zu klein. Aber es war | |
nicht genug Geld da. Wir hatten ein Wohnzimmer, ein Herrenzimmer, ein | |
Esszimmer und ein Badezimmer und Küche und Vorratskammer natürlich. Aber es | |
gab kein Kinderzimmer. Das Badezimmer war sehr groß, da haben wir Kinder | |
geschlafen. Später habe in an der Wand im Esszimmer geschlafen. Es war sehr | |
beengt.“ | |
Weihnachten wird auch für das christliche Kindermädchen gefeiert, das unter | |
dem Dach wohnt. Die Baums zählen zu den etwa 30.000 jüdischen Frankfurtern. | |
Allerdings bestehen in der Stadt zwei jüdische Gemeinden: die liberale | |
Hauptgemeinde und die orthodoxe Austrittsgemeinde. In Letzterer sind eher | |
jüdische Einwanderer aus Osteuropa organisiert, die vor allem in der | |
Altstadt und im Osten leben, während das Gros der angestammten Frankfurter | |
der Hauptgemeinde angehört – so wie die Baums. Viel von ihnen leben im | |
wohlhabenderen Westend. | |
Gretel Merom kann sich noch an die Revolution von 1918 erinnern, als sie | |
auf dem Schulweg einer großen Menschenmenge begegnet, die für und gegen die | |
neue Republik demonstriert. Auch die Inflation von 1923 ist ihr im | |
Gedächtnis geblieben, als der Vater beinahe sein Geschäft verloren hätte. | |
„Bei uns zu Hause ging es bürgerlich zu. Es gab einen großen Bücherschrank. | |
Sobald ich die Buchstaben unterscheiden konnte, habe ich zu lesen begonnen, | |
vor allem die Bücher, die meine Mutter weggeschlossen hatte. Meine Eltern | |
verstanden sich als Deutsche. Sie waren im Centralverein der deutschen | |
Juden organisiert. Vom Zionismus hielten sie überhaupt nichts. ‚Der ist für | |
die armen polnischen Juden‘, hat meine Mutter immer gesagt. | |
Jeden Morgen bin ich mit meinen Freundinnen zur Schule gegangen. Es spielte | |
überhaupt keine Rolle, ob jemand jüdisch oder christlich war.“ | |
Gretel Baum besucht ab der Quarta die liberale Viktoria-Schule, die heutige | |
Bettina-Schule. Weil sie so klein ist, wird sie „das Bäumche'“ genannt. | |
## Wie Gretel Baum zur Zionistin wird | |
„Deutsche Aufsätze habe ich sehr gern geschrieben. In Mathematik war ich | |
dagegen eher schlecht. Und im Turnen war ich sehr gut. Ich wollte damals | |
Tänzerin werden. Beinahe jeden Tag war ich im Palmengarten, denn dort wurde | |
Musik gespielt. Ich bin dort auf die Bühne gegangen und habe getanzt. | |
Häufig war ich in der Oper zu Gast. Die russische Meistertänzerin Anna | |
Pawlowa als sterbenden Schwan habe ich niemals verpasst. Ich bin in die | |
Tanzschule gegangen. Aber all das hat zu nichts geführt.“ | |
Im Gegensatz zu ihrem Bruder macht Gretel Baum in ihrem Elternhaus auf | |
Opposition. Sie möchte koscher essen und setzt bei ihrer Mutter durch, dass | |
sie keinen Schinken mehr vorgesetzt bekommt. Die Eltern reagieren mit | |
Unverständnis. Nach der Inflation und dem fehlgeschlagenen Hitler-Putsch | |
stabilisiert sich die Weimarer Republik, die Nazis gelten als | |
Randerscheinung. Die Juden sind in Deutschland gleichberechtigte Bürger. | |
Kaum einer von ihnen kann mit der Vorstellung einer Auswanderung nach | |
Palästina etwas anfangen. | |
„Ich habe in den Sommerferien in der Schweiz einen jungen Mann | |
kennengelernt. Ich fand ihn sehr nett und interessant. Wir sind zusammen | |
spazieren gegangen, und er hat versucht, mich für den Zionismus zu | |
indoktrinieren. Aber ich habe mir die Sache erst zu Hause gründlich | |
überlegt. Dann bin ich Zionistin geworden. Ich ging unter dem Protest | |
meiner Eltern zu den Heimabenden der zionistischen Jugendbewegung Kadimah. | |
Einmal in der Woche haben wir einen Bundesabend abgehalten. Wir wollten ein | |
sozialistisches Land in Palästina aufbauen. Zur Vorbereitung besuchte ich | |
drei Monate lang die jüdische Haushaltsschule in Frankfurt und lernte | |
kochen. Bei den Fahrten des Ju-gendbunds war ich nicht so oft dabei, ich | |
war zu faul mitzugehen.“ | |
Gretel Baum liest die Schriften von Theodor Herzl, Simon Dubnow und Martin | |
Buber. Bald leitet sie die Kadimah-Jugendgruppe. Die Eltern sind bestürzt. | |
Der Vater ist so sehr gegen den Zionismus eingenommen, dass er am | |
Sederabend den traditionellen Spruch „Nächstes Jahr in Jerusalem“ | |
verweigert. Ende der 1920er Jahre stürzt die Wirtschaft ab und die Nazis | |
gewinnen in Deutschland mehr und mehr an Bedeutung – für Gretel Baum ein | |
weiterer Grund, ihrer Heimat den Rücken kehren zu wollen. Im Jahr 1932 | |
macht sie ihr Abitur und beginnt auf Wunsch der Eltern eine Lehre in einer | |
Bank. Doch in Gedanken ist sie längst in Erez Israel. | |
„Nach der Machtübernahme der Nazis hat man erst bemerkt, wie viele Leute | |
der NSDAP angehörten. Unser Deutschlehrer war plötzlich ein ganz großer | |
Mann in der Partei. Ich hatte die Schule ja glücklicherweise schon | |
abgeschlossen. Am 1. April 1933, dem Tag des Boykotts gegen jüdische | |
Geschäfte, war ich in Frankfurt, aber ich weiß nicht mehr, wo. Ich weiß | |
nur, dass ich froh war, dass ich bald wegkonnte. Mein Vater ist an diesem | |
Tag ins Geschäft gegangen. ‚Ich habe keine Angst‘, hat er gesagt. Er ist | |
verprügelt worden, und die Nazis haben das Geschäft beschmiert. Aber meine | |
Eltern haben geglaubt, dass es nicht so schlimm werden würde. Sie dachten, | |
das würde wieder vorübergehen. ‚Ich liebe Deutschland‘, hat mein Vater | |
immer gesagt. | |
Ich weiß noch, wie die Nazis die Friedrichstraße entlangmarschiert sind. | |
Und ich kann dieses Lied immer noch auswendig: ‚Die Fahne hoch, die Reihen | |
dicht geschlossen, SA marschiert im gleichen Schritt und Tritt, den Bruder | |
Erhard haben sie erschossen, er schreitet in unseren Reihen mit.‘ Stellen | |
Sie sich vor, das habe ich bis heute behalten. Ich kann es nicht vergessen. | |
Schrecklich.“ | |
Gretel Baum kündigt ihre Stelle bei der Bank. 1934 wandert sie ins | |
britische Mandatsgebiet Palästina aus. Sie reist über Triest nach Jaffa. | |
Der Dampfer heißt „Jerusalem“. Die allermeisten deutschen Juden bleiben zu | |
diesem Zeitpunkt in Deutschland und hoffen, dass das Regime sich mäßigt. | |
## Nazis an der Macht, Gretel erreicht Palästina | |
„Eines Tages traf ich in Frankfurt zufällig eine ehemalige Mitschülerin. | |
Sie fragte nach meinen Plänen. Ich antwortete: ‚Ich wandere aus.‘ Da hat | |
sie gesagt: ‚Du bist verrückt!‘ Ja, ich wurde für verrückt erklärt. Aber | |
ich war Zionistin, und es war meine Verrücktheit, aber ich hatte recht. Ich | |
war so überzeugt, ich habe meine Eltern nicht verstanden. Meine Mutter war | |
todunglücklich, als ich gefahren bin. Sie hat geweint. Ich mache mir heute | |
Vorwürfe. Das hat mich damals überhaupt nicht berührt. Ich habe nur daran | |
gedacht, dass ich jetzt weggehe.“ | |
Am 30. April 1934 landet die 21-Jährige Gretel Baum zusammen mit ihren | |
Kameradinnen von der zionistischen Jugendgruppe in Palästina. Sie kommt | |
zusammen mit zwei Freundinnen in ein Meshek Poalot, eine Farm für die | |
landwirtschaftlichen Ausbildung junger Frauen. Gretel arbeitet in einer | |
Orangenplantage und zieht von morgens früh bis abends spät mit einer Harke | |
Gräben, die das Wasser halten sollen. Später wechselt sie in einen neu | |
gegründeten Kibbuz. Es gibt kein persönliches Eigentum, selbst die | |
Unterwäsche wird zur allgemeinen Nutzung ausgegeben, die Wäsche kollektiv | |
einmal in der Woche ausgeteilt. Man schläft in Zelten oder Baracken. Es | |
gibt einen Speisesaal für alle und Duschen für beide Geschlechter | |
gemeinsam. | |
„Da habe ich in der Küche gearbeitet. Die wollten mich keine | |
landwirtschaftliche Arbeit machen lassen. Ich habe zu gut gekocht. Ich | |
lernte meinen ersten Mann kennen. Ich war verliebt, aber es war ein großer | |
Fehler. Das Geld rann ihm durch die Finger.“ | |
1935 bekommen sie ein Baby, das sie Micha nennen. Auf Wunsch ihres Manns | |
verlässt die Familie den Kibbuz und lebt in sehr einfachen Verhältnissen in | |
der Nähe von Rischon LeZion. | |
„Ich hatte brieflichen Kontakt mit meinen Eltern in Frankfurt. Im Jahr 1936 | |
kam meine Mutter sogar nach Palästina zu Besuch. Aber es hat ihr nicht | |
gefallen. Es war ihr alles zu anstrengend. Sie blieb ein paar Wochen, | |
teilweise ist sie durchs Land gefahren. Aber die meiste Zeit waren wir | |
zusammen. Und unsere Differenzen blieben.“ | |
Solche „Probereisen“ nach Palästina sind Mitte der 1930er Jahre nicht | |
ungewöhnlich. Wohlhabendere deutsche Juden kommen ins Land, um zu schauen, | |
ob ihnen Erez Israel als Emigrationsziel zusagt. Viele reisen angesichts | |
der primitiven Verhältnisse enttäuscht wieder nach Deutschland zurück. Sie | |
können nicht wissen, dass die Nazis schon wenige Jahre später den | |
Massenmord beschließen. | |
## Der letzte Brief der Eltern | |
Mit Datum vom 15. Oktober 1941 richtet die Mutter ihren letzten Brief an | |
Gretels Bruder Rudolf in den USA: | |
„Mein lieber Rudolf, | |
wir erhalten erst heute Deinen Brief No. 8 vom 18. 9., und hat dieses Mal | |
die Post wieder etwas länger gedauert. Wir erwarten nun weiter Deine | |
Nachricht betr. Cuba, da die Sache sehr dringend ist und jeden Tag | |
dringlicher wird. Du kannst Dir denken, dass wir in solcher Zeit sehnlichst | |
auf Antwort warten, immer noch in der Hoffnung, dass es Dir gelingt, etwas | |
für uns zu erreichen, denn das ist die einzige Hoffnung, die wir haben. Wir | |
hören inzwischen, dass durch Washington die Anweisung gegeben wurde, in | |
Berlin resp. Lissabon Visa für die U.S.A. zu erstellen. Es scheint in | |
dieser Beziehung eine Möglichkeit zu geben. […] Hoffentlich hast Du | |
angenehme Feiertage gehabt, und es geht Dir gut. Bleibe gesund und lasse | |
baldigst von Dir hören, hoffentlich nur gutes. Mit innigen Grüßen und | |
Küssen, | |
Mutti“ | |
„Dieser letzte Brief verfolgt mich bis heute. Mein Bruder war in die USA | |
ausgewandert. Ich konnte für meine Eltern kein Zertifikat für Palästina | |
bekommen. Aber warum hat mein Bruder sie nicht rechtzeitig herausgebracht? | |
Ich kann ihn leider nicht mehr fragen, denn er ist verstorben.“ | |
Julie und Norbert Baum werden mit dem ersten Deportationszug aus | |
Frankfurt am Main am 19. Oktober 1941 zusammen mit mehr als 1.100 Menschen | |
in das jüdische Getto Lodz im deutsch besetzten Polen verschleppt. Am 4. | |
Mai 1942 wählt die Mutter aus Furcht vor einer weiteren Deportation den | |
Freitod. Der Vater soll am 22. Februar 1942 verstorben sein. Aber das | |
erfährt Gretel Merom erst viele Jahre nach dem Krieg. | |
Mit Kriegsbeginn geht Gretel Meroms Mann zur britischen Royal Air Force, | |
und auch sie arbeitet bald für das britische Militär. Die Juden in | |
Palästina haben beschlossen, die Alliierten im Kampf gegen Nazi-Deutschland | |
vorbehaltlos zu unterstützen. Als Rommels Afrikakorps 1942 tief in Ägypten | |
steht, befürchten zionistische Politiker, die Nazis könnten schon bald | |
Palästina erobern. Doch die Wehrmacht wird im Herbst 1942 in Afrika | |
geschlagen. | |
Nach Kriegsende trennt sich Gretel Merom von ihrem Mann. Die Juden in | |
Palästina unterstützen den Teilungsplan der Vereinten Nationen und | |
verlangen die eigene Unabhängigkeit, die Araber lehnen beides ab, und die | |
Briten lavieren zwischen beiden. Die Spannungen wachsen. Gretel wird | |
Mitglied der paramilitärischen Truppe Haganah. Am 14. Mai 1948, nach dem | |
Abzug der letzten britischen Soldaten, erklärt David Ben Gurion die | |
Unabhängigkeit des Staats Israel. Er spricht: „Der furchtbare Massenmord, | |
der in unseren Tagen zur Vernichtung von Millionen von europäischen Juden | |
geführt hat, hat wiederum in einer unwiderleglichen Weise den zwingenden | |
Beweis dafür erbracht, dass das Problem der jüdischen Heimatlosigkeit in | |
der Erneuerung des jüdischen Staatswesens im Land Israel sein Lösung | |
finden müsse, in der Gründung eines Staates, dessen Tore jedem Juden offen | |
stehen.“ Am selben Tag beginnt der Krieg der arabischen Nachbarländer gegen | |
Israel. | |
## Erinnerung an Israels Unabhängigkeitserklärung | |
„Ja, die Unabhängigkeit! Jetzt feiert man schon den 70. Jahrestag! Das | |
haben wir geschafft. Damals sind wir auf die Straße gelaufen und haben die | |
ganze Nacht getanzt und gefeiert. Dann kam der Krieg. Alle Männer und viele | |
Frauen mussten zum Militär. Ich musste nicht, weil ich einen Sohn hatte. | |
Wir hatten alle nichts zu essen. Aber irgendwie ging es schon. Ich erinnere | |
mich, dass ich gekocht habe, die Suppe habe ich mit meinem Sohn gegessen, | |
und der Sohn hat am nächsten Tag das Fleisch bekommen. Es gab diesen | |
schrecklichen Primus-Kocher. Der hat immer furchtbar gestunken. Ich | |
arbeitete als Dienstmädchen. Ich musste die Wohnung sauber machen und Staub | |
wischen. Aber ich habe diese Arbeit gehasst wie die Pest.Ich wohnte in | |
Petah Tikva in einer kleinen Wohnung, aber ich konnte sie nicht bezahlen. | |
Mit dem Geld gab es immer Zores. Erst als die Wiedergutmachung kam, habe | |
ich zum ersten Mal wirklich Geld bekommen.“ | |
Israel ist in den 1950er Jahren ein armes Entwicklungsland. Viele | |
Einwanderer aus dem Nahen Osten müssen in Zelten wohnen. Lebensmittel und | |
andere Dinge sind rationiert, es gibt immer denselben Konservenfisch und | |
denselben Käse zu essen. | |
„Ich habe diese Armut nicht so empfunden. Es war schwer, aber wir haben es | |
überstanden. Ja, ich war stolz, dass Israel es geschafft hatte. Aber heute | |
bin ich eigentlich viel stolzer als damals. Damals musste man sich viel zu | |
sehr um das eigene Leben kümmern, als stolz zu sein. Heute bin ich sehr | |
zufrieden. Ich bin zwar schon alt, und ich habe dauernd vor Augen, dass es | |
mir schwer ist, zu leben, und schwer ist, zu sterben. Wenn mir jemand sagen | |
würde, was nach dem Tod kommt, wäre ich damit sehr zufrieden. Aber keiner | |
ist zurückgekommen.“ | |
1961 beginnt der Prozess gegen den Organisator des Holocaust, Adolf | |
Eichmann, in Jerusalem. Die in Israel verdrängte Geschichte kommt wieder | |
hoch. Eichmann wird zum Tode verurteilt und hingerichtet. | |
„Ich fand es furchtbar, dass er hingerichtet worden ist, aber es war | |
irgendwie auch richtig. Es war ein schrecklicher Mensch. Ich weiß nicht, ob | |
ich für die Todesstrafe gestimmt hätte. Aber er hat es wahrscheinlich | |
verdient. Ich hatte mir geschworen, nie mehr mit einem Deutschen zu reden | |
oder ihm die Hand zu geben. Aber dann habe ich einen jungen Mann | |
kennengelernt, einen Deutschen, der mit einer Gruppe nach Israel kommen | |
wollte, aber nicht einreisen durfte, weil der Eichmann-Prozess gerade | |
stattfand. Roy Wiehn ist heute einer meiner besten Freunde.“ | |
Gretel Merom erinnert sich an den Sechstagekrieg im Jahr 1967. Doch sie | |
glaubt, dass es besser gewesen wäre, Israel hätte die besetzten Gebiete | |
gegen einen Frieden eingetauscht. Seit Jahrzehnten ist sie Mitglied der | |
sozialdemokratischen Arbeitspartei. „Wir müssen Frieden machen. Vielleicht | |
können wir die Araber überzeugen“, sagt sie. | |
Zuletzt arbeitet Gretel Meróm als Frendsprachensekretärin in einem | |
Krankenhaus in Haifa. Sie heiratet erneut. 1988, da ist Gretel Merom 75 | |
Jahre alt, zieht das Ehepaar gemeinsam in das Elternheim Rischonei | |
Hacarmel. Ihr Mann stirbt nur wenige Jahre darauf. Noch mit 95 Jahren | |
schreibt sie ihre Lebenserinnerungen auf. Mehrfach ist Gretel Merom in | |
ihrer alten Heimat Frankfurt zu Besuch gewesen. Die Aufnahme dort sei sehr | |
freundlich gewesen. | |
„Aber es war schmerzhaft für mich, zum Haus meiner Eltern zurückzukehren. | |
Das war schlimm. Weil sie meine Eltern umgebracht haben. Das kann ich ihnen | |
nicht vergessen.“ | |
Frau Merom, ich habe noch ein letzte Frage. Wie schafft man es, so alt zu | |
werden? | |
Das weiß ich nicht. | |
Hatten Sie bestimmte Gewohnheiten? Etwa, kein Fleisch zu essen? | |
Nein. | |
Keinen Alkohol zu trinken? | |
Ich habe gerne getrunken. | |
Nicht zu rauchen? | |
Ich habe geraucht, bis ich 50 war, 30 Zigaretten am Tag. Ich weiß wirklich | |
nicht, was mich so alt werden lässt. | |
Und dann bittet Gretel Merom den Besucher, doch im nächsten Jahr wieder | |
vorbeizuschauen. | |
19 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
## TAGS | |
Israel | |
Frankfurt am Main | |
zionismus | |
Politisches Buch | |
Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
Holocaust | |
Novemberrevolution 1918 | |
Jerusalem | |
Israel | |
Muslime in Deutschland | |
Antisemitismus | |
Shoah | |
Journalist | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neues Buch „Israel – eine Utopie“: Traum von der „Republik Haifa“ | |
Der Philosoph Omri Boehm schlägt in seinem Buch „Israel – eine Utopie“ e… | |
binationale Lösung für den Nahostkonflikt vor. Wie realistisch ist sie? | |
Boykott-Aufruf zum ESC in Israel: Übliche Verdächtige | |
Viel antiisraelische Prominenz fordert den ESC 2019 in ein anderes Land zu | |
verlegen. Leider auch bisher verehrte Künstler*innen. | |
Flucht vor der Nazi-Judenverfolgung: Der Vormieter | |
Ludwig Katzenellenbogen musste vor 79 Jahren seine Wohnung in Berlin | |
verlassen. Im Mai ist er zurückgekehrt – in meine Wohnung. | |
Ausstellung zu 1918 in Berlin: Frauenwahlrecht und Spitzen-Stores | |
100 Jahre Novemberrevolution: Das Schöneberg Museum erzählt sehr | |
anschaulich von deren Bedeutung für Bezirk und Bewohner. | |
Deutsch-jüdisches Viertel in Jerusalem: Wo Scholem und Buber stritten | |
Mit seinem Buch „Grunewald im Orient“ erinnert Thomas Sparr an Rechavia, | |
ein deutsch-jüdisches Stadtviertel im Westen Jerusalems. | |
70 Jahre Israel: Der Sehnsuchtsstaat | |
Heute vor siebzig Jahren rief Ben-Gurion den Staat Israel aus. Das Land ist | |
eine Erfolgsstory – vor allem wegen seiner Einwanderer. Fünf Geschichten. | |
Widerstand gegen Nationalsozialismus: Held von Berlins Juden und Muslimen | |
Ein ägyptischer Arzt rettete in der Nazi-Zeit Juden vor dem Holocaust. In | |
der Wilmersdorfer Moschee stellt der Israeli Igal Avidan seine Geschichte | |
vor. | |
Antisemitismus aus Kindersicht: „Ich weigere mich zu hassen“ | |
Fred Heyman überlebte als Teenager in Berlin die Judenverfolgung der Nazis. | |
Ein Bericht über ein Leben als gebrandmarkter Außenseiter. | |
Essay zum Yom Ha-Shoah: Heißes Gedenken, kaltes Gedenken | |
Dreimal jährlich wird in Israel und Deutschland an die Schoah erinnert. Auf | |
je ganz unterschiedliche Weise. Einfach ist es nie. | |
Porträt Ari Rath: Ari, das Kind | |
Er war 13, als er 1938 Wien verließ, und Israel mitaufbaute. Vor vier | |
Jahren spazierten wir mit ihm durch die Stadt seiner Kindheit. |