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# taz.de -- Flucht vor der Nazi-Judenverfolgung: Der Vormieter
> Ludwig Katzenellenbogen musste vor 79 Jahren seine Wohnung in Berlin
> verlassen. Im Mai ist er zurückgekehrt – in meine Wohnung.
Bild: Zurück in Berlin: Ludwig Katzenellenbogen in den Räumen von Vaters alte…
Berlin taz | Ludwigs Bett stand da, wo heute das Bett meines Sohnes steht;
seine Eltern schliefen, wo nun meine Tochter schläft. Ludwig ist 92 Jahre
alt und war seit 79 Jahren nicht mehr in seiner – heute meiner – Wohnung in
Berlin. Damals, im April 1939, gaben er und seine Familie sie auf, weil sie
vor den Nazis fliehen mussten.
Vor einigen Wochen ist er zurückgekommen. Er schien erleichtert, dass er
sich noch daran erinnern konnte, wie die Wohnung früher ausgesehen hatte.
Auch für mich war es eine Erleichterung.
Ludwig Katzenellenbogen ist ein kräftiger Mann mit schwindendem Haar und
einem entschlossenen Händedruck, der zum Gehen einen Stock braucht. Seinen
Gesprächspartnern schaut er gern in die Augen. Er ist noch fit, aber die
Reise bis zu unserer Wohnung war anstrengend, wegen der Flughäfen, Taxis
und vielen Stufen zwischen seinem Seniorenheim im israelischen Netanja und
dem Haus in Berlin-Schöneberg.
Seine Eltern, die einmal Mieter dieser Wohnung waren, sind in Israel
gestorben. Zuvor hatten sie mit Ludwig auf drei Kontinenten gelebt. Wer mit
der jüdischen Geschichte vertraut ist, weiß, dass solche Biografien typisch
für deutsche Juden sind, die vor den Konzentrationslagern zu fliehen
vermochten. Aber mir erscheinen solche Lebensläufe bemerkenswert.
Bemerkenswert ist auch, auf welche Weise Ludwig den Weg zurück zu seiner
früheren Wohnung fand – wie aus jemandem, der für mich jahrelang nur als
Name auf ausgeblichenen deutschen Dokumenten existierte, plötzlich ein
lebendiger Mensch wurde. (Dafür waren mehrere gescheiterte Anläufe und die
Beihilfe des – mal gehassten, mal geschätzten – Mark Zuckerberg nötig).
Hans Katzenellenbogen, Ludwigs Vater, stammte aus Krotoschin (Krotoszyn) im
heutigen Polen. Sein Großvater und sein Vater hatten dort ein Geschäft, wie
auch Ludwig Generationen später in Israel. Die Eltern von Hans, Hans selbst
und seine Schwester Else zogen 1922, nach dem Ersten Weltkrieg, nach
Berlin.
Dort heiratete Hans seine Frieda, und 1926 brachte sie Ludwig zur Welt.
Eine seiner frühesten Erinnerungen ist der Umzug im Jahr 1933 von einer
nicht weit entfernten Straße in seine-meine Wohnung in der Rosenheimer
Straße 40. „Ich verstand nicht, warum wir denn ausgerechnet an meinem
Geburtstag umziehen mussten“, erinnert er sich. „Als Trost hob mich der
Mann, der uns mit seinem Fuhrwerk beim Transport der Möbel half, auf sein
Pferd und ritt mit mir durch die Straße unseres Viertels. Was für ein Tag!“
Seit 2011 lebe ich mit meiner Familie in seiner-meiner Wohnung im 2. Stock.
Ein Altbau mit hohen Decken, Stuck. Zwei große repräsentative Räume zur
Straße und die Dienstbotentreppe am Hinterausgang belegen, dass das Haus
für bessergestellte Leute gebaut worden war.
Wir wollten mehr über die Geschichte des Hauses erfahren. In der
Dauerausstellung im Rathaus Schöneberg über die jüdische
Vorkriegsbevölkerung suchten wir nach Informationen. 2016 dann erzählten
uns einige Hausnachbarn, was sie über die früheren jüdischen Bewohner
unserer heutigen Wohnungen wussten.
Seitdem zeigen meine Frau Anke Hassel und ich jedes Jahr Anfang Mai auf
unserem Wohnzimmertisch ausgebreitet die Dokumente, die unsere Nachbarn und
wir über die Katzenellenbogens gefunden haben. In den Berliner Archiven gab
es noch die Entschädigungsanträge an die deutschen Behörden, die der Vater
Hans, die Mutter Frieda und Hans’ Schwester Else in den fünfziger Jahren
gestellt haben, weil sie bei der Flucht aus Deutschland ihr Hab und Gut
zurücklassen mussten.
Wir beteiligen uns damit am Projekt Denk mal am Ort. Wir haben dort Freunde
gefunden, die wie wir ihre Wohnungen für Dutzende Besucher öffnen, die mehr
über frühere, von den Nazis verfolgte Nachbarn erfahren wollen.
## Vergilbte Papiere und eine überstürzte Flucht
Die vergilbten Papiere in altertümlichem Deutsch drehen sich um
Entschädigung, aber eigentlich erzählen sie die Geschichte – einen Teil der
Geschichte – der Familie Katzenellenbogen. Es ging ihnen gut, sie führten
drei Geschäfte „für Porzellan, Haushaltswaren und Kristall“ in Berlin. Ha…
war Vorsitzender der Ortsgruppe Berlin im Reichsverband Deutscher
Spezialgeschäfte. In seiner Umgebung genoss er Respekt.
Sie hatten eine Wirtschafterin und ein Kinderfräulein und lebten mit vielen
Annehmlichkeiten. In einem Dokument beschreibt Hans dies: „Wir lebten in
einer komfortablen Privatwohnung (in der Rosenheimer Straße) bestehend aus
fünf Zimmern mit viel Nebengelass. Meine Wohnungseinrichtung war luxuriös
mit modernen Möbeln, Perserteppichen, feinen Porzellanen, Kristall etc.“
Die Katzenellenbogens waren sich bewusst, dass ihnen durch Hitler Gefahr
drohte. Im Herbst 1938 wurde es ernst. Die Deutsche Arbeitsfront zwang
Hans, eines seiner Geschäfte zu schließen. „Hans Katzenellenbogen konnte
sich einer sofortigen Festnahme nur dadurch entziehen, dass er mit der
Kasse durch die Hintertür flüchtete“, notierte einer seiner Angestellten in
einem anderen Dokument.
Danach ging es nur noch darum, wie sie Deutschland möglichst schnell
verlassen konnten – und wohin. Sie entschieden sich für Argentinien,
kauften für 1.850 Reichsmark Fahrkarten für die „Cap Norte“, die am 28.
April 1939 von Hamburg aus in See stach.
In Argentinien versuchten sie sich als Hühnerzüchter, doch das war ein
hartes Leben. 1954 bestätigte die deutsche Botschaft in Buenos Aires, dass
Hans und seine Angehörigen „arm und bedürftig“ seien. Mitte der sechziger
Jahre übersiedelte die Familie dann nach Israel.
Das war alles, was wir von den Katzenellenbogens wussten. Wir hatten
versucht sie zu finden. Ich fragte Holocaustforscher, die ich kannte, und
wir suchten im israelischen Telefonbuch nach ihnen, aber ohne Erfolg.
Schließlich hatten wir selbst auch jede Menge zu tun, und wir hatten genug
herausgefunden, um uns und unsere alljährlichen Besucher
zufriedenzustellen.
## Suchende, die sich nicht finden
Was wir nicht wussten, war, dass die Katzenellenbogens, während wir unsere
Wohnung im Gedenken an die Familie öffneten, sich selbst aktiv darum
bemühten, ihre eigene Geschichte in der Rosenheimer Straße nachzuzeichnen.
Vor zwei Jahren kam Dan, ein Enkel Ludwigs, aus Israel nach Berlin, stand
vor unserem Haus und rätselte, in welcher Wohnung sein Großvater gelebt
hatte. Vor einem Jahr folgte ihm Ludwigs Tochter Elsa. Sie fragte bei
Nachbarn und stieg das Treppenhaus hoch, doch es kam kein Kontakt mit uns
zustande. Dan sprach sogar mit einer Nachbarin, die die jüdische Geschichte
des Hauses kannte. Doch auch dies blieb eine Sackgasse.
Sollte niemand diese kleine Brücke, die viele Jahre und mehrere Kontinente
überspannt, bauen können?
Ludwig machte in den Jahren vor ihrer hastigen Flucht nach Argentinien ganz
ähnliche Erfahrungen wie seine Eltern. Er war glücklich in seiner privaten
jüdischen Schule in Dahlem und erinnert sich, mit dem Fahrrad oder auf
Schlittschuhen Berlin erkundet zu haben. Dann begann das Unheil, besonders
seit der Pogromnacht vom 9. November 1938. Er erinnert sich, dass ihm sein
älterer Bruder erzählte, mit eigenen Augen die eingeworfenen
Schaufensterscheiben des väterlichen Geschäfts in der Schöneberger
Goltzstraße gesehen zu haben. Ludwig selbst lebte damals nicht in Berlin,
sondern bei Bochum, wo er mit einem jüdischen Cousin die Schule besuchte.
„Das Haus, in dem wir wohnten, wurde in jener Nacht in Brand gesetzt. Sie
wollten, dass wir in den Flammen sterben, und schlugen die Haustür mit
einer Axt ein. Mein Onkel sagte, wir sollten laut schreien. Wir schrien und
schrien und sprangen am Ende in unseren Schlafanzügen aus dem Fenster.“ Er
erinnert sich, dass er barfuß über die Glasscherben laufen musste.
Die Polizei interessierte sich nicht für die Angriffe auf Juden wie Ludwig.
Zurück in Berlin, stand für ihn fest, dass die Zeit für die Abreise aus
Deutschland gekommen war. Die Leute „beschimpften uns als Juden. Mir machte
das Angst, es war wirklich schrecklich.“
## „Wir haben die Katzenellenbogens gefunden!“
An einem Sonntag im März dieses Jahres summte frühmorgens mein Telefon.
Eine Nachricht von einer wunderbaren Freundin, Jani Pietsch, eine der
Initiatorinnen von Denk mal am Ort. Sie schrieb: „Wir haben die
Katzenellenbogens gefunden!“ Sie hatte eine Facebook-Gruppe von Leuten mit
dem Namen Katzenellenbogen entdeckt und sie um Hilfe gebeten. Ein Mitglied
auf den Philippinen hatte ein anderes in Israel kontaktiert, das die
Anfrage abermals weiterleitete … bis sie Elsa erreichte, Ludwigs jüngere
Tochter.
„Ich glaube, mir kommen die Tränen“, sagt Elsa, als ich sie am Abend
anrufe. Wir können es beide nicht glauben. Namen auf einem Stück Papier
werden plötzlich zu echten Menschen. Wir wissen nicht, was wir sagen
sollen, aber wollen nicht aufhören zu erzählen. Wir sind uns einig, dass
sie mit ihrem Vater zum nächsten Denk-mal-am-Ort-Termin im Mai kommen
müssen. Aber was wird da geschehen? Wie wird Ludwig reagieren, falls alte
Traumata wieder hochkommen? Was werden sie davon halten, dass wir sehr
persönliche Familiendetails öffentlich ausstellen? Meine Frau und ich
wollen sie gern als Gäste aufnehmen, aber wir waren auch gespannt und ein
wenig besorgt.
Elsa und Ludwig kommen mit einem Koffer bei uns an, der sich als
Schatztruhe deutscher und jüdischer Geschichte erweist. Ludwigs Vater Hans
musste zwar den größten Teil ihres Hab und Guts zurücklassen, bevor sie
sich nach Argentinien einschifften, aber sie konnten viele Dokumente und
Fotoalben mitnehmen – wertvolle Erinnerungen, die nun dorthin zurückkehren,
wo sie vor 80 Jahren entstanden waren.
Sie erzählen die typische und dennoch bemerkenswerte Geschichte der
Familie. Hier ein Bild von Ludwig mit Schultüte bei der Einschulung Anfang
der dreißiger Jahre. Da ein Zertifikat aus dem Jahr 1935 anlässlich der
Verleihung des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer durch Adolf Hitler an Hans
dafür, dass er, wie 100.000 andere Juden, im Ersten Weltkrieg auf der Seite
Deutschlands gekämpft hatte. Diese Medaille erhielt nur, wer dafür einen
Antrag stellte – hatte Hans geglaubt, die Auszeichnung würde ihn vor
Verfolgung schützen?
Und ein Brief, den Ludwig 1965 aus Neapel an seine Eltern schrieb, als er
per Schiff nach Israel emigrierte. „Morgen mittag werden wir in Israel
sein. Wir beginnen unser neues Leben“. Später eröffnete er dort einen
Kolonialwarenladen und verkaufte importierte Lebensmittel und andere Waren.
Er wurde dort heimisch und Oberhaupt einer großen israelischen Familie.
Seine beiden Töchter haben sieben Kinder; Elsa lebt mit ihrem Mann Shlomi
auf einer Kollektivfarm im Süden Israels. „Du musst uns besuchen“,
insistiert sie gegenüber meiner Frau und mir.
Eine Geschichte aus der Familie stammt von Ludwigs Vater Hans und wird uns
von Elsa erzählt. Hans und seine Frau Frieda reisten 1936 nach Palästina,
um einen Verwandten zu besuchen. Dies war nicht geplant, sie entschieden
sich während eines Urlaubs in Italien, mit dem Schiff dorthin zu reisen.
Frieda musste ihren Schmuck verkaufen, um die Passage zu bezahlen. Ihr
Verwandter drängte sie, dort zu bleiben, denn er machte sich Sorgen, wie es
in Deutschland weitergehen würde. Doch Hans lehnte ab – die Söhne waren
noch in Deutschland und ihr Leben dort war angenehm, besser jedenfalls als
unter den dürftigen Bedingungen im Palästina jener Tage.
Elsa fügt hinzu, dass dies eine ungewöhnliche Geschichte sei. „Hans sprach
nicht gern darüber, dass er überlebt hat“, sagt sie. „Er wollte uns nicht
damit belasten.“
## Ludwig erkennt seine alte Wohnung wieder
Ludwig betritt die Wohnung und scheint sich zu Hause zu fühlen. „Da stand
der Schreibtisch meines Vaters“, sagt er. „Im Herrenzimmer.“ Er wandert
durch die Wohnung, und er ist froh, hier zu sein. Er und seine Angehörigen
finden unsere Ausstellung lobenswert. Später wird er von Besuchern umringt,
die ihm aufmerksam und mit großem Respekt zuhören. Seine Stimme zittert
etwas, als er von der Pogromnacht erzählt, aber er kann seine Emotionen
recht gut zurückhalten. „Es macht mich nicht traurig, hierher
zurückzukommen.“ Er hatte ein langes Leben, und die Verfolgung, die seine
Familie erleiden musste, scheint ihn nicht zu sehr zu belasten.
Aber der Kern seiner Identität bleibt wichtig. Er erinnert sich an seinen
einzigen früheren Besuch in Berlin, irgendwann Ende der sechziger Jahre,
vielleicht auch schon in den siebziger Jahren, mit seiner Spanisch
sprechenden Frau. Auf dem Wochenmarkt am Winterfeldplatz in Schöneberg
fragte ihn eine Frau, wie es komme, dass er Spanisch spreche. Er erzählt
ihr, dass er in den Dreißigerjahren nach Argentinien auswandern musste.
„Sie haben das Land verlassen, weil Sie fliehen mussten?“, fragte die Frau.
„Nein. Ich verließ es, weil ich Jude bin“, antwortete er.
Aus dem Englischen von Stefan Schaaf.
10 Jun 2018
## AUTOREN
Hugh Williamson
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