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# taz.de -- Willy Brandts Kniefall vor 50 Jahren: „Volksverräter“ und Idol
> Vom „Ausverkauf“ sprachen Rechte angesichts der neuen Ostpolitik. Brandts
> Geste in Warschau polarisierte die Bundesrepublik wie nie zuvor.
Bild: Marsch auf Bonn von Rechtsradikalen 1972 gegen die Ratifizierung der Ostv…
Berlin taz | Der kniende [1][Willy Brandt vor dem
Warschauer-Ghetto-Mahnmal] – das war für die Bundesrepublik vor genau 50
Jahren am 7. Dezember 1970 mehr als nur eine politische Geste. Es war eine
Demonstration. „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle, die es
nötig haben, aber nicht knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können
oder nicht wagen können“, so Hermann Schreiber damals im [2][Spiegel]. Ja,
Brandt zählte nicht zu den Schuldigen der Menschheitskatastrophe, er war
1933 nach Norwegen ins Exil geflüchtet. Aber gerade er verstand es, mehr
für die Verständigung zwischen Tätern und Opfern zu bewegen als eine ganze
Generation bundesdeutscher Außenpolitiker zuvor.
Was in der Bundesrepublik auf den Kniefall folgte, war einerseits ein
Proteststurm. Brandt habe „die Rechte der Ostdeutschen auf Heimat und
Selbstbestimmung auf den Müllhaufen der Geschichte“ befördert, schrieb
Springers Berliner Morgenpost. 48 Prozent von 500 Befragten nannte seine
Geste in Warschau in einer Umfrage „unangemessen“. Es hagelte
Morddrohungen.
Die politische Atmosphäre im Jahr 1970 in der Bundesrepublik als
spannungsgeladen zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Sie war vergiftet.
CDU/CSU, Vertriebenenverbände und revanchistische Gruppen bis hin zur NPD
trommelten gegen den „Verräter“ Brandt. An Mauern erschienen Aufschriften:
„Brandt an die Wand“.
Andererseits löste der Kniefall unter Intellektuellen und der jüngeren
Generation einen Stoßseufzer der Erleichterung aus. Endlich bekannte sich
einer, noch dazu der Kanzler, zur deutschen Verantwortung für die
Naziverbrechen. Willy Brandt entwickelte sich für viele von ihnen zu ihrem
Idol. Auch für mich, der im Folgejahr mit dem knallorangefarbenen Anstecker
„Willy wählen“ herumlief. Ich war 13 Jahre alt. Willy war mein Vorbild.
Brandt hatte 1969 mit einer SPD/FDP-Koalition die 20-jährige
Dauerherrschaft der Union im Land beendet und sich angeschickt, die
Beziehungen zu den osteuropäischen Nachbarn neu zu ordnen. Das hieß eben
auch: die Lebenslüge von der Rückkehr der Vertrieben in ihre alte Heimat in
Schlesien, Ostpreußen oder Pommern zu korrigieren.
## Ein Kontinent, von Stacheldraht geteilt
Europa vor 50 Jahren war vom Kalten Krieg beherrscht. Die Nachkriegsgrenzen
zwischen den hochgerüsteten Machtblöcken aus Nato und Warschauer Pakt waren
zwar durch Stacheldraht nahezu unpassierbar geworden. Niemand wäre auf den
absurden Gedanken verfallen, spontan ein Wochenende in Krakau oder Prag
verbringen zu wollen. Doch zugleich waren diese Grenzen höchst fragil, denn
sie waren nicht anerkannt. Westdeutschland beharrte nicht nur auf der
Wiedervereinigung samt Nichtexistenz der DDR, die in den 1960er Jahren nur
in Anführungsstrichen geschrieben wurde. Der Staat verlangte auch eine
Rückkehr der „verlorenen Ostgebiete“, die längst zu Polen und zur
Sowjetunion gehörten. „Dreigeteilt niemals!“ lautete die Parole, und sie
betraf im besonderen Maße die Oder-Neiße-Grenze zwischen der „DDR“ (mit
Anführungsstrichen) und Polen.
Brandt hatte seine neue Ostpolitik auf dem [3][SPD-Parteitag 1968]
skizziert. Es gehe um eine „Anerkennung beziehungsweise Respektierung der
Oder-Neiße-Linie bis zur friedensvertraglichen Regelung“. Als er ab 1969
daranging, diese außenpolitische Neuordnung durch Gespräche mit Vertretern
der Sowjetunion, Polen, der Tschechoslowakei und der DDR (ohne
Anführungsstriche) in die Tat umzusetzen, erhob sich bei Konservativen und
Rechtsradikalen ein Geschrei bisher unbekanntem Ausmaßes, angefacht noch
dadurch, dass die Union bis dato geglaubt hatte, sie habe ein natürliches
Recht auf die Regierungsmacht in Bonn.
## Die Kampagne der Rechten
Also sprach Franz Josef Strauß (CSU) im Februar 1970: „Ich weigere mich,
den Untergang des Deutschen Reiches durch eine Politik des Ausverkaufs ohne
Gegenleistungen zu besiegeln.“ Im August schrieb der Bayernkurier: „Mit
Eifer verfolgt die Regierung Brandt ihre Politik, Deutschland – bewusst
oder unbewusst – zu verkleinern und in möglichst viele Staaten
aufzuteilen.“ Auf Demonstrationen erschienen Transparente mit Aufschriften
wie „[4][Volksverräter Willy Brandt heraus aus unserem Vaterland]“, auch
erinnernd an Brandts Exilzeit, die ihm die Rechten nicht verziehen.
Betrachtet man Brandts Warschaureise vom Dezember 1970 unter
völkerrechtlichen Gesichtspunkten, so besaß sie keine sehr große Bedeutung.
Dem Besuch in Polen war die Unterzeichnung des [5][Moskauer Vertrag]s im
August vorausgegangen, in dem die Bundesrepublik die Grenzen zwischen BRD
und DDR, aber auch mit Polen als „unverletzlich“ bezeichnete.
So gesehen bestätigte der [6][Warschauer Vertrag] die vorherige Regelung
noch einmal: Die Bundesrepublik stellte darin fest, dass die bestehende
Grenzlinie – die sogenannte Oder-Neiße-Grenze – „die westliche Staatsgre…
der Volksrepublik Polen bildet“. Darüber hinaus versicherte die deutsche
Seite, keinerlei Gebietsansprüche zu hegen. Man versprach, die
gegenseitigen Beziehungen zu normalisieren, und Polen gestand den Deutschen
zu, die vermehrte Ausreise Deutschstämmiger aus Polen zu ermöglichen.
## Vom Kniefall in Warschau zum Friedensnobelpreis
Brandts Kniefall aber machte aus der Unterzeichnung eines Vertrags eine
symbolische Handlung, die weit über die Grenzen der Bundesrepublik für
Aufmerksamkeit sorgte. Der Zweite Weltkrieg war erst 25 Jahre zuvor beendet
worden. Die alliierten Soldaten waren 1970 noch am Leben, ebenso wie die
davongekommenen Widerstandskämpfer. Das US-Magazin [7][Time] kürte Brandt
zum Mann des Jahres. In den Niederlanden, Frankreich oder Großbritannien
wurde seine Geste überschwänglich begrüßt, sie stand fortan für ein
„anderes Deutschland“, mit dem man nicht nur aus pragmatischen Gründen
verbündet war, sondern das ein gewisses Vertrauen verdiente.
Für Brandt aber führte sein Kniefall zur Verleihung des
[8][Friedensnobelpreises] im Oktober 1971. „Bundeskanzler Brandt hat als
Chef der westdeutschen Regierung und im Namen des deutschen Volkes die Hand
zur Versöhnung zwischen alten Feindländern ausgestreckt“, hieß es in der
Begründung. Diese Würdigung des angeblichen „nationalen Ausverkaufs“ mach…
die bundesdeutsche Rechte gelb vor Missgunst und Neid. Ich aber war wie
Millionen andere stolz auf diesen Kanzler, der der SPD bei der vorgezogenen
Bundestagswahl im Jahr 1972 45,8 Prozent der Stimmen bescherte – ein Wert,
den die Partei nie wieder erreichen würde.
7 Dec 2020
## LINKS
[1] /Willy-Brandts-Kniefall-vor-50-Jahren/!5731079
[2] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43822428.html
[3] http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik/band3/e235g1468.html
[4] https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag1348.html
[5] https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/210710/moskauer-vertrag
[6] https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/68933/40-jahre-warschauer-ve…
[7] http://content.time.com/time/covers/0,16641,19710104,00.html
[8] https://webdatenbank.grass-medienarchiv.de/receive/ggrass_mods_00000058
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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