| # taz.de -- Fotograf des Bundespresseamtes: Historisches Fingerspitzengefühl | |
| > Engelbert Reineke fotografierte von 1966 bis 2000 alle Bundeskanzler. Wie | |
| > aus dem richtigen Moment und etwas Intimität Geschichte wird. | |
| Bild: Ein Sinn für Bildkomposition und ein Gespür für politische Situationen… | |
| Es gibt ein Porträt, das Engelbert Reineke von Konrad Adenauer gemacht hat. | |
| Entstanden am 26. November 1966, es ist das letzte offizielle Bild des | |
| ehemaligen Bundeskanzlers. Reineke, damals neu beim Bundespresseamt in | |
| Bonn, sollte ihn fotografieren. „Wir hatten eine Blitzlichtanlage, bei der | |
| pausenlos das Licht flackerte“, erinnert sich Reineke. „Da konnte sich | |
| keiner wohl drunter fühlen. Ich überlegte, es mit Tageslicht zu versuchen, | |
| lief mit dem Belichtungsmesser herum, zog Vorhänge auf und zu. Als ich den | |
| Herrn dann auf den Stuhl vor mir in das weiche Tageslicht setzte, kam mir | |
| sein Kopf schon einer Skulptur gleich einem Denkmal vor.“ Das schmale, | |
| längliche Gesicht, die schmale, längliche Nase, kein Lächeln um die | |
| Mundwinkel. Ein Gesicht wie in Stein gemeißelt. | |
| 16 Jahre später schießt Engelbert Reineke ein Porträt vom damaligen | |
| Bundeskanzler Helmut Kohl. „Ich war schweißgebadet. Ich sah die Skepsis in | |
| seinem Gesicht, das konnte nichts werden.“ 30 Bilder schoss Reineke, zwei | |
| lieferte er ab. Doch sie wurden zunächst nicht freigegeben, Kohl fand sich | |
| „nicht entspannt genug“. | |
| Von 1966 bis 2004 war Reineke, groß und hager bis heute, als Fotograf im | |
| Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung tätig, davon 36 Jahre | |
| fest angestellt. Er sollte die Aktivitäten der Bundesregierung | |
| dokumentieren, ihre Selbstdarstellung gewährleisten. Auslandsreisen | |
| gehörten dazu, Porträts, Parteitage, Ordensverleihungen. Mit Kohl war ein | |
| neuer Ton eingezogen, sagt Reineke, es gab ständige personelle Wechsel, | |
| niemand besaß Kohls Vertrauen. | |
| Damit war die Vertrautheit, die in den Jahren zuvor zwischen den Fotografen | |
| des Amts und den Regierenden entstanden war, egal ob unter Erhard, Brandt, | |
| Schmidt und später Schröder, diese Mischung aus Nähe und Distanz, | |
| professionellem und privaten Zugang verschwunden, schon vor der Wende und | |
| dem Umzug nach Berlin. Reineke erinnert sich an Kohls erste Reise nach | |
| Paris im Januar 1983. „Das Flugzeug war voll mit hochkarätiger | |
| CDU/CSU-Prominenz. Ich sehe Kohl in Strickjacke und einen hemdsärmeligen | |
| Franz Josef Strauß, ins Gespräch vertieft, so schön locker!“ Reineke | |
| bewegte sich vorsichtig nach vorn. „Sie wollen doch nicht etwa | |
| fotografieren?“, fragte ihn ein Referent. Der Ärger ist ihm heute noch | |
| anzuhören: „Fotoverhinderungsbeamte pflegten wir diese Leute zu nennen.“ | |
| Reineke sagt: „Ich könnte Ihnen eine ganze Liste geben von Bildern, die ich | |
| gesehen habe und nicht machen durfte.“ Nicht fotografieren durfte er Kohl | |
| in New York, der zu Fuß vom Waldorf Astoria zum UN-Gebäude lief und am East | |
| River mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher zusammentraf. „Es wäre das | |
| Bild der deutschen Außenpolitik geworden.“ An jeder Ecke stand ein Tourist | |
| und durfte auf den Auslöser drücken. Nur er nicht. | |
| Engelbert Reineke, Jahrgang 1939, machte in den späten 1950er Jahren erst | |
| eine Lehre als Fotolaborant und erlernte in den 1960er Jahren das | |
| Fotografenhandwerk. Anschließend arbeitete er einige Jahre für den | |
| renommierten Mannheimer Fotografen Robert Häusser. Der warnte ihn vor | |
| seinem neuen Job als „Hoffotograf“, wie er und seine Kollegen manchmal | |
| genannt wurden. Denn in diesem Beruf musste Reineke zwischen innerem und | |
| äußerem Auftrag mit sich verhandeln. Der äußere Auftrag war klar: die | |
| offiziellen Tätigkeiten der Bundesregierung zeigen. Der innere Auftrag: es | |
| möglichst gut zu machen. Im Rahmen des Möglichen, wenn nicht künstlerische | |
| Freiheit, so doch eine persönliche Handschrift zu entwickeln. Reinekes | |
| Momentaufnahmen der Bonner Republik sind nie steif oder langweilig, sondern | |
| mit einem außerordentlichen Sinn für Bildkomposition ausgestattet, das | |
| Bewegte im Statisch-Zeremoniellen, das Ruhende im diplomatischen Gewusel; | |
| er nahm seine Aufgabe und die von ihm Porträtierten ernst. Kleine | |
| Gemeinheiten einzubauen, wie sie die barocken Hofmaler in ihren Bildern | |
| versteckten, wäre ihm nicht eingefallen. „Ich habe positiv darstellen | |
| wollen.“ Nicht beschönigend, aber auch nicht entlarvend. | |
| Reineke erinnert sich an einen Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt in | |
| Tokio, 1978. Nach einem zwanzigstündigen Flug das Pressegespräch und „ein | |
| völlig abgespannter Schmidt“. „Ich habe zwei- oder dreimal abgedrückt und | |
| bin aufgestanden. Der Spiegel-Fotograf Jupp Darchinger war auch dabei. | |
| Jemand wie er konnte die Bilder verkaufen. Aber wir als Presse- und | |
| Informationsdienst der Bundesregierung? Das sind nicht die Bilder, die man | |
| verbreitet.“ Es gibt dennoch eine Parallele zum Spiegel: Wie bei der | |
| Wochenzeitschrift, in der Artikel früher nicht mit Autorennamen | |
| veröffentlicht wurden, war es im Bundespresseamt nicht üblich, Bilder | |
| namentlich zu kennzeichnen. Man gehörte zum Haus. Reineke fing trotzdem | |
| irgendwann an, seine Abzüge mit Namen zu versehen. | |
| Der 82-Jährige lebt noch heute in Bonn. Den Wechsel nach Berlin hat er | |
| nicht mehr mitgemacht, „das war uns freigestellt“. Er wohnt mit seiner Frau | |
| am Stadtrand, hinter dem Vierfamilienhaus erhebt sich der Venusberg. In | |
| seiner Wohnung hängt kein Bild, das er gemacht hätte: „Nicht gut genug“, | |
| sagt er. Es gibt eins von Robert Häusser, seinem „Meister“, bei dem er vor | |
| allem das Sehen gelernt hat. | |
| Reineke stammt aus dem westfälischen Lüdinghausen, aus | |
| katholisch-konservativem Elternhaus, er war das siebte Kind. Als [1][Willy | |
| Brandt 1969 Kanzler wurde], fremdelte er zunächst mit dem | |
| sozialdemokratisch-liberalen Milieu. Es war ein Bruch, eine Zeitenwende im | |
| Nachkriegsdeutschland mit seinen Nazi-Altlasten und Verdrängungsleistungen. | |
| Brandt und später Schmidt wurden dann aber „seine“ Kanzler, mit denen er | |
| Zeitgeschichte schrieb. Denn man kann nicht über Engelbert Reineke | |
| sprechen, ohne auf sein berühmtestes Bild zu sprechen zu kommen. Das Foto | |
| von Brandts [2][Kniefall am Ehrenmal im Warschauer Ghetto, am 7. Dezember | |
| 1970]. Es ist vielleicht nicht das beste Foto Reinekes, aber eins seiner | |
| besten. Das Foto mit dem Soldaten im Anschnitt, das Brandt von vorne zeigt, | |
| ist damals „nicht gelaufen“, wie er sagt. Der Spiegel hatte das von Sven | |
| Simon auf dem Titel, der das Mahnmal mit drauf hatte, das andere stammte | |
| von Hanns Hubmann. Beide erwischten Brandt nur im Profil, nicht von vorne. | |
| Dass nur drei deutsche Fotografen bei dem historischen Ereignis dabei | |
| waren, lag daran, dass das Ereignis kein Ereignis sein sollte. Nach der | |
| Unterzeichnung des Warschauer Vertrags war nur ein kurzer Besuch beim | |
| Ehrenmal vorgesehen, kaum deutsche Presse war da. Und Brandts Kniefall | |
| erfolgte spontan. Ihm fehlten die Worte, wie Brandt später sagte. Reineke | |
| gelang es im letzten Moment, einen Platz im Wagen des Regierungssprechers | |
| zu ergattern. Darum stand er bei der Kranzniederlegung am Denkmal, nicht in | |
| der Menge. „Das waren Bruchteile von Sekunden, die ich zur Verfügung hatte. | |
| Ich bin auf die Knie gegangen und habe gesehen, die Perspektive stimmt. | |
| Durch den Soldaten kam Ruhe ins Bild. Ich habe in der Position genau drei | |
| Bilder gemacht.“ | |
| Gedruckt wurde Reinekes Kniefall-Bild damals nicht, es war eins der Bilder | |
| fürs Archiv oder „für die Schublade“, wie er es nennt. Die Anerkennung kam | |
| später, seine Aufnahme wurde im „Deutschen Lichtbild“, einem renommierten | |
| Jahrbuch, ausgezeichnet. | |
| 1974 gewann er außerdem den Dritten Preis des World Press Photo Award mit | |
| einem Bild, das Willy Brandt, im Sessel sitzend, 1973 im Gespräch mit dem | |
| damaligen sowjetischen Staatschef Leonid Breschnew zeigt. Brandt, | |
| eindeutig der Mittelpunkt, das Jackett leicht verrutscht, der sich zu | |
| Breschnew dreht. Außenminister Walter Scheel und andere | |
| Delegationsmitglieder sind im Profilanschnitt zu sehen, dem Gespräch | |
| gebannt lauschend. Dass die Vertreter der verfeindeten politischen Blöcke | |
| ins Gespräch kamen, dass sie die umstrittenen Ostverträge berieten, war | |
| keine Selbstverständlichkeit. Das Bild: praktizierte Annäherung. | |
| Was macht ein Bild zu einem historischen Bild? Wie erwischt man den | |
| richtigen Moment? Man muss vorausplanen, über die richtigen Kontakte | |
| verfügen, darf sich nicht unterbuttern lassen, man braucht Intuition. | |
| Reinekes Ehrgeiz ging dahin, „einem Bild immer auch etwas Privates, | |
| Persönliches zu geben“. So wird aus einem Pressefoto ein Bild für die | |
| Geschichte. Brandt, der spontan niederkniete, allein, um ihn herum ist | |
| leerer Raum. Eine Geste der Trauer und Demut, ein fast intimer Moment. Im | |
| Hintergrund die verdutzt guckenden Presseleute, Wachpersonal, | |
| Delegationsangehörige. | |
| Das Kniefall-Foto hat Geschichte gemacht. Als es im Dezember 2020 seinen | |
| fünfzigsten Jahrestag hatte, wurde es so viel publiziert wie nie zuvor, | |
| sagt Reineke erfreut. Es gibt ein anderes historisches Bild, auf das er | |
| stolz ist. „Ich habe die erste Begegnung von Helmut Schmidt und Erich | |
| Honecker fotografiert.“ Zur KSZE-Konferenz 1975 in Helsinki war Reineke 24 | |
| Stunden früher angereist und sah sich den Saal vorher an. „Zwei deutsche | |
| Staaten nebeneinander in der ersten Reihe ganz vorn platziert, ein Gang | |
| dazwischen: „Das ist schon ohne Politiker Geschichte.“ Gefühlte zehn | |
| Minuten hätten die beiden deutsch-deutschen Verhandlungsführer dann jeweils | |
| auf ihrer Bank gehockt und gewartet, erinnert sich Reineke, bis sie sich | |
| endlich einander zuwandten und begrüßten. Er hatte „hoch gepokert“ und si… | |
| mit der Delegation in den Saal gedrängelt. „Ich hätte nicht gedacht, dass | |
| die mich dort sitzen lassen, dass ich diesen Moment erwische.“ | |
| Engelbert Reineke war als fest angestellter Fotograf des Bundespresseamts | |
| weder Beamter noch Funktionär, ein Mann ohne Parteibuch und bis heute ohne | |
| eigene Webseite. Der Beamtenapparat hat es ihm schwer gemacht, es gab | |
| fachfremde Referatsleiter, die keine Ahnung hatten, „wie ein Foto aussehen | |
| muss“. Er sagt: „Wir waren die völligen Exoten damals.“ Heute sei das Te… | |
| kleiner, aber besser aufgestellt, meint er, da es nun direkt dem | |
| Regierungssprecher unterstellt sei. Die Pressearbeit hat sich | |
| professionalisiert. | |
| Die Fotografen hatten „lange einen schlechten Stand im Haus“, bestätigt | |
| Ulrich Weichert, der in Berlin, nachdem die Digitalisierung Einzug gehalten | |
| hatte, die Bildredaktion im Bundespresseamt aufgebaut hat. Er bemühte sich | |
| auch um die konservatorische Betreuung des Archivs. Die Fotografen des | |
| Hauses entwickelten und wählten selbst aus, welche Abzüge gemacht werden | |
| sollten. | |
| Es ist Weichert, [3][selbst Fotograf], anzumerken, wie sehr ihm das auf | |
| analogem Material basierende Archiv eine Herzensangelegenheit war. Was ein | |
| Bild ausmacht, wie ein Foto zu behandeln ist, wie Negative aufbewahrt oder | |
| gescannt werden sollten, dafür hätte es früher wenig Verständnis gegeben, | |
| sagt er in seiner Berliner Wohnung. „Ich habe versucht, die Qualität des | |
| Archivs zu retten“, sagt Weichert. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein dicker | |
| Bildband zu „50 Jahre im Bild. Bundesrepublik Deutschland“, den er 1999 | |
| zusammengestellt hat, mit Unterstützung Reinekes. | |
| Aus dem Archiv wurde eine Datenbank, in der heute knapp zwei Millionen | |
| Bilder abrufbar sind. 323 Seiten finden sich zu Engelbert Reineke. Für ihn | |
| ist die Bundesbildstelle allerdings ein wunder Punkt. „Wie oft habe ich | |
| versucht, ein Bild auszutauschen, wenn ich wusste, es gibt ein besseres | |
| Foto.“ Manche Bilder seien gar nicht mehr auffindbar, unzureichend oder | |
| falsch beschriftet oder grob beschnitten. Reineke kramt ein Bild hervor: | |
| Der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger 1967 ist im heutigen | |
| Myanmar in der Stadt Rangun. Kiesinger besucht eine Pagode, jene | |
| turmartigen Gebäude, die in Asien verbreitet sind – barfuß. Auf den ins | |
| Netz gestellten Bildern sind die Füße – der Clou des Bildes – | |
| abgeschnitten. Aufs Standardformat getrimmt. | |
| 2000 hat Reineke angefangen, seine Bilder selbst zu scannen. Nach einem | |
| Jahr vermochte er „einigermaßen gute Scans“ zu erstellen, die Negative | |
| waren manchmal sehr mitgenommen, er erinnert sich, wie er detailversessen | |
| Kratzer auf den historischen Negativen beseitigte. Das Thema ist heikel, | |
| vielleicht auch, weil Reinekes Bilder nicht seine sind. Die Negative und | |
| auch die Bildrechte liegen in der Bildstelle. Sein eigenes Archiv besteht | |
| aus Schachteln in der Bonner Wohnung, in denen er seine Abzüge aufbewahrt. | |
| Das Bewusstsein, dass die Fotografen des Presseamts Zeitgeschichte | |
| dokumentieren, diese Vorstellung habe sich erst mit der Zeit entwickelt, | |
| sagt der ehemalige Bildredakteur Weichert, der dafür gesorgt hat, dass „die | |
| interessanten, aussagekräftigen Bilder im Archiv auffindbar sind“. Es gab | |
| langweilige „Pflichtbilder“, weil die Fotografen „oft die Schere im Kopf | |
| hatten“ und kein Briefing vorab, anders als heute. „Es hing vom politischen | |
| Verständnis des Fotografen, von seinem Gespür für die politische Situation | |
| ab“, sagt Weichert, ob ein Bild mehr als eine Pflicht, mehr als langweilig | |
| wird. „Reineke hatte das Gespür.“ Für ihn sticht der Fotograf als | |
| „Allrounder“ heraus, der alles konnte: Porträts, politische Begegnungen, | |
| Randszenen. „Wie die Magnum-Leute wusste er, wie man ein Bild baut, das | |
| sofort steht.“ | |
| In Reinekes Zeit im Bundespresseamt gab es mehr Nähe – die Republik war | |
| kleiner –, weniger Professionalität, aber anderseits mehr Freiheiten, sagt | |
| Weichert. „Es wurde viel weniger inszeniert als heute.“ Es wird auf diesen | |
| Bildern geraucht, geplaudert, gelacht. Wo kein Briefing von oben stattfand, | |
| keine Weisungen kamen, musste sich Reineke diese selbst geben. Vielleicht | |
| konnte er deshalb, trotz des offiziellen Settings, eine persönliche | |
| Handschrift entwickeln, sich künstlerische Freiheiten nehmen. | |
| Es existierten in der Bildstelle, sagt Weichert, auch Bilder, die nicht | |
| ausgewählt wurden, wie beispielsweise den „unentspannten“ Helmut Kohl. | |
| Heute ist man lockerer: Politiker*innen präsientieren sich gerne | |
| privat, vorgeblich menschlich. „Für die Zeitgeschichte sind gerade die | |
| nichtinszenierten Bilder, die Randszenen, die interessantesten“, sagt der | |
| ehemalige Bildredakteur. Reineke gelang es, neben den politischen Standard- | |
| oder Schlüsselszenen die persönlichen Momente zwischen den Regierenden | |
| einzufangen. | |
| Reineke räumt in seiner Bonner Wohnung den Kaffeetisch ab, angerührt hat er | |
| weder die Tasse Kaffee noch die von seiner Frau gebackenen Zimtschnecken. | |
| Er hat in Vorbereitung unseres Besuches seine alten Fotokartons durchsucht, | |
| er öffnet eine Schachtel mit Schwarz-Weiß-Bildern. „Ah, das riecht gut!“, | |
| sagt er, schnuppert und atmet tief den Geruch von Staub und Chemikalien | |
| ein. Er und seine Kollegen haben damals nach ihren Terminen im Labor ihre | |
| Abzüge alle selbst entwickelt, eine Auswahl getroffen, vergrößert. „Jeder | |
| hatte seine eigene Suppe.“ | |
| Seine Vorbilder? Robert Häusser, Robert Lebeck, Henri Cartier-Bresson. Als | |
| er vor Jahren eine Ausstellung des französischen Fotografen gesehen hat, | |
| war er von der mauen Qualität der Abzüge enttäuscht. „Der hat kein gutes | |
| Labor gehabt.“ | |
| Für den taz-Fotografen holt Reineke seine erste Leica aus dem Versteck. Als | |
| er 2004 in den Ruhestand ging, zeigte das Bundespresseamt eine Auswahl | |
| seiner Bilder, einen von Reineke persönlich verantworteten Rückblick. 2013 | |
| war er außerdem in der [4][Ausstellung „Aufbrüche“] vertreten, die der | |
| Sammler Karsten Fricke zusammengestellt hat. Doch mehr Ausstellungen für | |
| sein Lebenswerk gab es nicht. | |
| „Für Ausstellungen fehlte mir der letzte Drive“, gibt Reineke zu. “Das m… | |
| man können und wollen.“ Es mag zum einen Bescheidenheit sein, vermutet | |
| Karsten Fricke am Telefon, der sich auf Bildjournalismus spezialisiert. | |
| „Die Leistung eines Fotografen muss man anders bewerten heute“, sagt er, | |
| „es galt zu erkennen, wann man auf den Auslöser drücken muss. Sie hatten | |
| oft nur einen Schuss.“ Anders als die FAZ-Fotografin Barbara Klemm oder der | |
| Stern-Fotograf Robert Lebeck sei Reineke aber die Rechtefrage nie | |
| angegangen. Einzelausstellungen seien dadurch fast unmöglich geworden. | |
| War es falsche Bescheidenheit oder Scheu, Groll? Gibt es Bedauern bei | |
| Reineke? „Von künstlerischer Fotografie habe ich nie etwas verstanden“, | |
| wehrt der ab. Als der taz-Fotograf ein riesiges Blitzlichtgerät aufbaut, | |
| ohne Flackern, meldet sich der Handwerker in ihm zu Wort: „Damit hätte ich | |
| auch gearbeitet.“ Den Blitz musste er oft einsetzen, und als er 2004 in den | |
| Ruhestand ging, wollte er „nie wieder Studio“. Mit der digitalen Fotografie | |
| aber hat er sich angefreundet. Der Zeit im Bundespresseamt trauert Reineke | |
| nicht hinterher, die Kollegen heute, die in Berlin einer übergroßen | |
| Konkurrenz und Bilderinflation ausgesetzt sind, bedauert er. Aus dem Pulk | |
| auszubrechen, wie er es manchmal getan hat, ist schwerer geworden. | |
| Wenn jetzt Angela Merkel nach 16 Jahren Kanzlerinnenschaft abtritt, wie | |
| würde er sie fotografieren? Erst mal gar nicht, sagt Reineke. Sie möge sich | |
| von ihren Pflichten erholen, den Ruhestand genießen. Fotografieren würde er | |
| sie dann nach ihrem 75. Geburtstag, das wäre im Jahr 2029. An der Ostsee | |
| bei schmuddeligem Wetter. | |
| 29 Aug 2021 | |
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