# taz.de -- Radikalenerlass in West-Berlin: Brandt soll nicht beschädigt werden | |
> Rot-Rot-Grün will Folgen des Radikalenerlasses aus den 70ern aufarbeiten | |
> lassen. Eine Entschuldigung ist aus Rücksicht auf Willy Brandt nicht | |
> drin. | |
Bild: Die Folgen des Radikalenerlasses sollen noch vor den Wahlen vom Abgeordne… | |
BERLIN taz | Nüchtern und trocken, wie im Parlament üblich, kommt der | |
Antrag auf Beschlussempfehlung daher. „Folgen des Radikalenerlasses in | |
West-Berlin anerkennen – Schicksale aufarbeiten“, lautet der Titel. | |
Donnerstag in einer Woche wollen SPD, Linke und Grüne den Antrag ins | |
Abgeordnetenhaus einbringen, nach der Sommerpause soll er beschlossen | |
werden. „Besser spät als nie“, sagt der Linken-Abgeordnete Niklas Schrader. | |
Damit meint er nicht, dass der Beschluss auf den letzten Drücker erfolgt, | |
(im September ist die Legislaturperiode zu Ende), sondern dass die Zeit der | |
Berufsverbote schon ewig lange her ist. Schraders Vater, heute 78 Jahre | |
alt, gehörte nach dem Studium zu den Betroffenen. | |
Unter Vorsitz des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD) hatten die | |
Ministerpräsidenten der Länder am 28. Januar 1972 den sogenannten | |
Radikalenerlass, auch Extremistenbeschluss genannt, beschlossen. Im | |
Antragspapier der rot-rot-grünen Regierungskoalition werden die Folgen des | |
Radikalenerlasses so beschrieben: „Formell richtete sich der Erlass, den | |
West-Berlin 1972 formlos übernahm, gegen Links- und Rechtsextremisten; | |
praktisch traf er aber fast ausschließlich Aktive aus dem linken Spektrum, | |
Mitglieder oder Sympathisierende legaler linker Gruppierungen“. | |
Rund 11.000 Berufsverbotsverfahren wurden laut Antragstext bundesweit | |
eingeleitet, etwa 1.250 Bewerber nicht eingestellt und etwa 260 Beamte, | |
Beamtinnen oder Angestellte aus dem öffentlichen Dienst entlassen. | |
„West-Berlin hat einen besonders rigiden Kurs verfolgt“. Genaue Daten | |
fehlten bisher zwar, relativ gesichert sei aber, dass es hier bis 1978 | |
knapp 68.000 Sicherheitsüberprüfungen durch den Verfassungsschutz gab. | |
Die Ablehnungsrate für eine Übernahme in den öffentlichen Dienst sei in | |
Bezug auf die Anzahl der Gesamtüberprüfungen in Westberlin gut fünfmal so | |
hoch wie im Bundesdurchschnitt gewesen. Erst 1985 wurde die Regelanfrage in | |
den meisten Bundesländern abgeschafft. | |
Die Menschen, die deshalb damals nicht Lehrer, Dozenten oder | |
Verwaltungsangestellte werden konnten, sind heute 70 plus. Sein Vater sei | |
als Student bei der KPD/AO gewesen, erzählt Niklas Schrader. In der | |
Annahme, er werde wegen der früheren Mitgliedschaft bei den sogenannten | |
Maoisten abgelehnt, habe er sich gar nicht erst um eine Doktorandenstelle | |
an der TU beworben. In einem diakonischen Krankenhaus habe er dann als | |
Psychologe gearbeitet. | |
## Berlin ist spät dran | |
Diverse Bundesländer haben inzwischen Aufarbeitungsprojekte gestartet. | |
[1][Die Niedersachsen] waren vor ein paar Jahren die Ersten, auch in | |
Hamburg und Bremen hat es mittlerweile offizielle Entschuldigungen der | |
Landesparlamente gegeben. Bremen hat in Einzelfällen sogar einen Ausgleich | |
für geminderte Renten geleistet. Berlin ist mit seiner Initiative spät | |
dran. | |
Die GEW habe den Anstoß gegeben, sagt Schrader. Der GEW-Vorsitzende Tom | |
Erdmann bestätigt das. Eine Arbeitsgruppe von Senioren habe lange an dem | |
Thema gearbeitet. Eigentlich habe man sich mehr gewünscht als nur eine | |
wissenschaftliche Aufarbeitung der Zeit: eine Entschuldigung und eine | |
Entschädigung für zumindest einige der Betroffenen. | |
Dem Vernehmen nach liegt es mal wieder an der SPD, dass Letzteres | |
gescheitert ist. Offenbar aus der Sorge heraus, ihr Säulenheiliger Willy | |
Brandt könne sonst beschädigt werden. | |
Christian Ströbele (Grüne), soeben 82 Jahre alt geworden, war ein junger | |
Mann, als der Radikalenerlass in Kraft trat. Als Anwalt sei er nicht | |
persönlich betroffen gewesen, aber er kenne einige. Willy Brandts Kniefall | |
vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos am 7. Dezember 1970 habe eine neue | |
Zeit verkündet, erinnert sich Ströbele. „Aber eigentlich hatte sich nichts | |
verändert. Die Sozialdemokraten waren nach wie vor ein Repressionsapparat.“ | |
9 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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