# taz.de -- Radikalenerlass in Niedersachsen: „Einige sind innerlich zerbroch… | |
> Die niedersächsische Landesregierung arbeitet jetzt das Schicksal der | |
> Opfer von Berufsverboten auf. Für den Lehrer Rolf Günther ein wichtiger | |
> Schritt, der befriedet. | |
Bild: Eine Entschuldigung: Niedersachsen will Schicksale derer aufarbeiten, die… | |
taz: Herr Günther, Sie sind 67 Jahre alt, haben 16 Jahre Berufsverbot | |
gehabt und sind für 40 Jahre pflichtbewussten Dienst als Studienrat geehrt | |
worden – haben Sie mit 12 Ihr Staatsexamen gemacht? | |
Rolf Günther: Nein, wie die meisten mit 24. Diese 40 Jahre sind | |
verwaltungstechnisch errechnet, sie beziehen sich auf den Studienbeginn mit | |
19 Jahren. | |
Das heißt, Sie sind für die 16 Jahre, in denen sie Berufsverbot hatten, | |
später als pflichtbewusster Beamter geehrt worden? | |
Richtig. | |
Hat jemand gelacht, als Sie diese Urkunde bekommen haben? | |
Der Schulleiter ist in seiner Rede leicht ironisch darauf eingegangen, das | |
war im Rahmen meiner Pensionierung vor dem gesamten Kollegium. | |
Da war keiner von der Behörde, dem das hätte peinlich sein können? | |
Nein. Da hätte sich auch keiner mehr erinnert. Die Kenntnis vom | |
Radikalenerlass scheint verloren gegangen zu sein. Wir nennen unsere | |
Berufsverbots-Ausstellung daher auch „Vergessene Geschichte“. Ab dem 12. | |
Januar ist sie in Berlin im Haus der Demokratie zu sehen. Der | |
Innenminister, der mein Berufsverbot zu verantworten hatte, hat sich | |
übrigens Jahre später bei mir privat für die Entscheidung seiner Behörde | |
entschuldigt. | |
Wodurch sind Sie aufgefallen? | |
Der Vorwurf in meiner Anhörung 1976 basierte auf drei Elementen. Ich hatte | |
kandidiert für den Marxistischen Studentenbund, das zweite war eine | |
Hochzeitsanzeige, in der die „DKP-Hochschulgruppe“ dem „Genossen Rolf | |
Günther“ zu seiner Hochzeit gratuliert hatte, ich hatte diese Anzeige | |
vorher gar nicht gekannt, und das dritte war die Mitarbeit im Komitee gegen | |
die Berufsverbote. Da hatte ich einen Aufruf verfasst, der überschrieben | |
war: „Freiheit im Beruf, Demokratie im Betrieb“. Das waren die Vorwürfe, | |
man schloss daraus eine Mitgliedschaft in der DKP. | |
Hat man sie nach Ihrer Gesinnung befragt und Ihren Politikunterricht | |
analysiert? | |
Nein, überhaupt nicht. Die Gutachten, die mir meine Ausbilder und meine | |
Schulleiterin geschrieben haben, waren alle sehr positiv. Da heißt es etwa | |
bei der Schulleiterin, Frau Steinbrück: „Herr Günther ist an unserer Schule | |
während seines Referendariats sehr positiv aufgefallen durch seine große | |
Bereitschaft zu helfen, wo es nötig war … er hat eine gute pädagogische Art | |
im Umgang mit jüngeren und älteren Schülern. Der Unterricht, den ich von | |
ihm gesehen habe, zeichnete sich auch bei politisch aktuellen Themen | |
dadurch aus, dass er die Schüler zu allseitigem kritischen Urteil anhielt | |
und überhaupt keinen Ansatz bei Schülern duldete oder gar selber bot, der | |
einseitige Stellungnahmen oder Beeinflussung enthielt.“ | |
Wie haben Sie erfahren, dass Sie im Visier sind? | |
Ich sollte ab dem 1. Februar 1976 an einem Gymnasium in Wolfenbüttel | |
unterrichten, unter anderem einen Leistungskurs in Gemeinschaftskunde. In | |
der zweiten Unterrichtsstunde erschien der Schulleiter und erklärte: „Herr | |
Günther, Sie können nicht weiter unterrichten, ihre Vereidigungsurkunde ist | |
nicht gekommen.“ | |
Und dann? | |
Bei der Bezirksregierung Braunschweig konnte man mir nicht sagen warum, da | |
hieß es, es habe einen Anruf aus dem Innenministerium gegeben. Das | |
Innenministerium erklärte mir, das sei ein Vorgang, über den man mir nichts | |
sagen könne. Ich habe dann beim Verfassungsschutz angerufen, und da | |
erklärte man mir, dass es dort die sogenannte „Regelanfrage“ gegeben habe | |
und man „Erkenntnisse“ mitgeteilt habe. | |
Hatte der Verfassungsschutz mehr als diese drei Informationen? | |
Das weiß ich nicht. | |
Was ist mit den Gutachten passiert? | |
Die sind zu den Akten gegangen. Die fachlichen Gutachten haben keine Rolle | |
gespielt bei der Anhörung. Meine berufliche Tätigkeit interessierte | |
niemanden. Im Zentrum stand die Frage der Mitgliedschaft. | |
Dann waren Sie von heute auf morgen raus aus dem Schuldienst? | |
Ja, am 2. Februar 1976 um 8.40 Uhr. | |
Was hat ihre Frau dazu gesagt? | |
Sie war der Meinung, ich sollte konziliant sein. Sie hat sehr darunter | |
gelitten. Da war auch viel Zukunftsangst im Spiel. Unsere Ehe ist dann | |
kaputtgegangen. | |
Sie wollten nicht konziliant sein? | |
Ich wusste von Freunden, was dann passiert. Da sind einige innerlich | |
zerbrochen, und dann kamen die Herren vom Verfassungsschutz und wollten | |
auch noch etwas wissen, sozusagen um die Kooperationsbereitschaft zu | |
testen. | |
Was haben Sie dann gemacht? | |
Um den Lebensunterhalt zu verdienen, habe ich zunächst Hilfsarbeiten | |
angenommen, unter anderem bin ich LKW gefahren. Als Beamter auf Widerruf | |
bekommen Sie kein Arbeitslosengeld, ich hatte keine Ansprüche. Die | |
Volkshochschule Hannover hat mir besonders geholfen, da ich dort Kurse | |
geben durfte, zum Beispiel Rhetorik für Senioren oder Englisch im Knast. | |
Schließlich habe ich in einer Buchhandlung eine halbe Stelle bekommen. | |
Das durften Sie? | |
Ja. | |
Wenn Sie im Berufsverbote-Komitee waren, wussten Sie, was Ihnen drohen | |
könnte? | |
Grundsätzlich ja. Aber es hieß ja immer, es ginge um | |
Einzelfallentscheidungen. Ich war davon ausgegangen, dass ich aufgrund | |
meiner beruflichen Qualifikation und Praxis Lehrer werden kann. Ich hatte | |
ja schon als Student an einer Realschule unterrichtet. Auch mit dem | |
Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung hatte ich keine | |
Probleme. | |
Sie haben dann geklagt – und verloren. | |
Nach einer Petition an den niedersächsischen Landtag, die Gerhard Schröder, | |
mein Anwalt, eingereicht hatte, fand das Verwaltungsgerichtsverfahren Ende | |
1979 statt. Man warf mir vor, dass ich die DKP für eine legitime und | |
verfassungskonforme Partei halte. Das hat dem Gericht ausgereicht, um mich | |
selbst für verfassungsfeindlich zu erklären. | |
Wie ging es beruflich weiter? | |
1977 erhielt ich das Angebot, an einer privaten Berufsschule zu | |
unterrichten, aber die Behörde wollte mir anfangs die Lehrerlaubnis | |
verweigern. Da wurde klar, dass es nicht, wie offiziell behauptet, um die | |
Loyalität von Staatsbeamten ging, sondern wirklich um Berufsverbot. Auch | |
aufgrund vieler internationaler Proteste konnte diese Position nicht | |
durchgehalten werden. Ich habe aber über ein Jahr jede Woche Besuch von | |
einem Schulrat der Bezirksregierung bekommen, der jedes Mal von seinem | |
Fahrer aus Hannover gebracht wurde. Da entwickelte sich ein durchaus | |
respektvolles Verhältnis. | |
Vor dem Oberverwaltungsgericht haben sie dann gewonnen. | |
Die Richter des Oberverwaltungsgerichtes haben die Begründung der Anhörung | |
und das erstinstanzliche Urteil sehr kritisch gesehen, sie fragten den | |
Vertreter der Bezirksregierung immer wieder, was sie mir vorwerfe. Das, was | |
in den Akten stand, reichte ihnen nicht. Das Gericht wollte keine Prognose | |
hören, sondern konkretes Verhalten. Der Vertreter der Behörde verstand die | |
Welt nicht mehr. Es gab dann einen Vergleich, der Ablehnungsbescheid von | |
1976 wurde zurückgenommen. Bei der Durchsicht der Personalakte stellte der | |
Anwalt übrigens fest, dass meine Schulleiterin 1976 nach acht Tagen ihr | |
Gutachten widerrufen hatte. Das wusste ich vorher nicht. Was sie dazu | |
bewegt hat, weiß ich nicht. Der Richter fand das sehr merkwürdig. Die | |
Fachleiter haben ihre Gutachten nicht zurückgenommen. | |
Sie erklären das so nüchtern. Sie sind nicht richtig sauer auf diesen | |
Staat? | |
Manchmal kommt in mir das Gefühl der Angst hoch, die ich verdrängt habe. Im | |
Alltag ist das untergegangen. Sauer? Nein, man kann nicht 40 Jahre sauer | |
sein. Aber da ist ein latentes Gefühl der Unsicherheit, weil ich weiß, wie | |
schnell es geht, dass man außerhalb des Rechts gestellt werden kann. Ich | |
bin wohl auch ein entschiedener Anhänger eines funktionierenden | |
Rechtsstaates geworden, sicherlich auch durch meine Erfahrungen. Und | |
deshalb bin ich sehr froh, dass sich die Fraktionen von SPD und Grünen im | |
Landtag entschuldigt haben und das Thema aufarbeiten wollen, nach 40 | |
Jahren, das ist mir wichtig, das befriedet. | |
Es soll nun eine Berufsverbote-Beauftragte geben – was soll die machen? | |
Frau Jutta Rüpke soll die Praxis aufarbeiten, sie wird einen | |
wissenschaftlichen Beirat bekommen. | |
Gibt es eine Amnestie? | |
Nein. Auch die Gerichtsurteile sind noch gültig. Im rot-grünen | |
Koalitionsvertrag von 1990 hieß es: „Die Regelanfrage wird abgeschafft. Der | |
Radikalenerlass wird aufgehoben, die Opfer der Berufsverbote werden soweit | |
möglich rehabilitiert.“ Wer wollte, ist über einen Gnadenerlass eingestellt | |
worden. Es gab jedoch keine wirkliche Rehabilitierung. Da hat es zwischen | |
meinem Anwalt Gerhard Schröder und dem Ministerpräsidenten Schröder eine | |
deutliche Veränderung gegeben. Und natürlich muss es eine Härtefallregelung | |
geben. | |
Den Berufsverbote-Komitees ist immer wieder Einäugigkeit vorgeworfen | |
worden. Haben Sie sich einmal mit Berufsverboten in der DDR beschäftigt? | |
Ja, das habe ich. Wobei das etwas ist, was gewachsen ist. | |
Inwiefern? | |
Ich kann die Situation der dort vom Berufsverbot Betroffenen sehr gut | |
verstehen. In der DDR gab es noch eine andere Qualität. Uns stand der | |
Rechtsweg offen, auch wenn die Gerichtsurteile nicht immer so ausfielen, | |
wie wir es gewünscht hätten, und es Jahre dauerte. Außerdem ist es gut für | |
diese Menschen, dass ihre Schicksale aufgearbeitet wurden. Für die | |
Bundesrepublik wünsche ich mir das auch. | |
Die Lehrer wurden ja in der DDR von der SED handverlesen. | |
Ja, wobei meine Cousine Lehrerin werden konnte, obwohl sie nicht in der FDJ | |
war und konfirmiert wurde. Das gab es auch. Auf der anderen Seite: Mein | |
Cousin wollte Tierarzt werden, Sohn eines Bauern, das ging nicht. Die Zahl | |
der Studienplätze war verplant – und er war nicht in der SED. | |
Hatten Sie in Ihrer Familie drüben viele Genossen? | |
Nein, gar nicht. Ich bin einer der wenigen aus meiner Familie, der hier im | |
Westen groß geworden ist. Ich war der Roteste, und das im Westen. Natürlich | |
wurde ich damit auch aufgezogen. | |
Das heißt: Sie kannten die DDR auch privat, über familiäre Kontakte. Und | |
dennoch waren Sie blauäugig gegenüber der DDR? | |
Blauäugig trifft es vielleicht nicht. In meinem Kopf war der Traum eines | |
friedlichen, gerechten, antifaschistischen Deutschlands, und das war leicht | |
zu projizieren auf die reale DDR. Das hat manchmal dazu geführt, dass ich | |
den einen oder anderen Fakt nicht gesehen habe. Die Tatsache, dass ich hier | |
ein Berufsverbot hatte, hat auch vieles überdeckt. Das ist nicht hilfreich, | |
um solche Projektionen kritisch zu hinterfragen. Das Berufsverbot hatte | |
sicherlich das Kalter-Krieg-Denken gefestigt, wir und ihr, wir, das waren | |
eben auch die Genossen in der DDR. Wir wurden hofiert, wenn wir dann mit | |
einer Delegation dorthin fuhren. Dort war ich willkommen, hier nicht. Aber | |
es gibt ein paar Punkte, wo ich gemerkt habe: Hier stimmt etwas nicht mit | |
meinem Denken. | |
Woran machen Sie das fest? | |
An der Biermann-Ausweisung. Der Einmarsch der sowjetischen Truppen in | |
Afghanistan. Prag 1968, das war für mich noch Teil des Warschauer Paktes | |
gewesen, anerkannte Einflusssphäre der Sowjetunion. Aber Afghanistan 1979 | |
war das nicht. Tschernobyl natürlich. Ab dann war das Parteibuch letztlich | |
nur noch eine Trotzreaktion. Ich hatte mir vorgenommen, wenn ich wieder | |
eingestellt werde, möchte ich das Parteibuch in der Tasche haben … | |
… die DKP sollte damit als legitime Partei anerkannt werden … | |
Ja, aber ich bin dann schon vorher, 1990, nach harten innerparteilichen | |
Konflikten ausgetreten. | |
Ist es nicht erschreckend, wie viel rechtsradikales Milieu in den Gebieten | |
Deutschlands entstanden ist, die von der Erziehung im DDR-System geprägt | |
sind? | |
Ich verstehe das auch nicht. Vielleicht weil die Mauer eine scheinbar | |
beschützende Situation geschaffen hatte, eine psychologische Sicherheit und | |
Ordnung, paternalistisch-autoritär. Kritisches Denken war da höchstens ein | |
Nebenprodukt. Und dann kam vielleicht 1989 noch das Gefühl hinzu, verloren | |
zu haben, eine Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Möglicherweise ist es | |
diese Mischung. Meine Verwandtschaft aus dem Osten hat allerdings nach der | |
Wende sehr positive Erfahrungen gemacht. | |
2 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Klaus Wolschner | |
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