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# taz.de -- Repression gegen Linke ab 1973: Kretschmanns späte Entschuldigung
> Der Radikalenerlass hinderte tausende vermeintlich Linksradikale am
> Berufseinstieg. Baden-Württembergs Ministerpräsident entschuldigte sich
> nun.
Bild: Schon damals klar als Unrecht erkennbar: Opfer des Radikalenerlsses prote…
Karlsruhe taz | Es ist eine Entschuldigung nach mehr als 50 Jahren. Von
einem, der selbst betroffen war. „Sie haben zu Unrecht durch
Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren,
Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit Leid erlebt. Das bedauere ich
als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg sehr“, schreibt Winfried
Kretschmann am Donnerstag in einem offenen Brief an die Betroffenen des
„Radikalenerlasses“, der vielen Menschen zwischen 1973 und 1990 [1][den
Berufsweg aus politischen Gründen verbaute].
Eine Rehabilitation oder gar Entschädigung für die aus dem Staatsdienst
Entlassenen ist damit aber nicht verbunden: Eine Einzelfallprüfung erweise
sich in vielen Fällen wegen fehlender Akten als unmöglich, erklärt das
Staatsministerium.
Die Initiativgruppe gegen Radikalenerlass und Berufsverbote
Baden-Württemberg erkennt den Brief gleichwohl in einer ersten Reaktion als
positives Signal an. „Wir erwarten allerdings, dass bei unseren
weitergehenden Forderungen nach Entschuldigung, Rehabilitierung und
Entschädigung spürbare Fortschritte erzielt werden können.“
Kretschmanns Brief ist Teil einer umfangreichen Aufarbeitung des Umgangs
mit vermeintlichen oder tatsächlichen Verfassungsfeinden im Staatsdienst in
den 1970er- und 1980er-Jahren, die das Land mit einer wissenschaftlichen
Studie der Universität Heidelberg seit 2018 vorangetrieben hat.
## Kretschmann war selbst fast Opfer
Baden-Württemberg hatte die Regelüberprüfung der Verfassungstreue unter dem
sinnigen Namen „Schieß-Erlass“ besonders lange und besonders konsequent
angewandt: Zwischen 1973 und 1990 waren allein im Südwesten 700.000
Anwärter für den öffentlichen Dienst überprüft worden.
Die Ergebnisse waren im Vergleich zum Aufwand dürftig. 200 Bewerber wurden
nach der Überprüfung abgelehnt, 60 aus dem öffentlichen Dienst entlassen.
Es hatte überhaupt nur in 0,3 Prozent der Anfragen irgendwelche
Erkenntnisse gegeben. Kretschmann resümiert: „Eine ganze Generation wurde
unter Verdacht gestellt. Das war falsch.“
Unter dem Eindruck eines starken Linksrucks an den Hochschulen hatten
[2][der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt] mit den
Ministerpräsidenten der Länder 1972 den sogenannten Extremistenbeschluss
gefällt. Das Saarland stoppte die Praxis als erstes Bundesland 1985, Bayern
als letztes erst 1991. Nach Schätzungen der Hamburger Forschungsstelle für
Zeitgeschichte gab es bundesweit zwischen 1,8 bis 3,5 Millionen
Verfassungsschutzanfragen. 1.000 bis 2.000 Menschen seien nicht eingestellt
worden.
Der heutige Grüne Kretschmann zählt selbst zu den Opfern des
Radikalenerlasses. Wegen seines Engagements in der Hochschulgruppe des
maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) in der ersten
Hälfte der 1970er Jahre drohte dem Lehramtsstudenten das Berufsverbot. Nur
die Fürsprache des damaligen Präsidenten der Universität Hohenheim ebnete
ihm dann doch noch den Weg in den Beruf.
Kretschmann zieht in seinem Brief Schlüsse für die Gegenwart: Der Staat
müsse sich zwar konsequent, [3][aber „mit Augenmaß“ gegen seine Gegner
wehren]. Dabei das ganze Spektrum des Extremismus im Auge zu behalten und
nicht, wie damals vor allem der Linksextremismus. Zudem müsse man Menschen
zubilligen, dass sie sich ändern, und sie an ihren Taten messen. Er selbst
sei heute dankbar dafür, „dass die Demokratie mir eine zweite Chance
gegeben hat“, schreibt Kretschmann an jene, die nicht dieses Glück hatten.
Christina Lipps, Sprecherin der Initiative gegen den Radikalenerlass, gibt
sich mit der Studie und dem offenen Brief nicht zufrieden. Sie vermisst
weiterhin die Rehabilitation und einen Schadensersatz für alle Betroffenen.
Stattdessen versuche Kretschmann eine Spaltung in zu recht und zu unrecht
aus dem Staatsdienst Entfernte.
Aber Lipps stellt klar: „Alle juristische Gutachten und Urteile haben in
den vergangenen Jahren gezeigt, dass es in jedem Fall Unrecht war, die
Betroffenheit nach ihrer vermeintlichen Gesinnung und nicht nach ihren
Taten zu beurteilen.“ Im Februar will sich Kretschmann mit den Betroffenen
an einen Tisch setzen.
19 Jan 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Benno Stieber
## TAGS
Radikalenerlass
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