| # taz.de -- Neuer Podcast über den Fall Lina E.: Fragen bleiben offen | |
| > Lina E. wird die Bildung einer linksextremistischen kriminellen | |
| > Vereinigung vorgeworfen. Ein neuer Podcast bereitet die Story auf. | |
| Bild: Soli-Demo für Lina E. und gegen die Kriminalisierung von Antifaschismus … | |
| Es ist einer der medienwirksamsten Fälle der vergangenen Jahre: der | |
| [1][Fall Lina E.], der seit Herbst 2021 vor dem Oberlandesgericht Dresden | |
| verhandelt wird. Ihr wird vorgeworfen, Anführerin in einer Reihe linker | |
| Angriffe auf Neonazis gewesen zu sein. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten | |
| steht um die Angeklagte eine Gruppe unter dem Vorwurf [2][der Bildung einer | |
| linksextremistischen kriminellen Vereinigung] vor Gericht – auch wenn die | |
| Beweislage noch immer umstritten ist. | |
| Bei all der Medienwirksamkeit wundert es nicht, dass es nun einen | |
| aufwändigen Recherchepodcast zum Thema gibt. Die Leipziger Volkszeitung | |
| (LVZ) hat gemeinsam mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland eine Serie | |
| produziert. Seit Januar erscheint der Podcast unter dem Titel „Der Fall | |
| Lina E. Wenn der Kampf gegen Neonazis in Gewalt eskaliert“. | |
| In fünf Folgen werden die Hintergründe zum Fall besprochen: die Tatnacht, | |
| Aktivitäten der Neonazis in Thüringen, [3][Linksradikale] und das | |
| Verhältnis zur Polizei, die Soko Linx in Sachsen, der Kronzeuge oder die | |
| Frage, ob Gewalt gegen Neonazis gerechtfertigt ist. Recherchiert und | |
| aufbereitet haben den Podcast zwei erfahrene Journalistinnen, die mit der | |
| lokalen Politik ebenso vertraut sind wie mit Recherchejournalismus. | |
| ## Gut recherchiert, Hintergründe sind kontextualisiert | |
| Denise Peikert und Antonie Rietzschel arbeiten beide als Reporterinnen für | |
| die LVZ, zuvor auch für überregionale Medien. Die Expertise der beiden tut | |
| dem Podcast gut: Die Fakten sind genau recherchiert, die Hintergründe | |
| werden kontextualisiert. | |
| Auch das Storytelling funktioniert. Sprecherin Peikert zeichnet wirksame | |
| Bilder im Kopf der Hörer*innen – beispielsweise das | |
| Sicherheitsspektakel, das Polizei und Justiz veranstalten, wenn Lina E. in | |
| den Gerichtssaal geführt wird. Das hilft zu verstehen, welche Funktion die | |
| Narrative um Lina E. erfüllen – nämlich eine in großen Teilen symbolische. | |
| So erklärt Folge 3, dass die deutschlandweit einmalige Soko Linx eigentlich | |
| sonst kaum Ermittlungserfolge verzeichnet. Die gewaltigen Vorwürfe dienen | |
| eben auch als Legitimation der fragwürdigen Ermittlungseinheit. Leider | |
| bedient der Podcast sich an einigen Stellen selbst dieser Narrative. Zum | |
| Beispiel, wenn LVZ-Reporter*innen durch Connewitz laufen und sich dabei | |
| aufnehmen, wie sie bunte „Free Lina“-Graffiti und Spendendosen im Viertel | |
| entdecken. | |
| ## Mythos des linksautonomen Connewitz | |
| Sie schließen daraus, dass Lina E. „in Connewitz als Heldin verehrt wird“. | |
| Diese Pauschalisierung bedient nicht nur den medial angeheizten Mythos vom | |
| linksautonomen Connewitz. Sie verkennt auch, dass es in den | |
| Solidaritätsbekundungen mit Lina E. weniger um Heroisierung, als vielmehr | |
| um eine linke Praxis geht. | |
| Auch mit dem Extremismusbegriff nehmen die Autorinnen es nicht immer so | |
| genau. Mal wird von Linksextremen gesprochen, mal von Linksradikalen. Immer | |
| jedoch stehen diese im Verhältnis zu den Rechtsextremen. Damit übernimmt | |
| der Podcast die bei Ermittlungsbehörden beliebte hufeisenartige | |
| Extremismusdefinition, die [4][von Politikwissenschaftler*innen] | |
| schon lange kritisiert wird. | |
| Und das, obwohl es an anderer Stelle sehr wohl eine sehr differenzierte | |
| Auseinandersetzung mit der Frage der Vergleichbarkeit der polizeilichen | |
| Statistik von rechtsextremen und linksextremen Straftaten gibt. | |
| Fazit: Das, was polizeilich als linke Straftaten geführt wird, sind oftmals | |
| nur Graffiti. An einigen Stellen wünscht man sich mehr Raum, um diese | |
| Kontexte zu verstehen. Gerade wenn es um die Kritik an der Soko Linx oder | |
| die Heterogenität der linken Szene in Leipzig geht. Auch werden dem | |
| Kronzeugen Johannes D. und seinen Aussagen viel Raum gegeben. | |
| ## Geschichte noch nicht zu Ende | |
| Zwar sind sie für den Prozess und damit den Podcast ein wichtiger Aspekt. | |
| Doch zu kurz kommt: Für viele gilt seine Aussage als Rachefeldzug gegen | |
| jene, die ihn zuvor wegen Vergewaltigungsvorwürfen aus Strukturen | |
| ausgeschlossen haben. Kann man einem mutmaßlichen Sexualstraftäter glauben? | |
| Diese Frage wirft der Podcast nur am Rande auf. | |
| Was den Autorinnen gut gelingt, ist vielseitige Perspektiven auf den Fall | |
| Lina E. zu Wort kommen zu lassen und dabei den Hörer*innen selbst das | |
| Urteil zum viel debattierten Fall zu überlassen. Wir hören linke | |
| Aktivist*innen ebenso wie die Polizei oder einen Soziologen. Nur: Die | |
| Perspektive von Lina E. selbst findet gar nicht statt – weder durch | |
| Freund*innen, noch durch ihre Verteidiger. | |
| Das wiederum liegt einerseits an dem besprochenen erschwerten Zugang zur | |
| Szene. Und daran, dass der Prozess noch nicht abgeschlossen ist – in | |
| laufenden Verfahren redet fast niemand mit der Presse. Der Podcast erzählt | |
| eine Geschichte, die noch gar nicht zu Ende ist. | |
| ## Unterhaltung statt Erkenntnisse | |
| Die Folgen sind gut erzählt und korrekt recherchiert – mit dem Fokus auf | |
| Nacherzählung des Geschehenen bleibt er aber in erste Linie | |
| Unterhaltungsformat, statt neue Rechercheerkenntnisse zu liefern. In einem | |
| noch laufenden Verfahren ist das auch schwer möglich. | |
| Deshalb wäre es spannend gewesen, tiefer in die Gerichtsprozesse | |
| einzusteigen und Aussagen, Zeug*innen und Beweise genauer zu beleuchten. | |
| Vielleicht hätte man dafür noch ein paar Monate bis zum Prozessende warten | |
| sollen. Mehr Zeit, mehr Folgen, mehr Gesprächspartner*innen und die | |
| gleichen Autorinnen – das hätte den Podcast noch besser gemacht. | |
| Die taz hat die ersten vier Folgen freundlicherweise zur Verfügung gestellt | |
| bekommen. Folge fünf ist in dieser Rezension noch nicht eingeschlossen. | |
| Darin soll die Frage der Legitimation von Gewalt gegen Neonazis diskutiert | |
| werden. | |
| 15 Feb 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Anklage-gegen-Lina-E/!5771521 | |
| [2] /Prozess-um-Lina-E-in-Leipzig/!5867327 | |
| [3] /Linksextremismus-in-Niedersachsen/!5862525 | |
| [4] http://www.ordnungmachtextremismus.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Sarah Ulrich | |
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