| # taz.de -- Willy Brandts Kniefall vor 50 Jahren: Der zensierte Antifaschist | |
| > Die Geste des Kanzlers vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos ist | |
| > berühmt. Doch Polens Bürger erfuhren damals nichts von dem Akt der | |
| > Versöhnung. | |
| Bild: Willy Brandt am 7.12.1970 vor dem Denkmal für die Opfer des Aufstands im… | |
| Im protokollarisch festgelegten Tagesablauf des 7. Dezember 1970 in | |
| Warschau sind zwei Kranzniederlegungen und die Unterzeichnung des „Vertrags | |
| zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über | |
| die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“ | |
| vorgesehen. | |
| Auf der Fahrt von [1][Schloss Wilanow] ins Zentrum Warschaus kann sich | |
| Brandt ein Bild der Stadt machen. Schon kurz nach Kriegsbeginn am 1. | |
| September 1939 hatten die deutschen Besatzer Warschau in drei Wohnbezirke | |
| eingeteilt. Zuerst fährt Brandt durch den ehemaligen deutschen Wohnbezirk | |
| mit SS-Kasernen, Polizei- und Gestapozentrale. Dort war fast nichts | |
| zerstört worden. Dann geht es durch den ehemaligen polnischen Wohnbezirk in | |
| der Innenstadt mit den zerstörten und bis 1970 wiederaufgebauten | |
| Prachtstraßen Neue Welt und Krakauer Vorstadtstraße, um schließlich in den | |
| ehemaligen jüdischen Wohnbezirk einzubiegen, wo 1970 noch immer Ruinen aus | |
| dem verkohlten Ghetto zwischen hässlichen Neubauten standen. | |
| „Dass Brandt spontan vor dem Denkmal der Helden des [2][Warschauer | |
| Ghettoaufstands] niederkniete, hat mich damals tief berührt“, bekennt | |
| Marian Turski. „Eigentlich sollte der deutsche Kanzler dort nur einen Kranz | |
| niederlegen“, erklärt der heute 94-jährige Holocaust-Überlebende. „Doch | |
| dann ging Brandt symbolisch vor den Millionen jüdischer Opfer der Nazis in | |
| die Knie und bat stumm um Vergebung.“ | |
| Doch diese Versöhnungsgeste, so Turski, sei in Polen ohne jeden Nachhall | |
| verpufft: „Die meisten Polen haben nie davon erfahren. Die Zensur gab das | |
| Bilderverbot ‚Kein kniender Kanzler!‘ heraus, in den Medien erschienen nur | |
| kurze Artikel, und dann begannen auch schon die Arbeiterunruhen an der | |
| Ostseeküste, die am Ende zum Sturz der Regierung führten. Der Besuch | |
| Brandts war kein Thema mehr.“ | |
| ## Der 7. Dezember 1970 | |
| Der 7. Dezember 1970 ist ein nasskalter Tag, der Himmel grau verhangen. Wie | |
| immer kreisen über dem riesigen Platz mit dem einsam aufragenden Denkmal | |
| der Helden des Ghettoaufstands von 1943 die Krähen. Hier hatten am 19. | |
| April 1943 die letzten jüdischen Bewohner des Warschauer Ghettos ihre | |
| deutschen Peiniger mit selbst gebauten Molotowcocktails, Granaten und | |
| Pistolen angegriffen. Hier tobten einen knappen Monat lang die heftigsten | |
| Kämpfe, bis schließlich SS-General Jürgen Stroop am 16. Mai voller | |
| Genugtuung nach Berlin meldete: „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in | |
| Warschau mehr.“ | |
| Am 7. Dezember 1970 warten vor dem Denkmal bereits zahlreiche Reporter und | |
| etliche Neugierige auf den deutschen Kanzler. In der Luft liegt der | |
| intensive Geruch von billigem Holz- und Kohlehausbrand. Als Brandt, der | |
| Minuten zuvor am Grabmal des unbekannten Soldaten einen Kranz niedergelegt | |
| hat, an der Zamenhof-Straße aussteigt, muss er die ungeheure Leere des | |
| riesigen Platzes erkennen. Vor dem Krieg lebten in Warschau über 350.000 | |
| Juden und Jüdinnen. Es war nach New York die zweitgrößte jüdische | |
| Gemeinschaft weltweit. | |
| Ein Soldat trägt den Kranz die Stufen zum Denkmal hinauf. Die Tafel unter | |
| den Bronzefiguren kann Brandt nicht lesen, denn die Aufschrift ist nur in | |
| Polnisch, Jiddisch und Hebräisch verfasst. „Das jüdische Volk – seinen | |
| Kämpfern und Märtyrern“ steht dort. Als Brandt die Schleife am Kranz | |
| zurechtrückt, tritt er ein paar Schritte zurück und sinkt auf der untersten | |
| Stufe des Denkmals auf die Knie, legt die Hände zum Gedenken zusammen und | |
| senkt den Blick. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last | |
| der Millionen Ermordeten tat ich das, was Menschen tun, wenn die Sprache | |
| versagt“, schreibt er in seinen Erinnerungen. Und auch: „Am Tage des | |
| Geschehens sprach mich keiner meiner Gastgeber hierauf an. Ich schloss | |
| daraus, dass auch andere diesen Teil der Geschichte noch nicht verarbeitet | |
| hatten.“ | |
| [3][Aleksander Kwaśniewski,] Polens Präsident in den Jahren 1995 bis 2005, | |
| war damals 16 Jahre alt. „Ich kann mich ganz genau an den Besuch von Willy | |
| Brandt erinnern“, erzählt er. „Denn damals lebte ich noch mit meinen Eltern | |
| in Bialogard, dem früher deutschen Belgard in Westpommern. Wir hatten große | |
| Angst, dass die Deutschen eines Tages zurückkommen und uns aus unserer | |
| neuen Heimat vertreiben könnten.“ | |
| Die Familie hört regelmäßig den US-Sender [4][Radio Free Europe], ist also | |
| nicht auf die zensierte Parteipresse angewiesen. „Für uns war der Vertrag | |
| über die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als neue Westgrenze Polens am | |
| wichtigsten“, sagt Kwaśniewski und streicht sich mit den Hand über den | |
| grauweißen Bart, der das Gesicht des heute 66-Jährigen umrahmt. „Dann kam | |
| die Nachricht vom Kniefall Brandts in Warschau. Das war schon sehr | |
| spektakulär und emotional!“, bekennt er. | |
| Zumindest in seiner Familie hätten alle gewusst, dass Brandt Antifaschist | |
| war und den Krieg im Widerstand in Norwegen und Schweden verbracht hatte, | |
| ihn persönlich also keine Schuld traf. „Er musste nicht knien“, so | |
| Kwaśniewski heute. „Um so bedeutsamer schien uns die Geste. Allerdings | |
| hatten wir damals den Eindruck, dass Brandt uns alle um Vergebung bitten | |
| wollte – Polen, Juden, Europäer – für das gesamte Leid, das die Deutschen | |
| den Menschen im Zweiten Weltkrieg angetan hatten.“ | |
| Eine wirkliche Diskussion darüber, wen Brandt 1970 in Warschau eigentlich | |
| um Vergebung gebeten hatte, kam erst nach der politischen Wende 1989 und | |
| dem Wegfall der Zensur in Polen auf. Insbesondere Polens katholische Kirche | |
| sieht die Versöhnungsgeste Brandts gern in der Nachfolge des | |
| Bischofsbriefwechsels von 1965. „Wir vergeben und bitten um Vergebung“, | |
| schrieb das Episkopat in seinem Einladungsbrief zur 1.000-Jahr-Feier der | |
| katholischen Kirche Polens an die deutschen Bischöfe. | |
| Die kommunistische Partei war empört über das Vorpreschen der Geistlichen. | |
| Denn in der offiziellen Propaganda musste Westdeutschland als Hauptfeind | |
| Polens herhalten, der angeblich nur auf den richtigen Augenblick wartete, | |
| um Polen erneut zu überfallen und die ehemaligen deutschen Ostgebiete an | |
| sich zu reißen. Die Partei warf Polens katholischen Bischöfen Landesverrat | |
| vor und rief Arbeiterkollektive zu Protesten auf. | |
| Die deutschen Bischöfe nahmen damals zwar die Einladung an, reagierten aber | |
| eher kühl auf den eigentlichen Inhalt des Briefs. Denn dieser kannte zwar | |
| zum ersten Mal das Leid der deutschen Vertriebenen an, setzte aber die | |
| Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als selbstverständlich voraus. Im | |
| Kniefall Willy Brandts erkannte Primas Stefan Kardinal Wyszynski die von | |
| ihm ersehnte Antwort auf den polnischen Bischofsbrief von 1965, ausgeführt | |
| zwar von einem protestantisch geprägten Sozialdemokraten, aber doch im | |
| christlichen Geiste der Versöhnung. | |
| ## Das Ghetto-Denkmal | |
| Überlebende des Holocaust hatten schon 1945 inmitten der Ruinen des Ghettos | |
| ein erstes bescheidenes Denkmal zu Ehren der von den Deutschen ermordeten | |
| Juden errichtet. Drei Jahre später, zum fünften Jahrestag des Aufstands, | |
| enthüllten sie wenige Meter entfernt das elf Meter hohe [5][Denkmal der | |
| Helden des Warschauer Ghettoaufstands]. Die grauen Labradorit-Steine aus | |
| Schweden hatte noch Hitlers Baumeister Albert Speer für einen Triumphbogen | |
| bestellt. Polens Juden aber, die nach 1945 die Steine geschenkt bekamen, | |
| türmten sie nun so auf, dass sie an die Klagemauer in Jerusalem erinnerten. | |
| Der Bildhauer [6][Natan Rappaport], der den Zweiten Krieg in Belarus, | |
| Kasachstan und Sibirien überlebt hatte, schuf in Paris die überlebensgroßen | |
| Bronzefiguren mit dem jugendlichen Anführer des Aufstands, Mordechai | |
| Anielewicz, in der Mitte. Er gab allen Kämpfern Waffen in die Hand. Die | |
| junge Frau hingegen, die ein Kind vor den Flammen zu retten versucht, gibt | |
| die Interpretation des Denkmals vor: Im Aufstand kämpften Juden und | |
| Jüdinnen um Leben, Freiheit und Menschenwürde. Sie ist dem berühmten Bild | |
| „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugene Delacroix nachempfunden. Als | |
| wichtiges religiöses Symbol stellte Rappaport den Aufständischen rechts und | |
| links jeweils eine steinerne Menora mit Löwen zur Seite. Auf den | |
| Willy-Brandt-Fotos, die später um die Welt gingen, sind die siebenarmigen | |
| Leuchter allerdings nicht zu sehen, da hier die Fotografen standen. | |
| Heute, 50 Jahre nach Brandts Kniefall, sieht der Platz um das Denkmal | |
| völlig anders aus: In seiner Mitte erhebt sich das vielfach preisgekrönte | |
| Geschichtsmuseum der polnischen Juden, [7][POLIN]. Davor steht nach wie vor | |
| zentral das Mahnmal. Schräg hinter dem Museum auf dem kleinen | |
| Willy-Brandt-Platz befindet sich ein kleines Denkmal aus roten | |
| Ziegelsteinen und einer Bronzetafel. Es erinnert seit dem Jahr 2000 an den | |
| Kniefall Willy Brandts. | |
| ## Die Erinnerung verblasst | |
| „Wenn mein Vater mir das Denkmal nicht gezeigt hätte, wüsste ich | |
| wahrscheinlich bis heute nichts vom Kniefall Willy Brandts“, sagt Miriam | |
| Bartosik, die bis vor Kurzem auf die jüdische Lauder-Morasha-Schule in | |
| Warschau gegangen ist. „Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in der | |
| Schule über die Geste Brandts gesprochen hätten“, sagt die 18-Jährige. | |
| „Auch ein Foto habe ich nie gesehen. Gut, dass es das Denkmal gibt, auf dem | |
| der kniende Brandt und die Menora zu sehen sind.“ | |
| Auch die Germanistin und Stadtführerin Anita Borkowska kann sich an keine | |
| Schulstunde über Versöhnungsbitten oder -gesten von deutschen Politikern | |
| erinnern. „Wenn ich heute polnischen Gruppen Warschau zeige und manchmal | |
| auch das Brandt-Denkmal, sind immer alle ganz erstaunt – über das Denkmal, | |
| über den Platz und auch über die Geste Willy Brandts“, erzählt die | |
| 34-Jährige. | |
| Krzysztof Ruchniewicz, der Direktor des Willy-Brandt-Zentrums in | |
| Wrocław/Breslau, beklagt, dass der Jahrestag offiziell nur auf | |
| Staatssekretärsebene stattfindet. „Und wenn man hört, wie Politiker der | |
| regierenden Nationalpopulisten heute über die Deutschen herziehen“, so | |
| Ruchniewicz bedauernd, „kann man sich fast in die Zeit der Volksrepublik | |
| und ihrer Propaganda zurückversetzt fühlen. Versöhnung sieht dann doch | |
| etwas anders aus.“ | |
| 7 Dec 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.wilanow-palac.pl/ffnungszeiten.html | |
| [2] /Der-Warschauer-Ghettoaufstand/!1620312/ | |
| [3] /Eine-knappe-Mehrheit-der-Polen-hat-keine-Angst-vor-dem-Geist-der-Erben-der… | |
| [4] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/ein-kind-des-kalten-krieges-… | |
| [5] https://www.memorialmuseums.org/deu/denkmaeler/view/61/Ghetto-Heroes'-Memor… | |
| [6] https://artsandculture.google.com/entity/nathan-rappaport/m04q0cm4?hl=de | |
| [7] https://www.polin.pl/en | |
| ## AUTOREN | |
| Gabriele Lesser | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Willy Brandt | |
| Polen | |
| IG | |
| Deutsche Geschichte | |
| Polen | |
| Polen | |
| Holocaust | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Willy Brandt | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Veranstalter über Willy-Brandt-Konzert: „Letztlich geht es um Frieden“ | |
| Vor 52 Jahren fiel Willy Brandt auf die Knie, um der Helden vom Warschauer | |
| Ghetto zu gedenken. Ein Konzert in Lübeck erinnert an die politische Geste. | |
| Abtreibungsverbot in Polen: Kaczyńskis Kulturkampf | |
| Der Liberalismus der EU ist Staatssozialismus in neuem Gewand – davon sind | |
| Polens ultrarechte Milieus überzeugt. Also polarisieren sie die Debatten. | |
| Prozess um Holocaust-Forscher in Polen: Sie müssen sich entschuldigen | |
| Zwei renommierte Professor:innen hätten das Ansehen ihres Onkels | |
| beschädigt, so die Klägerin. Das Urteil ist wegweisend für die | |
| Holocaustforschung in Polen. | |
| Polen und der Holocaust: Das Recht auf Nationalstolz | |
| Die Nichte eines Dorfschulzen verklagt zwei renommierte Holocaust-Forscher. | |
| Sie hätten den Ruf ihres Onkels und den Polens beschädigt. | |
| Entschuldigungen sind politisch: Die Vermessenheit der Welt | |
| Entschuldigungen haben in Deutschland oft den Charakter von Ausreden. Dabei | |
| sollten sie dazu dienen, Schuld einzugestehen und daraus zu lernen. | |
| Willy Brandts Kniefall vor 50 Jahren: „Volksverräter“ und Idol | |
| Vom „Ausverkauf“ sprachen Rechte angesichts der neuen Ostpolitik. Brandts | |
| Geste in Warschau polarisierte die Bundesrepublik wie nie zuvor. | |
| Geplantes Exilmuseum in Berlin: Späte Wiedereinbürgerung | |
| Hunderttausende Menschen mussten ab 1933 Deutschland verlassen. An der | |
| Ruine des Anhalter Bahnhofs in Berlin soll ein Museum an sie erinnern. | |
| Klimapolitik seit Willy Brandt: Mehr Mut wagen! | |
| 50 Jahre Umwelt-Sofortprogramm der Regierung Brandt/ Genscher: Eine Lehre | |
| für den Klimaschutz von heute. |