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# taz.de -- Abtreibungsverbot in Polen: Kaczyńskis Kulturkampf
> Der Liberalismus der EU ist Staatssozialismus in neuem Gewand – davon
> sind Polens ultrarechte Milieus überzeugt. Also polarisieren sie die
> Debatten.
Bild: Protest gegen Polizeigewalt nach einer Demonstration gegen Polens strenge…
Mit dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 27. Januar ist
nun ein so gut wie totales Abtreibungsverbot zur Realität geworden.
Unmittelbar darauf kam es zu neuen Massendemonstrationen, die als
[1][größte politische Mobilisierung seit der Systemtransformation von 1989]
gelten.
Das Abtreibungsverbot ist Ergebnis eines viele Jahre andauernden Kampfes
ultrakonservativer Milieus um kulturelle und politische Macht. Dank der
Unterstützung durch die Regierungspartei PiS (deren Name in bitterer Ironie
zu Deutsch „Recht und Gerechtigkeit“ lautet) konnten sie in den letzten
Jahren zahlreiche Erfolge verbuchen.
Ganz überraschen sollte uns das Urteil allerdings nicht. Obwohl sich das
Gesetz in seiner rechtlich verbrämten Grausamkeit primär gegen Frauen und
ihren Anspruch auf gleichen Zugang zu einer sicheren medizinischen
Grundversorgung richtet, geht seine Bedeutung hierüber noch hinaus.
Das politische Projekt von Jarosław Kaczyński, PiS-Vorsitzender und
Strippenzieher der Allianz Vereinigte Rechte, verfolgt ein viel weiter
gehendes Ziel: die Zerstörung der zum Teil real existierenden, zum Teil
imaginierten liberalen Ordnung Polens nach 1989.
## Kommunismus in neuem Gewand
In Kaczyńskis Vorstellung stehen hinter dieser Ordnung [2][kommunistische
Kräfte], die auch nach dem Ende ihrer Einparteienherrschaft den
Systemwandel maßgeblich bestimmt haben. Durch eine Allianz mit westlich
orientierten liberalen Strömungen hätten sich diese Kräfte dauerhaft
politischen und sozialen Einfluss sichern können. Der antikommunistische
Kampf muss konsequenterweise kontroverse soziale und rechtliche Reformen
ebenso umfassen wie einen radikalen und gegen den Liberalismus gewendeten
Kulturkampf.
Im entsprechenden ideologischen Koordinatensystem erscheint die mehr oder
weniger mit Deutschland gleichgesetzte Europäische Union als Inkarnation
eines dekadenten Liberalismus, der nicht nur mit moralischem Relativismus
und Laisser-faire, sondern auch mit der historischen Fortwirkung eines
Unterdrückungsverhältnisses assoziiert wird, in dem Polen das ewige Opfer
des deutschen Neoimperialismus ist.
Was nach einer postkolonialen und antihegemonialen Kritik von rechts an der
geopolitischen Ordnung Europas klingt, entpuppt sich als eklektisches
Weltbild, als explosives Gemisch aus einer zwanghaften Fixierung auf die
Geister des Kommunismus, der zum Teil berechtigten Angst vor ruinösen
neoliberalen Beutezügen aus dem Westen, einem im 19. Jahrhundert
verankerten romantischen Nationalismus und einem kaum eingestandenen Wunsch
nach größtmöglicher Nähe zum Westen.
Auch wenn Kaczyński sich selbst aus dem Rampenlicht zu halten versucht, ist
seine auf öffentliche Skandalisierung angelegte Divide-et-impera-Strategie
eines der zentralen Werkzeuge im Arsenal der Regierung, um von ihrer
[3][alles andere als glänzenden Bilanz] abzulenken.
## Strategie der Polarisierung
Diese Strategie wird stets von Neuem recycelt, von Kaczyńskis öffentlicher
Diffamierung der Opposition über die Demontage von Dariusz Stola als
Direktor des Museums der Geschichte der polnischen Juden bis zu den nicht
nur symbolischen Angriffen auf Geflüchtete und die LGBTQ+-Gemeinschaft.
Die Strategie der Polarisierung ist zum Modus Operandi der polnischen
Regierung geworden und hat die Sozialisierung einer ganzen neuen
politischen Klasse geprägt. Damit droht auch die Zerstörung des noch nicht
unter Kontrolle der Regierung stehenden Rests an politischer
Öffentlichkeit.
In diesem Kontext hat sich die Regierung bewusst dagegen entschieden, der
Polarisierung entgegenzuwirken und die Desinformation zu bekämpfen. Ganz im
Gegenteil: Sie treibt diese Entwicklungen mit ihrem Abtreibungsverbot und
der gegen die regierungsunabhängigen Medien gerichteten Steuer auf
Werbeeinnahmen weiter an.
Vielleicht hat die Regierung erkannt, dass es auch um ihr eigenes Überleben
geht. Die Pandemie hat ihre Unfähigkeit zumindest jenen vor Augen geführt,
die nicht allein den von der Regierung kontrollierten Medien folgen, und
für eine Reihe handfester Skandale gesorgt. Einer Partei, die über eine
fast uneingeschränkte Kontrolle des Staatsapparats, der finanziellen
Ressourcen und der medialen Öffentlichkeit verfügt, könnte dies zum
existenziellen Problem werden. Dass [4][die letzte Präsidentschaftswahl
2020] denkbar knapp ausfiel, ist hierfür symptomatisch.
## PiS spielt mit dem Feuer
Das Abtreibungsverbot könnte sich als mehr entpuppen als der Ansporn einer
politischen Massenmobilisierung. Es könnte zum Weckruf für Kaczyńskis
Anhänger und vielleicht sogar ihn selbst werden, wenn diese den Ernst der
Lage endlich zu erkennen gezwungen sind. Es steht viel auf dem Spiel für
die polnische Gesellschaft, und auch PiS-Anhängern wird langsam deutlich,
dass das Spiel mit dem Feuer ernsthafte Konsequenzen hat. Es wäre nicht das
erste Mal, dass eine dogmatische Macht die Wut und den politischen
Durchhaltewillen der Gesellschaft unterschätzt.
Wie viele im Ausland lebende polnische Frauen habe ich am Abend der
Urteilsverkündung eine Mischung aus tiefer Verzweiflung, Wut, Stolz und
Erleichterung empfunden. Erleichterung, nicht in einem Land leben zu
müssen, in dem meine Zukunft und die meiner Tochter wie die von Millionen
Frauen aufgrund einer ultrakonservativen und revanchistischen Regierung mit
Angst besetzt wäre; Verzweiflung und Wut angesichts des tiefen Unrechts,
dass all jenen in Polen lebenden Frauen und Mädchen angetan wird, die es
sich nicht leisten können, zu einer sicheren Abtreibung ins Ausland zu
reisen; aber auch Stolz angesichts der Tausenden von Frauen und Männern,
die sich nicht einschüchtern lassen.
Paradoxerweise bezieht die Protestbewegung ihre Energie gerade aus der
doppelten Grausamkeit der Politik der Regierung, die Frauen zu ungewollten
Schwangerschaften auch im Fall von Fehlbildungen verdammt und damit die
soziale Reproduktion einem Klima der Angst unterwirft.
16 Feb 2021
## LINKS
[1] /Abtreibungsverbot-in-Polen/!5743969
[2] /Praesidentschaftswahl-in-Polen/!5693171
[3] /Polinnen-rebellieren-gegen-Regierung/!5720697
[4] /Andrzej-Duda-gewinnt-in-Polen-Stichwahl/!5694762
## AUTOREN
Thuc Linh Nguyen Vu
## TAGS
Polen
PiS
Jarosław Kaczyński
Frauenbewegung
Schwerpunkt Abtreibung
Kulturkampf
Polen
Feminismus
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Holocaust
Kolumne Stadtgespräch
Lesestück Recherche und Reportage
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