# taz.de -- Pol*innen rebellieren gegen Regierung: Schnauze voll in Warschau | |
> Erst brachte die Verschärfung des Abtreibungsrechts durch das | |
> Verfassungsgericht die Pol*innen in Rage. Dann kamen neue | |
> Corona-Einschränkungen hinzu. | |
Bild: Nächtlicher Protest in Krakau gegen die Verschärfung des Abtreibungsrec… | |
WARSCHAU taz | Ambulanzen rasen mit ohrenbetäubendem Sirenengeheul durch | |
Warschau. „Morgen liegen wir da drin“, regt sich eine rüstige alte Polin | |
auf und geht auf wartende Passanten am Zebrastreifen zu. „Herzinfarkt, | |
Hirnschlag, Corona – völlig egal! Die Spitäler sind schon voll. Kein Platz | |
mehr für uns!“, ruft sie. Doch nur ein junger Mann mit Glatze und | |
Tätowierungen am Hals reagiert. Er zieht kurz seine Gesichtsmaske aufs Kinn | |
und brüllt mit hochrotem Gesicht: „Hau bloß ab! Nach Hause, los! Du hast | |
auf der Straße nichts zu suchen!“ Die alte Frau reckt ihm den Stinkefinger | |
entgegen. | |
Am Freitag hatte Premier Mateusz Morawiecki ganz Polen zur Hochrisikozone | |
erklärt. Kinder sollen nur noch bis zur dritten Klasse in die Schule gehen, | |
Restaurants und Pubs sind geschlossen, Hochzeiten sind verboten, über | |
70-Jährige dürfen nicht mehr aus dem Haus. [1][Nicht nur für sie, auch für | |
viele andere sind die Verbote und Einschränkungen kaum noch zu ertragen.] | |
Wut und Aggression nehmen zu. | |
„Verpisst euch!“, schreien Metro-Passagiere die Polizisten an, die von | |
jedem die Ausweispapiere verlangen, der die Gesichtsmaske nicht | |
vorschriftsmäßig trägt. Am Ausgang der Heiligkreuz-Station ist die | |
Kontrolle besonders scharf. Es hagelt Bußgelder und Strafanzeigen. Eine | |
junge Frau mit langen blonden Haaren, die sich die Maske zu spät über die | |
Nase gezogen hat, kramt verärgert nach ihren Ausweispapieren. | |
Sie weist die Polizisten auf den Obdachlosen auf einer Parkbank hin: „Warum | |
kümmern Sie sich nicht um den da? Wo ist seine Maske? Ach, er hat gar | |
keine? Sehen Sie die schwärende Wunde an seinem Bein und die Urinlache | |
unter der Bank?“ Doch die Polizisten bleiben ungerührt. Einer sagt: „Um die | |
Penner kümmert sich die Stadtpolizei. Wir unterstehen dem | |
Innenministerium.“ | |
## Nächtliche Demos vor Kaczyńskis Residenz | |
Andere Metro-Passagiere, die sich um die junge Frau geschart haben, | |
beginnen laut zu murren. Alle tragen die vorgeschriebenen Masken. Einer | |
ruft: „Bringen Sie den Mann weg!“. Immer mehr stimmen ein: „Bringen sie d… | |
Mann weg!“ und schieben als geschlossene Masse die Polizisten zur Bank mit | |
dem obdachlosen Kranken. Dann strebt die Masse wieder auseinander. Jeder | |
geht seines Weges. | |
Nachts bricht sich die Wut auf die seit 2015 regierenden Nationalpopulisten | |
von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) noch heftiger Bahn. Trotz des | |
Corona-Demonstrationsverbots – erlaubt sind nur noch Ansammlungen von fünf | |
Personen – ziehen Nacht für Nacht Zehntausende von Demonstranten vor die | |
Häuser von Parteichef Jarosław Kaczyński von der Partei Recht und | |
Gerechtigkeit (PiS) und Regierungschef Morawiecki sowie die PiS-Zentrale. | |
Am Donnerstag hatte das von der PiS kontrollierte Verfassungsgericht einen | |
Absatz des Familienplanungsgesetzes von 1993 [2][für verfassungswidrig | |
erklärt] und damit das ohnehin sehr restriktive Abtreibungsrecht Polens | |
weiter verschärft. | |
Im Falle eines schwer missgebildeten Fötus dürfen Polinnen in Zukunft nicht | |
mehr selbst entscheiden, ob sie die Schwangerschaft austragen wollen. Sie | |
müssen es. Die „Würde des ungeborenen Kindes“ sei höher anzusetzen als d… | |
„psychische Komfort“ einer Frau, argumentierte der Antragsteller von der | |
PiS. | |
## Corona-Lazarett im Nationalstadion | |
Am Freitag gab es mit fast 16.000 Neuinfizierten einen neuenCorona-Rekord | |
in Polen. Und nur einen Tag später verkündete Morawiecki dann die neuen | |
Verbote: Kinder bis zur dritten Klasse sollen in die Schule gehen, alle | |
anderen online lernen, über 70-Jährige müssen zuhause bleiben, alle | |
Restaurants und Pubs sind geschlossen, Hochzeiten sind verboten, usw. | |
Im Staatsfernsehen, dem ehemaligen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, gab es | |
dazu Erfolgsmeldungen wie aus der Zeit des Realsozialismus. So eilte | |
[3][Präsident Andrzej Duda] mitstolzgeschwellter Brust durch das neue | |
Feldlazarett im Nationalstadion, allerdings vorbei an dutzenden | |
Uralt-Betten und modrigen Matratzen. | |
Als Duda dann über Twitter meldete, dass er Corona-positiv getestet worden | |
sei, ließ der Spott nicht lange auf sich warten: „Gute Genesung in | |
Nationalstadion“ wünschten ihm viele Polen. | |
Die Architektin Maria N. hat eine brennende Grabeskerze in der Hand. Sie | |
will sie vor dem Haus von Kaczyński abstellen. Langsam geht sie mit ihren | |
Freundinnen am Invalidenplatz in Zoliborz „spazieren“ – das ist in | |
Coronazeiten noch erlaubt. „Wie kann er uns das antun? Er hat keine | |
Familie, keine Kinder. Uns aber liefert er der Hölle aus. Mit welchem | |
Recht? | |
## Kaczyński entmündigt Polens Frauen | |
Zwar wollte Kaczyński in der Vergangenheit das heikle Thema Abtreibung | |
nicht erneut anpacken, doch nun kam ihm der Antrag eines PiS-Hardliners an | |
das Verfassungsgericht zupass. Kaumjemand in Polen zweifelt daran, dass er | |
es war, der auf die Präsidentin des Verfassungsgerichts einwirkte, um den | |
Verhandlungstermin vorzuziehen. | |
„Die Kerze ist für mein Kind“, sagt Maria N. „Ich habe es verloren. Die | |
Natur hat für mich entschieden. Aber ich stand vor der Entscheidung, ob ich | |
das Kind bekommen solle oder nicht.“ | |
Ihre Freundin Zuzanna K. verteilt Flugblätter – auch an die Polizisten, die | |
das Haus von Kaczyński weiträumig absperren. Zu sehen ist ein | |
gynäkologischer Stuhl, die Beine einer Frau und, anstelle des Arztes, | |
Kaczyński. Er sagt: „In Geburtsfragen habt ihr nichts mehr zu sagen.“ | |
Zuzanna K. nickt: „Wir haben sie wieder in Polen – die Folter!“ | |
25 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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