| # taz.de -- Polen und der Holocaust: Das Recht auf Nationalstolz | |
| > Die Nichte eines Dorfschulzen verklagt zwei renommierte | |
| > Holocaust-Forscher. Sie hätten den Ruf ihres Onkels und den Polens | |
| > beschädigt. | |
| Bild: Eine historische Straßenbahn mit Davidstern fährt leer zum Holocaust-Ge… | |
| Eigentlich geht es im Prozess vor dem Warschauer Bezirksgericht nur um die | |
| Ehre eines polnischen Dorfschulzen im Zweiten Weltkrieg. War er ein | |
| gefeierter Kriegsheld und Judenretter oder auch ein Nazi-Kollaborateur, der | |
| Juden an die deutschen Besatzer verriet? | |
| Doch nun erklären weltweit immer mehr namhafte | |
| Holocaust-Forschungsinstitute, -Gedenkstätten und -Museen ihre Solidarität | |
| mit den angeklagten Historikern Barbara Engelking [1][und Jan Grabowski.] | |
| Denn auf dem Spiel steht viel mehr. | |
| Mit dem Urteil am nächsten Dienstag werden die Richter entscheiden, ob in | |
| Polen künftig noch frei geforscht werden kann – auch zu bisher tabuisierten | |
| Themen wie der Nazi-Kollaboration und dem Judenverrat – oder ob die Zensur | |
| des „guten Rufs Polens“ dies verhindern wird. | |
| Im Juni 2019, ein Jahr nachdem die renommierten Holocaust-Forscher | |
| Engelking und Grabowski das 1.600 Seiten starke Werk „Dalej jest noc. Losy | |
| Zydów w wybranych powiatach okupowanej Polski“ (Und immer noch ist Nacht. | |
| Die Schicksale von Juden in ausgewählten Landkreisen des besetzten Polens) | |
| zu jüdischen Überlebensstrategien in der ostpolnischen Provinz | |
| herausgegeben hatten, fanden sie in ihren Briefkästen eine Klageschrift. | |
| Die heute 81-jährige Nichte des bereits verstorbenen Dorfschulzen Edward | |
| Malinowski aus Malinowo fühlte sich durch eine kurze Passage und zwei | |
| Fußnoten in ihrem guten Ruf beschädigt. Angeblich habe sich Engelking, die | |
| die Situation von Juden im Landkreis Bielski in der Wojewodschaft | |
| Podlachien erforschte, einen Teil der Biografie von Malinowski „erfunden“, | |
| wie es in der Klageschrift heißt, und zwar – so wörtlich – „für den Zw… | |
| der Buchpublikation ‚Und immer noch ist Nacht‘“. | |
| ## Judenretter, nicht Judenverräter | |
| Der Vorwurf: Ihr Onkel sei ein Judenretter gewesen, nicht aber ein | |
| Judenverräter und Nazi-Kollaborateur. Filomena Leszczynska fordert von | |
| Engelking und Grabowski nun eine vorformulierte öffentliche Entschuldigung | |
| mit dem Schuldeingeständnis der bewussten Lüge und umgerechnet rund 23.000 | |
| Euro Schadenersatz für den Angriff auf den guten Ruf als Familienangehörige | |
| von Edward Malinowski. | |
| Durch die Verleumdung ihrer Onkels sei aber auch die polnische Nation als | |
| Ganzes beleidigt worden, heißt es in der Klageschrift weiter. Sie selbst, | |
| Filomena Leszczynska, wie auch die gesamte polnische Nation hätten ein | |
| „Recht auf ihre nationale Identität und ihren Nationalstolz“, die unter | |
| anderem darin bestünden, „Mitglied einer [2][Nation zu sein, die im Zweiten | |
| Weltkrieg Juden gerettet] habe“. | |
| Keine Skrupel, die beiden Forscher vorzuverurteilen, haben rechte Medien | |
| und Internetportale, das Staatsfernsehen TVP und Stiftungen wie die „Reduta | |
| – Festung des guten Namens“. Sie wie zahlreiche Internet-User hetzen seit | |
| Jahren gegen Wissenschaftler und Journalisten, die mit dem | |
| Holocaust-Forschungszentrum rund um die Soziologin Barbara Engelking in | |
| Warschau verbunden sind. Sie seien „Geschichtsfälscher“, „Volksverräter… | |
| „linkes Lumpenpack“ und Befürworter einer „polnischen Schampädagogik“. | |
| Was die Rechten so sehr ärgert, ist, dass die beiden gleich mehrere | |
| Geschichtsmythen zerstören. Die Aufteilung der Gesellschaft in „My i Oni„ | |
| (Wir, die Guten, und die, die Bösen), die noch aus dem 19. Jahrhundert | |
| stammt, als Polen preußische, russische und österreichische Staatsbürger | |
| waren, half der Nation zwar, die staatenlose Zeit der Teilungen des Landes | |
| zu überdauern, hatte aber mit den historischen Fakten nicht viel gemein. | |
| Dazu gehören Mythen wie der vom [3][polnischen „Christus der Nationen“,] | |
| der angeblich eines Tages von den Toten auferstehen und anderen | |
| geknechteten Nationen die Freiheit zurückbringen würde, sowie der von | |
| vielen Polen über Jahrzehnte gepflegte Mythos von der eigenen Identität als | |
| „ewigen Helden und Opfern“ der Geschichte. | |
| ## Niemand bestreitet die deutsche Verantwortung | |
| Als besonders schmerzlich erwies sich für viele die durch historische | |
| Quellen belegte Tatsache, dass es unter den Polen auch Täter und sogar | |
| Nazi-Kollaborateure gab, ebenso wie unter den Ukrainern, Russen, Franzosen, | |
| Litauern, Letten und anderen Nationen. Die Pogrome, die katholische Polen | |
| 1941 an ihren jüdischen Nachbarn verübten, sind ein besonders schwarzes | |
| Kapitel in der Geschichte Polens. Zugleich bestreitet niemand, dass es | |
| Deutsche und Österreicher waren, die den Massenmord an sechs Millionen | |
| Juden Europas verübten. | |
| Im Buch „Dalej jest noc“ schildern die Historiker am Beispiel von neun | |
| Landkreisen und Zehntausenden Einzelschicksalen, welche Überlebenschancen | |
| Juden und Jüdinnen hatten, denen es gelungen war, aus Gettos und KZs zu | |
| fliehen. | |
| Manche katholisch-polnische Bauernfamilie bot Schutz und Hilfe an, doch | |
| viele Landsleute der polnischen Juden lehnten jegliche Hilfe aus Angst vor | |
| den deutschen Besatzern und polnischen „Schmalzowniks“ ab. Und diejenigen, | |
| die Juden (und ihre Beschützer) nur gegen Schutzgeld nicht an die Gestapo | |
| oder SS verrieten, taten dies dann doch, sobald kein Geld mehr floss. | |
| Die Textstelle im Buch „Dalej jest noc“, über dessen Wahrheitsgehalt nun | |
| das Warschauer Bezirksgericht entscheiden soll, lautet: „Estera Drogicka | |
| (aus dem Haus Siemiatycka), die Papiere von einer Belarussin gekauft hatte, | |
| entschied sich nach dem Verlust ihrer Familie (Fußnote 396), nach Preußen | |
| zu fahren, um dort zu arbeiten. | |
| Dabei half ihr der Dorfschulze von Malinowo, Edward Malinowski (der sie bei | |
| der Gelegenheit bestahl). Im Dezember 1942 kam sie nach Rastenburg (heute | |
| Kętrzyn), wo sie bei der deutschen Familie Fittkau als Haushaltshilfe | |
| arbeitete. In Rastenburg lernte sie nicht nur ihren zweiten Mann kennen | |
| (einen Polen, der dort ebenfalls arbeitete), sondern begann auch, mit Waren | |
| zu handeln. Sie schickte Malinowski Pakete mit Waren, die dieser verkaufen | |
| sollte. | |
| ## Es gab einen weiteren Edward Malinowski | |
| Als sie Urlaub hatte und „nach Hause“ fuhr, besuchte sie Malinowski. Obwohl | |
| sie sich darüber im Klaren war, dass er mitschuldig am Tod von über 20 im | |
| Wald versteckten Juden war, die den Deutschen ausgehändigt worden waren, | |
| machte sie im Nachkriegsprozess gegen ihn eine Falschaussage und sprach | |
| sich zu seinen Gunsten aus (Fußnote 397).“ | |
| Das Problem: Im Dorf Malinowo gab es mehrere Malinowskis und auch | |
| mindestens einen weiteren Edward Malinowski. In einer zehnseitigen | |
| Erklärung, die Engelking vor gut zehn Tagen im Internet publizierte, | |
| bekannte sie, die beiden Malinowskis irrtümlich für eine Person gehalten zu | |
| haben. Denn der Malinowski, mit dem die Jüdin und Zwangsarbeiterin Estera | |
| Drogicka korrespondierte und handelte, war der andere Malinowski, also | |
| nicht derjenige, der ihr das Leben gerettet, aber auch, so Drogicka, über | |
| 20 Juden an die Deutschen verraten hatte. | |
| Nicht die Ineinssetzung der beiden Malinowskis hatte demnach zu der | |
| beanstandeten, vermeintlichen Rufschädigung des Dorfschulzen geführt. Genau | |
| dies aber behauptet die betagte Klägerin, die finanziell und medial von der | |
| rechtsnationalen Stiftung „Reduta – Festung des guten Namens“ unterstützt | |
| wird. | |
| Im Laufe des Prozesses stellte sich heraus, dass Engelking nicht nur die | |
| Gerichtsakten des Nachkriegsprozesses gegen den Dorfschulzen kannte, | |
| sondern auch ein mehrstündiges Interview, das die gerettete Jüdin im Jahr | |
| 1996 [4][der Schoah-Stiftung in den USA] gab. Dort schilderte sie, dass sie | |
| während des Krieges mit zwei Edward Malinowskis in Kontakt stand, bekannte | |
| aber auch, dass ihre Aussage vor Gericht im Jahr 1950 eine Falschaussage | |
| gewesen sei. | |
| Die historischen Hintergründe des damaligen Freispruchs von Malinowski | |
| beschrieb dieser Tage das Portal für investigativen Journalismus Oko.Press: | |
| „Im Jahr 1949 wurde der Dorfschulze Malinowski von mehreren Dorfbewohnern | |
| verschiedener Verbrechen bezichtigt, darunter auch des Verrats von Juden im | |
| Jahr 1943 sowie der Zusammenarbeit mit der Partisanengruppe der | |
| ‚Schwalbe‘.“ | |
| ## Einschüchterung der Zeugen | |
| Zwei Tage nachdem der Termin für die nächste Verhandlung festgelegt wurde, | |
| sei die „Schwalbe“-Gruppe ins Dorf gekommen. Der Dorfschulze saß damals im | |
| Untersuchungsgefängnis, wie Oko.Press schreibt, aber seine Frau und sein | |
| Sohn hätten die Namen derjenigen preisgegeben, die den Dorfschulzen | |
| angezeigt hatten: „Unter ihnen war auch der andere Edward Malinowski. Er | |
| wie auch einige Nachbarn wurden schwer verprügelt, der Feldscher aber, der | |
| ihre Wunden versorgt hatte, wurde am Tag darauf ermordet.“ | |
| Man müsse sich daher nicht wundern, so fasst Oko.Press zusammen, „dass die | |
| Zeugen der Anklage ihre vorherigen Aussagen im Prozess nicht | |
| aufrechterhielten“. Auch Drogicka machte eine positive Aussage. So wurde | |
| der Dorfschulze Malinowski freigesprochen. | |
| Inzwischen haben die Historiker-Gesellschaft Israels, die | |
| Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, die Gesellschaft des | |
| Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, das Museum der Geschichte der | |
| polnischen Juden POLIN und viele andere Institutionen weltweit | |
| Solidaritätserklärungen für Barbara Engelking und Jan Grabowski abgegeben. | |
| Historische Fehler seien im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs zu | |
| benennen und auszuräumen, nicht aber vor Gericht. Dies gefährde jede | |
| weitere Forschung. | |
| Grabowski selbst schrieb auf Facebook: „Sollten wir schuldig gesprochen | |
| werden, hätte dies enorme Auswirkungen darauf, wie Historiker künftig über | |
| ‚schwierige‘ Themen schreiben werden.“ | |
| 7 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gabriele Lesser | |
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