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# taz.de -- Zehn Jahre Flugzeugabsturz in Smolensk: Die Opfer-Katastrophe
> Der Absturz des Präsidentenflugzeugs in Smolensk hat den
> Helden-und-Opfer-Mythos in Polen neu belebt.
Bild: Jarosław Kaczyński, Zwillingsbruder des verunglückten Ex-Präsidenten …
Polen ist bis heute gezeichnet vom Trauma der Flugzeugkatastrophe von
Smolensk. Zehn Jahre ist es nun her, dass 96 Menschen beim Absturz der
Tupolew TU-154 auf dem russischen Militärflughafen Siewierny bei Smolensk
ums Leben kamen. Die Maschine zerschellte in dichtem Nebel kurz vor der
Landebahn.
Unter den Opfern waren Polens damaliger Präsident Lech Kaczyński und seine
Frau Maria, der Notenbankchef Sławomir Skrzypek, die gesamte Armeeführung,
hohe Geistliche und etliche Parlamentarier aller Parteien.
Heute kämpft Polen mit der Katastrophe nach der Katastrophe: Die seit 2015
regierenden Nationalpopulisten von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS)
zerstören die so mühsam erkämpfte Demokratie im Namen der „wahren Polen“
und stempeln frühere Mitstreiter und Opponenten zu „Verrätern, Volksfeinden
und Mördern“.
Der feindselige Ton kam nach der Katastrophe von Smolensk auf, als die
Anhänger der Zwillinge und PiS-Parteigründer Lech und Jarosław Kaczyński
erste Verschwörungstheorien in die Welt setzten: An den Händen Donald
Tusks, des damaligen Premier von der liberal-konservativen Bürgerplattform
(PO), klebe Blut, gifteten sie.
## Gemeinsame Sache
Tusk habe mit Russlands damaligen Premier Wladimir Putin gemeinsame Sache
gemacht und freue sich sogar insgeheim über den Tod von Lech Kaczyński.
Fotos von Putin, der den an die Absturzstelle geeilten Tusk tröstend
umarmte, sollten dies beweisen.
Auch das polnisch-russische Verhältnis ist heute völlig zerrüttet. Dabei
waren die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine damals noch in
weiter Ferne. Im Gegenteil – die Katastrophe von Smolensk konnte auch
passieren, weil sich die schwierigen Beziehungen von Polen und Russland auf
Entspannungskurs befanden.
Drei Tage vor Kaczyński war schon Tusk mit einer großen Delegation nach
Smolensk geflogen und hatte sich dort über den Gräbern von Katyn mit Putin
die Hand gereicht. Die beiden Politiker wollten ein neues Kapitel in der
Weltgeschichte aufschlagen
Dabei war der Militärflughafen damals schon seit einem halben Jahr
geschlossen, vieles funktionierte nicht mehr, die Fluglotsen im Tower
arbeiteten nur noch in Notbesetzung. Auf Druck Warschaus und um die sich
anbahnenden besseren Beziehungen nicht zu gefährden, öffnete Russland den
Flughafen wieder für die polnischen Delegationen.
## Enormer politischer Druck
Tusk hatte Glück. Als er flog, herrschte bestes Frühlingswetter. Doch auch
die Fluglotsen handelten unter enormen politischen Druck. So hatten sie
immer wieder die Piloten der polnischen Präsidentenmaschine vor dem dichten
Nebel gewarnt und sie aufgefordert, einen Ausweichflughafen anzufliegen –
ohne Erfolg.
Sollten sie aus Sicherheitsgründen den Flughafen schließen? Dies wäre
jedoch mit Sicherheit als politischer Affront begriffen worden und hätte
die vorsichtige bilaterale Annäherung wieder zunichte gemacht. Nach einen
Telefonat mit ganz oben war klar: Der Flughafen bleibt offen – mit
verheerenden Folgen.
Nach dem Absturz der Präsidentenmaschine fragten viele Nationalkonservative
und Rechtsradikale gar nicht erst nach dem tatsächlichen Unfallhergang,
sondern belebten den längst überwundenen Helden-und-Opfer-Mythos der Polen
neu.
Dieser Mythos stammte aus dem 18. und 19. Jahrhundert, als Preußen,
Russland und das Habsburger-Reich den polnischen Staat vollständig unter
sich aufgeteilt hatten und die Polen plötzlich und gezwungenermaßen zu
Staatsbürgern von Preußen, Russland und Österreich wurden.
## Literarische Durchhalte-Parolen
Die Dichter Adam Mickiewicz und Henryk Sienkiewicz formulierten damals
literarische Durchhalte-Parolen wie die Idee von einem Polen als „Christus
der Nationen“, das eines Tages wiederauferstehen und allen anderen
geknechteten Völkern die Freiheit bringen werde. Dieser Mythos half den
katholischen Polen, die 123 Jahre der Teilungszeit zu überstehen, die
Okkupationen des Zweiten Weltkriegs und dann auch die kommunistische Zeit
bis 1989.
Dieser MY-i-ONI-Mythos (Wir – die Guten und die da – die Bösen) brach 2001
in sich zusammen, als sich die polnische Gesellschaft in der Debatte über
das Jedwabne-Pogrom an der jüdischen Bevölkerung von 1941 darüber klar
wurde, dass Polen auch Täter waren, nicht nur Opfer und Helden.
Von da an waren die Polen auf der Suche nach einer neuen Identität. Das
sich durch die ganze Geschichte Polens ziehende Motiv des Freiheitskampfes
hätte die Grundlage einer solchen neuen Identität sein können, die in
Anknüpfung an den ehemaligen Vielvölkerstaat Polen-Litauen auch andere
Nationalitäten wie etwa die Juden hätte aufnehmen können. Es gab auch
zahlreiche Debatten über den Staatsbürgerbegriff.
Doch nach der Katastrophe von Smolensk und erst recht nach dem Wahlsieg der
PiS im Winter 2015 wurden all diese Diskussionen abgewürgt. Ganz offiziell
ist jetzt wieder der Helden-und-Opfer-Mythos Grundlage des polnischen
Geschichtsbilds, wie es in Geschichtsbüchern, Museen und Gesetzen
vermittelt wird.
## Rückfall in alte Denkmuster
Für Polens Außenpolitik bedeutet dies einen Rückfall in das Denken des 19.
Jahrhunderts mit den Erzfeinden Deutschland und Russland – auch wenn
Deutschland als Nato- und EU-Partner längst eine andere Rolle spielt und
dies auch immer wieder deutlich macht.
Putin hingegen kommt dieser Rückfall Polens in die alten Denkmuster sehr
gelegen: Polen als eine Fassaden-Demokratie mit einer in sich völlig
zerstrittenen und gespaltenen Gesellschaft ist – wie bereits im 18.
Jahrhundert – ein schwacher Staat. Polens Opposition sollte bald aus ihrer
Erstarrung aufwachen und der Gesellschaft helfen, das Smolensk-Trauma zu
überwinden.
10 Apr 2020
## AUTOREN
Gabriele Lesser
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