# taz.de -- Forscher über die neue Rechte: „Die AfD ist in desolatem Zustand… | |
> Nur Einzeltäter? Der Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer über die | |
> rechte Bedrohung und neue Allianzen. | |
Bild: Gemeinsam auf der Straße und dann sagen, rechter Terror geht uns nichts … | |
taz: [1][Herr Heitmeyer], in diesen Tagen erscheint Ihr neues Buch „Rechte | |
Bedrohungsallianzen“. Hat sich an Ihrer Analyse durch die Coronakrise etwas | |
geändert? | |
Wilhelm Heitmeyer: Das Manuskript war zu Beginn der Coronakrise weitgehend | |
fertig. Aber natürlich stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse einer | |
Überprüfung durch die Veränderungen, die mit dieser Krise einhergehen, | |
standhalten. | |
Und: Tun sie das? | |
Es geht darum, wie das rechte Spektrum in den letzten Jahren in die | |
Offensive gekommen ist. Jetzt ist die Frage, was sich durch die Ablehnung | |
der Coronamaßnahmen bei einem Teil der Bevölkerung verändert hat. Es gibt | |
diese Demonstrationen, bei denen einzelne Personen aus unterschiedlichen | |
Motiven mitlaufen, die aber kein Gruppenbewusstsein haben. Und eben auch | |
Rechte mit ausgeprägtem Gruppenbewusstsein. Diese Mischung kann eine neue | |
Wucht hervorbringen. Aber ob das geschieht, muss man abwarten. | |
[2][In Ihrem Buch] versuchen Sie, mit Hilfe des „konzentrischen | |
Eskalationskontinuums“, wie Sie es nennen, die aktuelle Entwicklung der | |
radikalen Rechten zu analysieren. Was verstehen Sie unter diesem Kontinuum? | |
Wir sind der Auffassung, dass es nicht mehr reicht, das rechte Spektrum | |
parzelliert zu analysieren. Wir müssen soziologische Ursachen von | |
Entwicklungslinien und politische Qualitätsveränderungen aufzeigen, um die | |
Bedrohung der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie wirklich | |
einschätzen zu können. Das konzentrische Eskalationskontinuum muss man | |
sich wie eine Zwiebel vorstellen, von der äußeren Schale bis zum Kern. Ganz | |
außen sind die Einstellungen zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in | |
der Bevölkerung, also gegen Muslime, Juden, Obdachlose, Homosexuelle und so | |
weiter. Im Kern sind terroristische Vernichtungsakteure. | |
Und dazwischen? | |
Zunächst, als zweite Schicht, die AfD, die wir als autoritären | |
Nationalradikalismus bezeichnen, denn Rechtspopulismus ist eine | |
Verharmlosung. Dann kommen das systemfeindliche Milieu von | |
Rechtsextremisten und Neonazis mit Gewaltorientierung, die klandestinen | |
rechtsterroristischen Planungs- und Unterstützungsmilieus und im Kern eben | |
die Vernichtungsakteure. Die Gruppen werden immer kleiner und immer | |
gewalttätiger. | |
Sehen Sie also eine klare Linie beispielsweise von der AfD bis zu | |
terroristischen Anschlägen wie dem Angriff auf die Synagoge in Halle? | |
Juristisch natürlich nicht, aber die AfD spielt eine ganz entscheidende | |
Rolle in diesem Prozess der Eskalation und den rechten Bedrohungsallianzen. | |
Und man muss auch die antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung | |
berücksichtigen und die antisemitischen Taten, die noch nicht zum | |
Terrorismus gehören. Deshalb sprechen wir von Legitimationsbrücken. Das | |
heißt: Die Einstellungen in der Bevölkerung liefern der AfD das Material, | |
sie macht daraus politische Parolen wie „Umvolkung“, „Untergang“ oder | |
„messerstechende Invasoren“. Dann arbeitet die AfD mit dem, was ich eine | |
Gewaltmembran nenne … | |
Heißt, mit etwas, was trennt, aber gleichzeitig durchlässig ist? | |
Genau. Die verbale Ablehnung von Gewalt wird mit Opfer- und | |
Notwehrmetaphern verbunden. Das ist wiederum die Legitimation für das | |
systemfeindliche Milieu, das schon mit Gewalt hantiert. Und daraus folgen | |
die nächsten Legitimationen für terroristische Taten. So wird das | |
Eskalationskontinuum zusammengehalten. | |
Warum ist es so wichtig, das ganze Kontinuum in den Blick zu nehmen? | |
Weil man sonst an vielen Stellen gesellschaftliche Entlastungsstrategien | |
unterstützt. Teile der Bevölkerung, die Einstellungen gruppenbezogener | |
Menschenfeindlichkeit haben, meinen ja, dass sie mit rechtsextremen Taten | |
nichts zu tun haben. Aber diese gesellschaftliche Selbstentlastung ist | |
nicht angemessen. | |
Heißt das, dass Sie Personen, die menschenfeindliche Einstellungen haben, | |
auch Verantwortung für terroristische Taten zuschreiben? | |
Sie verändern das gesellschaftliche Klima und helfen dabei, bestimmte | |
Gruppen zu markieren, die dann, unabhängig vom individuellen Verhalten, | |
Opfer von Abwertung und Gewalt werden. Diese Teile der Bevölkerung, die bis | |
in die [3][rohe Bürgerlichkeit] reichen, sind an diesem Markierungsprozess | |
für die Gewalt beteiligt. Und sie kann deshalb nicht sagen: Das geht uns | |
nichts an. | |
Macht es keinen Unterschied, wenn diese Menschen selbst Gewalt ablehnen? | |
Verantwortung haben sie trotzdem. Das eskaliert ja über zwei zentrale | |
innere Zusammenhänge: Zum einen gibt es eine durchgehende Linie der | |
Ideologie der Ungleichwertigkeit und dann geht es zum zweiten um das | |
Verhältnis zur Gewalt. Man kann nicht einfach den Terrorismus aus der | |
gesellschaftlichen Entwicklung aussondern. Er hängt mit dem | |
gesellschaftlichen Klima und auch dem [4][Agieren politischer und | |
staatlicher Eliten zusammen.] | |
Sie haben das Ganze an den Ereignissen in Chemnitz im Jahr 2018 | |
durchdekliniert. Warum gerade dieses Beispiel? | |
Weil in Chemnitz besonders deutlich wurde, wie die Grenzen verschwimmen. | |
Dort waren zum ersten Mal all diese Gruppen, die im Eskalationskontinuum | |
eine Rolle spielen, gemeinsam auf der Straße. Also von den sogenannten | |
„besorgten Bürgern“ über die AfD, die gewalttätigen Neonazis vom Chemnit… | |
FC bis zu Leuten von „Revolution Chemnitz“, einer terroristischen | |
Planungsgruppe. | |
Auch Stephan Ernst, der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, war in | |
Chemnitz. | |
Genau. Und hier sieht man sehr genau, dass es nicht reicht, die einzelnen | |
Teile zu analysieren. Die Übergangslinien und verschwindenden Grenzen sind | |
entscheidend. Das macht die Bedrohungsallianzen aus. | |
Ein anderes Beispiel ist die Wahl des FDP-Politikers [5][Thomas Kemmerich] | |
mit den Stimmen der AfD und CDU zum Thüringer Ministerpräsidenten im | |
Februar. | |
Das ist wichtig, weil es hier um das Eindringen in die Institutionen geht. | |
Die AfD macht das ganz gezielt, wie man zum Beispiel bei der Polizei, den | |
Gewerkschaften und anderen Verbänden sehen kann. Es geht um die | |
Destabilisierung von Institutionen und dafür war die Wahl in Erfurt ein | |
besonderes Beispiel. Ich hätte nie gedacht, dass diese | |
Destabilisierungsstrategie so schnell die Systemebene erreicht. | |
Geht es also um eine Normalisierung des Rechtsextremismus? | |
Ja, und genau das bereitet mir große Sorgen. Denn alles, was als normal | |
angesehen wird, kann man nicht mehr problematisieren. Deshalb ist auch die | |
Formel „Wehret den Anfängen“ falsch. Darüber sind wir längst hinaus. | |
Das hört sich so an, als ob alles immer schlimmer wird. Zumindest der AfD | |
aber geht es derzeit gar nicht so gut. Hat die Partei ihren Zenit | |
überschritten? | |
Sie haben recht: Die AfD ist in einem [6][desolaten Zustand]. Aber was das | |
bedeutet, ist schwer zu sagen, weil sie noch eine stabile Wählerschaft hat, | |
vor allem im Osten. Selbst wenn die AfD zerfallen würde: Die Einstellungen | |
sind ja weiter da. Und man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass | |
zerfallende Gruppen oder Parteien dazu führen, dass sich die Lage | |
automatisch entspannt. Aus zerfallenden radikalen Gruppen entwickeln sich | |
häufig noch extremere Kleingruppen. Auch der NSU ist ja aus der | |
zerfallenden Bewegung des „Thüringer Heimatschutzes“ entstanden. | |
16 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://ekvv.uni-bielefeld.de/pers_publ/publ/PersonDetail.jsp?personId=21765 | |
[2] https://www.suhrkamp.de/buecher/rechte_bedrohungsallianzen-wilhelm_heitmeye… | |
[3] /Sozialpsychologe-ueber-politische-Konflikte/!5709456&s=andreas+zick/ | |
[4] /Versoehnlichkeit-ritualisieren/!5718140&s=meron+mendel/ | |
[5] /Thueringer-Ex-Ministerpraesident/!5719200&s=afd/ | |
[6] /Skandal-um-Gewaltfantasien/!5718213&s=afd/ | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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