# taz.de -- Jom Kippur nach dem Attentat in Halle: „Es wird ein nächstes Mal… | |
> Iona Berger war 2019 an Jom Kippur während des Anschlags in der Synagoge | |
> in Halle. Sie kämpft bis heute mit Schuldgefühlen. | |
Bild: Iona Berger befand sich zum Zeitpunkt des Anschlags in der Synagoge von H… | |
taz: Frau Berger, letztes Jahr zu Jom Kippur befanden Sie sich in der | |
Synagoge in Halle, als ein rechtsextremer Attentäter versuchte, die | |
Synagoge zu stürmen und anschließend Jana L. und Kevin S. tötete. Am 28. | |
September ist wieder Jom Kippur. Was bedeutet diese Zeit für Sie | |
persönlich? | |
Iona Berger: In dieser Zeit wird entschieden, ob man ins Buch des Lebens | |
eingeschrieben wird, und an Jom Kippur wird dieses dann versiegelt. Es geht | |
darum, Menschen um Verzeihung zu bitten, bevor man Gott um Verzeihung | |
bitten kann. Traditionell ist es eine Zeit, in der man viel reflektiert. In | |
diesem Jahr finde ich es sehr schwierig, mich auf diese Zeit einzulassen. | |
Ich fühle mich unvorbereitet für Jom Kippur. Das letzte Jahr war so | |
chaotisch, nicht nur wegen Halle, sondern für uns alle. Was bedeutet eine | |
Umkehr zu Gott nach dem, was passiert ist? Wie kann ich mit meinen eigenen | |
Schuldgefühlen fertig werden? | |
Sie haben bereits [1][vor Gericht gesagt], dass Sie sich schuldig für die | |
Todesopfer fühlen, da der Anschlag eigentlich Ihnen galt. Ist Halle ein Ort | |
geworden, den Sie meiden? | |
Überhaupt nicht. Es gab für mich nur keine Anlässe, nach Halle zu fahren. | |
Ich war am Tag der Beerdigung von Jana da. Davor war ich in der Synagoge | |
und habe mich nochmal umgesehen. | |
Sind Sie in diesem Jahr zu Jom Kippur wieder in Halle? | |
Nein. Halle ist wegen der Corona-Abstandsregeln problematisch. Für mich war | |
aber klar: Ich möchte Jom Kippur mit „Base Berlin“ verbringen – egal wo. | |
„Base Berlin“ ist die Gruppe, mit der ich im letzten Jahr von Berlin zur | |
Synagoge in Halle gefahren bin, und ich möchte diesen schwierigen Tag | |
wieder mit den gleichen Menschen verbringen. Am 9. Oktober, wenn sich das | |
Attentat jährt, werde ich wieder in Halle sein. | |
Was wird in diesem Jahr anders sein an Jom Kippur? | |
Aufgrund der Abstandsregeln können nicht alle in die Synagoge gehen, dafür | |
ist einfach nicht genügend Platz. Deshalb hat „Base Berlin“ Räumlichkeiten | |
in Berlin angemietet. Was sich auch geändert hat: Früher hatte „Base | |
Berlin“ nie Sicherheitskräfte, da gab es keinen Grund für. Ab jetzt gibt es | |
die immer. An dem Tag wird es zudem auch psychologische Unterstützung | |
geben. | |
Dass vor der Synagoge in Halle keine Polizei stand, fiel Ihnen laut Ihrer | |
Aussage bereits am Vortag von Jom Kippur auf. Doch „die Idee, dass auch | |
noch gerade in Halle jemand auf die Synagoge schießt, kam mir völlig | |
abstrus vor“, sagten Sie vor Gericht. Wie schätzen Sie die Sicherheit der | |
Synagogen in Deutschland heute ein? | |
Es gibt einen Unterschied zwischen rationalem Wissen und dem subjektiven | |
Sicherheitsgefühl, wenn ich in eine Synagoge rein gehe. Rational ist es | |
wahnsinnig unwahrscheinlich, dass genau in dieser Synagoge etwas passiert. | |
Das war es schon beim ersten Anschlag, und dass es nochmal ausgerechnet in | |
der Synagoge, in der ich mich befinde, passiert, ist noch viel | |
unwahrscheinlicher. Andererseits schaue ich mich jetzt immer zweimal um, wo | |
zum Beispiel die Beamten sind. | |
Sollte [2][Polizeipräsenz vor Synagogen] obligatorisch sein? | |
Vor dem Attentat habe ich mich manchmal über die erhöhte Polizeipräsenz | |
amüsiert, jetzt mache ich das nicht mehr. Ich glaube zwar noch immer nicht, | |
dass sie unbedingt notwendig ist, aber wenn letztes Jahr an Jom Kippur | |
Polizei vor der Synagoge in Halle gewesen wäre, wären Jana und Kevin | |
vermutlich noch am Leben. Es geht ja nicht nur um unsere eigene Sicherheit, | |
sondern auch um die der Menschen um uns herum. Der Anschlag hat das nochmal | |
deutlich gezeigt. | |
Einige Nebenkläger:innen haben vor Gericht ihr fehlendes Vertrauen | |
gegenüber der Polizei zum Ausdruck gebracht. Teilen Sie das? | |
Ich weiß, dass Polizei in Halle und Polizei in Berlin nicht dasselbe sind. | |
Die Polizisten haben selber vor Gericht ausgesagt, dass sie so eine | |
Situation noch nie erlebt haben. Ich glaube, die Polizei in Berlin ist auf | |
so eine Gefahrenlage einfach besser vorbereitet und hat mehr Erfahrung in | |
Einsätzen mit Schusswaffengebrauch. Ich bin nicht generell der Meinung, | |
dass alle Polizisten böswillig eingestellt oder unfähig sind. Ich habe da | |
ein Grundvertrauen, obwohl ich weiß, dass es systematische Probleme gibt. | |
Es häufen sich Berichte von zusätzlichen Traumata durch das [3][Verhalten | |
der Beamt:innen] vor Ort. | |
Ich finde es wichtig, auch den Polizeiansatz in Halle zu kritisieren, ohne | |
bestimmte Polizistinnen zu beschuldigen. Ich hoffe, dass es dann beim | |
nächsten Anschlag auf eine Synagoge oder Moschee oder ähnlichem besser | |
laufen wird und die nächsten Überlebenden nicht auch noch zusätzlich durch | |
den Polizeieinsatz traumatisiert werden. Und ja, ich bin der Meinung, dass | |
es ein nächstes Mal geben wird, leider. | |
28 Sep 2020 | |
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[1] /Prozess-gegen-den-Attentaeter-von-Halle/!5706803 | |
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## AUTOREN | |
Pia Stendera | |
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