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# taz.de -- Prozess zum Nazi-Anschlag von Halle: Der Schmerz der Opfer
> Im Prozess um den Anschlag in Halle offenbart der Vater des erschossenen
> Kevin S., wie die Tat sein Leben veränderte. Eine Aussage führt zu
> Applaus.
Bild: Schmerzhaftes Erinnern: Fotos der Opfer des Anschlags von Halle vor dem L…
Magdeburg taz | Nichts ist verarbeitet. Karsten L. stockt, zittert, kämpft
mit den Tränen, dann kann er nicht mehr. „Ich habe versucht, Kevin
anzurufen. 20, 30 Mal. Er ist nicht rangegangen. Nichts, nichts, nichts.“
Am Abend, nach sechs Stunden des Bangens, habe er auf Facebook eine
Vermisstenanzeige geschaltet. Daraufhin habe ihm ein Bekannter geschrieben,
er schicke ihm mal was. Es war das Video, in dem Kevin, der Sohn von
Karsten L., erschossen wird. „Ich habe es mir angeguckt.“ Dann kann er
nicht mehr weitersprechen, die Tränen übermannen ihn. Er weint,
minutenlang, einige Nebenkläger weinen mit. Die Richterin muss die
Befragung unterbrechen.
Der Mann, der seinem Sohn Kevin S. das Leben nahm, sitzt Karsten L. am
Dienstag im Landgericht Magdeburg schräg gegenüber: Stephan B., angeklagt
wegen zweifachen Mordes und 68-fachen Mordversuchs. Am 9. Oktober 2019
hatte B. versucht, die Synagoge in Halle zu stürmen, übertrug die Tat ins
Internet. Der 28-Jährige scheiterte, aber er erschoss die Passantin Jana L.
Dann fuhr er zum nahegelegenen „Kiezdöner“, um Migranten zu ermorden. Dort
ermordete er Kevin S., der dort gerade Mittag aß.
Der Anschlag ist bis heute ein Fanal, seit Juli wird darüber in Magdeburg
verhandelt. Am Dienstag ist nun Karsten L. Zeuge. Es wird der einzige
Auftritt eines Hinterbliebenen der beiden Mordopfer im Prozess. Auch die
Mutter von Jana L. nimmt als Nebenklägerin am Prozess teil, sie aber bat
laut Gericht, keine Aussage machen zu müssen. Karsten L. jedoch will reden.
Der Gerüstbauer berichtet, wie schon sein erster Sohn starb, kurz nach der
Geburt. Bei seinem zweiten, Kevin, wurde eine geistige und körperliche
Behinderung diagnostiziert. Aber Kevin habe gekämpft. Er habe die
Förderschule geschafft, Praktika bei einer Malerfirma in Halle absolviert
und dort schließlich eine Ausbildung begonnen. „Sein Traumberuf. Er ist
richtig aufgeblüht.“ Und Kevin wurde leidenschaftlicher Fan des Halleschen
FC, baute sich dort einen Freundeskreis auf, reiste zu Spielen, heftete
jede Eintrittskarte ab. „Er hat sich das selbst aufgebaut“, sagt Karsten L.
„Er war megastolz.“ Und der Vater war es auch, daran lässt der
Zeugenauftritt keinen Zweifel.
## Ein Leben – zerstört
Dann aber kam der 9. Oktober 2019, neun Tage nach Kevins Ausbildungsbeginn.
Er habe am Vormittag noch mit seinem Sohn telefoniert, berichtet der Vater.
Dann hörte er vom Anschlag in Halle, versuchte seinen Sohn zu erreichen,
die Mutter tat es auch. Ohne Erfolg. „Das war nicht normal. Ich hatte
gehofft, dass er sein Handy verloren hat. Aber das war unwahrscheinlich.“
Dann bekam er das Video von der Tat. Sah, wie sich sein Sohn noch hinter
einem Kühlschrank versteckte, wie er rief: „Bitte nicht!“. Der 20-Jährige
hatte keine Chance.
Für Karsten L. ist das Leben seitdem zerstört. Kevins Mutter und er seien
bis heute in psychologischer Behandlung, teils stationär, berichtet er.
Drei Mal habe er gedacht, es gehe nicht mehr weiter, rief die Polizei. „Es
ist schwer, wir brauchen extrem Hilfe.“ Stephan B. starrt den kämpfenden
Vater an, regungslos. Ein Opferanwalt weist die Richterin darauf hin, dass
der Angeklagte mit den Augen rollte. Der verneint. Zu Prozessbeginn hatte
B. bedauert, dass er Kevin S. tötete, er habe ihn mit einem Muslim
verwechselt. Mehr Reue zeigt er im Prozess nicht.
Auch das Leben von Ismet und Rifat Tekin ist seit dem Anschlag nicht mehr
dasselbe. Seit zwölf und fünf Jahren wohnen die Brüder in Halle, arbeiten
dort im Kiezdöner, inzwischen als Besitzer. Nun sind auch sie Zeugen im
Prozess. Rifat stand beim Angriff hinterm Tresen.
Er habe erst gedacht, dass ein Soldat in den Laden komme, schildert er.
Dann seien Schüsse gefallen, er habe sich hinterm Tresen versteckt. Als ihm
der Täter den Rücken zuwendete, sei er aus dem Laden gerannt. Ismet hatte
kurz zuvor den Laden verlassen, auch an ihm schoss eine Kugel Bürgersteig
vorbei. Er versteckte sich hinter Autos. Als Stephan flüchtete und er in
den Laden kam, war Kevin S. bereits tot.
## „Wir wollen standhaft bleiben“
Er leide bis heute unter Schlafstörungen, sagt Rifat Tekin. Ismet ergänzt,
dass sein Bruder früher alle zum Lachen brachte, das sei vorbei. „Es
schmerzt mich, ihn so zu sehen.“ Auch seiner Mutter in der Türkei erzähle
er seit Monaten Lügen, damit diese sich nicht sorgt.
Er wolle eigentlich gar nicht mehr in den Laden, sagt Rifat Tekin. Aber
sein Bruder möchte diesen weiterbetreiben. „Deshalb unterstütze ich ihn.
Wir wollen standhaft bleiben, wir wollen hierbleiben, wir wollen uns für
dieses Land einsetzen.“ Auch Ismet Tekin will den Attentäter nicht siegen
lassen: „Wir werden nicht weggehen und auch unseren Laden nicht aufgeben.“
Im Kiezdöner hängen bis heute Fotos der Ermordeten und Trikots des
Halleschen FC. Der Imbiss sei nun auch eine Gedenkstätte, sagt Ismet Tekin
vor dem Prozesstag. Und die Umsätze seien eingebrochen. Immer weniger Gäste
kommen, nach dem Corona-Ausbruch musste der Imbiss für drei Wochen ganz
schließen. Auch die von PolitikerInnen versprochene Unterstützung sei
ausgeblieben. „Es ist sehr schwierig.“
Inzwischen läuft eine Spendensammlung für den Kiezdöner – initiiert von der
Jüdischen Studierendenunion und einer Gruppe junger JüdInnen, [1][die beim
Attentat in der Synagoge waren und dort Jom Kippur feierten]. „Wir glauben
an eine multikulturelle Gesellschaft in diesem Land“, heißt es in ihrem
Aufruf.
## Eine letzte Botschaft
Jeremy Borovitz, einer der Gläubigen aus der Synagoge, appellierte: „Bitte
spendet“, Ismet Tekin sei „ein außerordentlich anständiger Mann in einer
verrückt gewordenen Welt“. Gut 6.400 Euro kamen bisher zusammen. Ismet
Tekin ist gerührt von der Solidarität. Er wolle das Geld nutzen, um den
Imbiss um ein Frühstückscafé zu erweitern, sagt er. Vielleicht gehe es
damit wieder aufwärts.
Fast jeden Verhandlungstag reiste Ismet Tekin bisher zum Prozess. Am
Dienstag spricht er den Angeklagten direkt an, nennt ihn einen „Feigling“.
Stephan B. lächelt. „Niemand hat es verdient, auf so eine Art und Weise zu
sterben. Können Sie sich vorstellen, wie viel Kraft es eine Mutter kostet,
ein Kind großziehen? Was für einen Schmerz es bedeutet, wenn es auf diese
Weise das Leben verliert?“
Er könne auch nicht glauben, dass niemand von den Planungen des Attentäters
mitbekam, sagt Ismet Tekin. Obwohl er so viel im Internet chattete und zu
Hause bei seinen Eltern die Waffen baute. „Das ist keine [2][Tat eines
Einzelnen].“ Er verstehe auch den Hass nicht. Alle Menschen seien Ausländer
irgendwo auf der Welt. Der Verteidiger von Stephan B. interveniert, hält
die Ausführung für zu ausschweifend, aber die Richterin lässt Ismet Tekin
weiter reden.
Und der verkündet Stephan B. eine letzte Botschaft. „Sie haben nicht
gewonnen. Sie haben auf ganzer Linie versagt. Entstanden ist noch mehr
Zusammenhalt und Liebe. Wir werden nicht weggehen. Und wissen Sie was? Ich
werde Vater, ich bekomme ein Kind. Und ich werde das Beste geben, es hier
großzuziehen.“ Im Saal brandet Applaus auf. Die Richterin lässt es
gewähren.
15 Sep 2020
## LINKS
[1] /Prozess-gegen-den-Attentaeter-von-Halle/!5706803
[2] /Prozess-zum-Anschlag-in-Halle/!5710232
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
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