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# taz.de -- Nazimorde in Deutschland: Der fatale Mythos vom Einzeltäter
> Auch 40 Jahre nach den Oktoberfest-Morden nimmt die Justiz rechte
> Netzwerke nicht ernst. Ein Umdenken findet nur langsam statt.
Bild: Rechte Netzwerke: nicht so wichtig bei den Ermittlungen
Killer des NSU leben zehn Jahre unentdeckt im Untergrund und ermorden
Mitbürger aus Migrantenfamilien, weil diese keine Deutschen sind. Ein
Neonazi [1][exekutiert kaltblütig den CDU-Politiker Walter Lübcke], weil er
sich für Geflüchtete einsetzt. Ein Antisemit scheitert nur knapp mit seinem
Versuch, am Versöhnungstag Jom Kippur [2][ein Massaker in der Synagoge von
Halle anzurichten]; er will die Gottesdienstbesucher töten, weil sie Juden
sind. Ein Rassist erschießt in Hanau auf offener Straße und in
verschiedenen Lokalen zehn Menschen, weil er nur „reinrassige Deutsche“ in
Deutschland dulden will.
Terror von rechts und mörderischer Antisemitismus und Rassismus sind in
Deutschland im Jahr 2020 bittere Realität. Niemand kann das heute noch
leugnen oder totschweigen. Aber das war nicht immer so. Es gab auch vor 40
Jahren solche Verbrechen, doch ihr Ursprung wurde verdrängt und
uminterpretiert, mit fatalen Folgen. Sie wurden nicht aufgeklärt. Und sie
wurden vergessen.
Das erste judenfeindliche Gewaltverbrechen in Deutschland nach dem Ende des
Nationalsozialismus fand im Dezember 1980 in Erlangen statt – nur drei
Monate nach dem rechtsradikalen Oktoberfest-Anschlag in München. Das
Attentat von Erlangen ist, anders als das [3][Oktoberfest-Attentat mit 12
getöteten Menschen], weitgehend vergessen. Getötet wurden in Erlangen der
jüdische Rabbiner und Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida
Poeschke.
Der enge inhaltliche und personelle Zusammenhang des Erlanger Verbrechens
mit dem Oktoberfest-Attentat hat sich erst in jüngster Zeit erschlossen.
Das Bindeglied ist eine antisemitische Verschwörungstheorie aus der Feder
des faschistoiden Milizenführers Karl-Heinz Hoffmann. Sie induzierte den
tödlichen Hass im Kopf des mutmaßlichen Erlanger Täters Uwe Behrendt und
trieb ihn zu dem Mord an dem Paar an. Der Doppelmord von Erlangen blieb
auch nach einem längeren Gerichtsverfahren ungesühnt.
Das Oktoberfest-Attentat ist mittlerweile, als Ergebnis der wieder
aufgenommenen Ermittlungen, als rechtsterroristische Tat eingestuft und
trotzdem bis heute nicht wirklich aufgeklärt. Ich fürchte, dass es in
beiden Fällen dabei bleiben wird, aus guten, schlechten Gründen: Sie sind
im polizeilichen, justiziellen und geheimdienstlichen Umgang mit
rechtsextremistischen Tätern und Taten zu finden. Zu meinen irritierenden
Erfahrungen gehört, dass einige derjenigen, die für die Aufklärung der
Verbrechen und für die Bestrafung der Täter zuständig waren, voreingenommen
dachten und nicht ergebnisoffen nachforschten.
## „Nicht politisch motiviert“
Im Dezember 2014 verfügte Generalbundesanwalt Harald Range die
Wiederaufnahme der Ermittlungen. Damit kam die von der Bundesanwaltschaft
1982 festgezurrte Version des Geschehens beim Oktoberfest-Attentat vom
Tisch: Den eingestellten Ermittlungen des damaligen Generalbundesanwalts
Kurt Rebmann zufolge hatte der Attentäter mit der von ihm gelegten Bombe
gar keinen politisch motivierten Terroranschlag im heißen
Bundestagswahlkampf 1980 verübt.
Nein, [4][Gundolf Köhler], aktiv bei der völkischen Wiking-Jugend und der
von dem Rechtsextremisten Hoffmann geführten Wehrsportgruppe, soll aus
privater Verzweiflung Suizid begangen haben – ausgerechnet inmitten der auf
dem Heimweg befindlichen vorbeiströmenden Oktoberfestbesucher. Der Typus
des Einzeltäters wurde von den deutschen Ermittlern, Staatsanwälten bei
den Ermittlungen wie ein Golem aus Aktenpappmaschee geformt, mit
Vulgärpsychologie verkleistert und auf die Terrorbühne gestellt.
Solch ein Einzeltäter mag gelegentlich rechtsextrem schwadroniert und sich
sogar so engagiert haben. Wenn er aber eines Tages in Aktion tritt, so tut
er dies vor allem als allein vor sich hin tickende Zeitbombe mit
unberechenbarer emotionaler Selbstzündung. Den ideologischen und
organisatorischen Netzwerken, in denen diese Einzeltäter sozialisiert und
beeinflusst wurden, wird keine oder nur wenig Bedeutung beigemessen.
## Bei der RAF war jedes Mitglied ein Täter
Der rechtsextreme Einzeltäter ist von Polizisten, Kriminalisten und
Juristen auf wundersame Weise als Komplementärmodell zum linken Attentäter
à la RAF erschaffen worden, mit dem sich Polizei, Justiz und Politik zuvor
in den 1970er Jahren zu befassen hatten. Was immer der einzelne linke
Terrorist tat, er wurde als ein ideologischer Klon all seiner Genossen
begriffen. Nach dieser Logik war jeder, der einer Gruppe zugerechnet werden
konnte, Teil eines kollektiven Hirns, genauso am Entschluss zur Tat
beteiligt, Teil eines Netzwerks und – vor Gericht gelandet – im gleichen
Maß dafür verantwortlich gemacht.
Ganz anders wurde verfahren, als parallel zum in den 1970er Jahren
dominierenden Linksterrorismus auch erste Gewalttaten von Rechtsextremisten
begangen wurden. Das gilt zum Beispiel für den Mordanschlag auf den
[5][Studentenführer Rudi Dutschke im April 1968]. Schon der
Dutschke-Attentäter Josef Bachmann wurde 1969 vor Gericht als Einzeltäter
eingestuft und seine Einbindung in die rechtsextreme Szene Niedersachsens
verschleiert.
Dieses Muster wird seit dem Aufflammen des Rechtsterrorismus im Jahr 1980
wiederholt: Weisen Verdachtsmomente nach einer Gewalttat auf einen Täter
aus der rechten Szene, soll es stets ein allein verantwortlicher
Einzeltäter gewesen sein, so auch im Dezember 1980 bei dem Erlanger Mord an
Shlomo Lewin und Frida Poeschke. Dabei war der mutmaßliche Mordschütze Uwe
Behrendt bis zum Verbot der Wehrsportgruppe des Rechtsextremisten
Karl-Heinz Hoffmann dessen rechte Hand und wohnte bei ihm.
Die Richter des Landgerichts Nürnberg-Fürth pulverisierten die Anklage der
Staatsanwaltschaft gegen Karl-Heinz Hoffmann wegen Anstiftung zum Mord: Aus
Uwe Behrendt modellierten die Richter einen außer Kontrolle geratenen
todbringenden Zauberlehrling, an dessen Entschluss, Plan und Mordaktion
sein Herr und Meister Hoffmann keinen Anteil gehabt und von dem dieser
nichts gewusst haben soll. So befand das Gericht, dass Behrendt für den
Doppelmord von Erlangen ganz allein verantwortlich sei. Vor dem Nürnberger
Gericht Stellung nehmen konnte auch dieser Einzeltäter nicht – er soll sich
vor Beginn des Prozesses im Hoffmann’schen Wehrsportcamp im Libanon selbst
getötet haben.
## Umdenken bei der Polizei
Der Mythos vom Einzeltäter begleitet die halbherzige polizeiliche,
juristische und politische Bekämpfung des Rechtsextremismus bis heute. Aber
seit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wird Verharmlosungen,
Individualisierungen und Personalisierungen mit wacher Skepsis begegnet.
Die kritische Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nimmt allmählich zu.
Polizeiliche Ermittler vermeiden heute meist den traditionellen Reflex,
sich frühzeitig auf einen Einzeltäter festzulegen. Und allmählich schärfen
Polizistinnen und Polizisten ihre Aufmerksamkeit gegenüber rassistischen
und antisemitischen Motiven bei Angriffen auf migrantische, jüdische oder
muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger – nicht immer, aber immer öfter.
Nur auf der Ebene der Justiz halten Staatsanwaltschaften inklusive der
Bundesanwaltschaft, aber auch Gerichte, wo immer möglich, am
Einzeltätermythos fest. Im spektakulären Fall des NSU haben die
Bundesanwaltschaft und das Oberlandesgericht München das Schema variiert:
Aus dem Einzeltäter wurde ein verschworenes, angeblich abgeschottetes Trio:
Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe. [6][Nur einige der dem Trio besonders nahen
Helferinnen und Helfer standen mit vor Gericht und kamen mit geringen
Strafen davon].
Alle weiteren Strukturen, deren Gefährlichkeit am Fall NSU im öffentlichen
Bewusstsein so deutlich wie nie zuvor geworden ist, wurden von der
Bundesanwaltschaft und dem Gericht vollständig ausgeblendet: Das hatte mit
dem rechtsextremen, ausländerfeindlichen Kameradschaftsnetzwerk mit dem
harmlosen Namen „Thüringer Heimatschutz“ begonnen. Aus ihm rekrutierte und
radikalisierte sich das spätere Trio zum Mordkommando, das, unterstützt von
einem großen Umfeld, vom Jahr 1998 an im Untergrund leben konnte. Zu dritt
planten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Banküberfälle und
Morde; mit logistischer Hilfe des Umfelds, das Waffen beschaffte und
Tatfahrzeuge besorgte, gingen sie zu Werk.
In der Reduktion der terroristischen Vereinigung NSU auf das Trio, dem die
Bundesanwaltschaft die gesamte Täterschaft zuschrieb, offenbarte sich, dass
rechte Netzwerke auch weiterhin nicht ernst genommen und konsequent
bekämpft werden. Dabei war die bundesweite Mordserie der aus der Ferne
anreisenden Mörder nicht denkbar ohne Hilfe vor Ort. Die Polizei war den
NSU-Tätern nach ihrem Abtauchen in den Untergrund und noch vor dem Beginn
ihrer Mordserie auf den Fersen, aber fasste sie nicht.
Verfassungsschützer [7][finanzierten den Aufbau des Thüringer
Heimatschutzes] und hatten damit von Anfang an V-Leute auch im Umfeld der
später untergetauchten NSU-Aktivisten. Anstatt sie ausfindig zu machen, sie
der Polizei zu melden und den Erfolg der Ermittlungen gegen das Trio zu
befördern, warnten sie die Szene und behinderten diese Ermittlungen.
## Der Einzeltäter neuen Typs
In den vergangenen Monaten wurde ein weiteres rechtsextremes Netzwerk
sichtbar, das sich in einer für unsere Sicherheit und die Aufrechterhaltung
des Rechtsstaats fundamental wichtigen Institution eingenistet hat – in der
Polizei: Nicht nur die Rechtsanwältin [8][Seda Başay-Yıldız erhielt mit
„NSU 2.0“ unterzeichnete Mails mit Morddrohungen], sondern auch Janine
Wissler, die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei in Hessen, und ihre
Parteikolleginnen Anne Helm und Martina Renner. Die dabei verwendeten
persönlichen Daten der Betroffenen in Hessen bezogen die Drohbriefschreiber
aus einem Frankfurter Polizeicomputer.
Kurz zuvor hatten sich die Erkenntnisse über rechtsextreme Netzwerke im
Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr so verdichtet, dass
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer die Notbremse zog und
sich veranlasst sah, mit der Auflösung des gesamten Verbandes zu drohen, in
dem sich Zellen miteinander verschworener Rechtsextremer gebildet haben,
die Waffen, Munition und Sprengstoff horten und für den Tag X des Aufstands
planen.
Es ist nur ein schwacher Trost, dass in diesen Fällen heute begriffen wird,
dass wir es tatsächlich mit vielen zu tun haben, die sich in
schlagkräftigen Netzwerken organisieren und radikalisieren. Die
Einzeltäter, sie gibt es auch und zusätzlich immer noch – Einzeltäter neuen
Typs. Sie müssen nicht mehr vor einem operettenhaften selbst ernannten
Wehrsportgeneral exerziert werden und sich dessen krude
Verschwörungserzählungen angeeignet haben. Diese gibt es heute auch frei
Haus per Internetanschluss, samt Bauanleitung für Waffenteile aus dem
3D-Drucker.
Dieser Text ist das gekürzte erste Kapitel des Buchs „Das
Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen. Wie Rechtsterrorismus
und Antisemitismus seit 1980 verdrängt werden“, Ch. Links Verlag, das jetzt
in einer erweiterten und aktualisierten Auflage vorliegt.
8 Sep 2020
## LINKS
[1] /Prozess-zum-Mord-an-Walter-Luebcke/!5702042
[2] /Anschlag-auf-Synagoge-in-Halle/!5633937
[3] /Ermittlung-zu-Oktoberfestattentat-eingestellt/!5698570
[4] /Rueckblick-auf-Neonazi-Wehrsportgruppe/!5657036
[5] /Einzeltaeter-These-erschuettert/!5151398
[6] /Analyse-der-NSU-Urteilsgruende/!5678676
[7] /Zwischenbericht-zur-NSU/!5071524
[8] /Hessischer-Polizeiskandal/!5695338
## AUTOREN
ulrich chaussy
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