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# taz.de -- Rückblick auf Neonazi-Wehrsportgruppe: Ihr Anführer hieß Karl
> Vor 40 Jahren wurde die paramilitärische Neonazi-Vereinigung WSG Hoffmann
> verboten. Ihr Terror ist bis heute nicht abschließend aufgeklärt.
Bild: Auftakt des Prozesses gegen Neonazi Karl-Heinz Hoffmann im Jahre 1984
Berlin taz | Als der damalige Bundesinnenminister Gerhart Baum am 30.
Januar 1980 die [1][nach ihrem Anführer benannte Wehrsportgruppe Hoffmann]
(WSG) verbot, war diese eine der wichtigsten Vereinigungen des
bundesdeutschen Neonazismus. Über 400 Personen waren zu diesem Zeitpunkt in
der Wehrsportgruppe organisiert.
Im Zuge der Durchsuchungen wurden 18 Wagenladungen mit Sprengstoff, Waffen
und Munition beschlagnahmt. Ihren Schwerpunkt hatte die WSG in Bayern, doch
weder der damalige CSU-Innenminister Gerold Tandler noch Ministerpräsident
Franz Josef Strauß sahen die Notwendigkeit, gegen die Organisation
vorzugehen. Stattdessen bedurfte es der Entschlossenheit des FDP-Politikers
Baum, der schließlich die paramilitärische Gruppe verbot.
Die Gefahr, die von der WSG ausging, wurde noch im selben Jahr
überdeutlich. Am 26. September [2][explodierte am Eingang zum Oktoberfest
eine Bombe], die 13 Personen tötete und über 200 teils schwer verletzte.
Unter den Toten war auch der Student Gundolf Köhler. Zeugen beobachteten
ihn, wie er kurz vor der Explosion eine Tüte in einen Papierkorb legte.
Schnell wurden Köhlers Verbindungen zur extremen Rechten bekannt: Vor der
Tat äußerte er Bekannten gegenüber, dass man einen Anschlag begehen müsse,
der als das Werk von linken Terroristen erscheinen sollte; in Köhlers
Wohnung fanden die Ermittler einen Mitgliedsausweis der Wiking-Jugend, und
bekannt wurde auch, dass Köhler an Übungen der WSG teilgenommen hatte.
Trotz dieser Hinweise wurde das Motiv schnell im persönlichen Bereich
verortet, die Ermittlungen auf die Hypothese „Einzeltäter“ verengt und
dementsprechend 1982 eingestellt.
## Neu aufgenommene Ermittlungen
Dabei blieben zahlreiche Ungereimtheiten bestehen. So wurde Köhler
unmittelbar vor der Tat im Gespräch mit zwei Männern in grünen Parkas
beobachtet. In Köhlers Auto, in dem Stunden vorher in Tatortnähe mehrere
Personen beobachtet worden waren, wurden 48 Zigarettenkippen mit
unterschiedlichen Speichelanhaftungen gefunden.
Zu den auffälligsten Widersprüchen gehört das Rätsel um ein am Tatort
aufgefundenes Handfragment, das weder Köhler noch einem der bekannten Opfer
zugeordnet werden kann. Dafür fand sich in den Unterlagen Köhlers ein
Fingerabdruck, der mit einem Abdruck der aufgefunden Hand übereinstimmte.
Ein heute durchführbarer DNS-Abgleich ist jedoch nicht mehr möglich: Das
Handfragment ist noch vor Ende der Ermittlungen im Bayerischen LKA
verschwunden.
2014 nahm die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen wieder auf. Dies ist vor
allem Ergebnis der jahrzehntelangen Bemühungen des Journalisten Ulrich
Chaussy und des Opfer-Anwalts Werner Dietrich. Bis heute dauern die neuen
Ermittlungen an. Ein Ende ist entgegen anderslautender Berichte im Sommer
2019 nicht abzusehen.
## Die Vereinigung im Libanon
Im Zuge der neuen Ermittlungen wird auch der sogenannte „Libanon-Komplex“
noch einmal beleuchtet. Im Libanon baute Karl-Heinz Hoffmann nach dem
Verbot in Kooperation mit der PLO eine neue Wehrsportgruppe auf. In einem
Ausbildungslager in einem Vorort von Beirut bezog die „Wehrsportgruppe
Ausland“ Quartier. Doch der Alltag bestand entgegen den Erwartungen vieler
Mitglieder nicht aus Aktionen oder der aktiven Teilnahme am Kampf gegen
Israel. Vielmehr war das Leben in Bir Hassan geprägt von Bauarbeiten,
Wehrsportübungen und autoritärem Drill.
Letzterer entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem um sich greifenden
Sadismus, der von Hoffmann, aber ebenso von weiteren ranghohen Mitgliedern
der Wehrsportgruppe ausgeübt wurde. Dieser Sadismus reichte von
kräftezehrenden Zwangsmärschen mit durch Steine beschwerten Rucksäcken über
körperliche, erniedrigende Strafen bis zu brutaler Folter. Dieser Folter
erlag vermutlich auch das WSG-Mitglied Kay-Uwe Bergmann.
Immer wieder musste dieser Strafen über sich ergehen lassen, weil er
beispielsweise gegen das von Hoffmann erlassene Rauchverbot verstoßen
hatte. Zeugenaussagen legen nahe, dass Bergmann bei einer der Folterungen
starb. Seine Leiche wurde nie gefunden, die Todesumstände wurden nie
ermittelt.
## Neue Erkenntnisse über die Terroranschläge
Die Beschäftigung der Bundesanwaltschaft mit der Wehrsportgruppe Ausland
könnte also ein weiteres ungeklärtes Tötungsdelikt aufklären. Und auch im
Hinblick auf das Oktoberfestattentat kann dieser Fokus neue Erkenntnisse
liefern – immerhin gestand WSG-Mitglied Walter Behle nur wenige Tage nach
dem Anschlag einem Barkeeper in Damaskus: „Das waren wir selbst.“ Als Behle
später von deutschen Behörden zu seinem Geständnis befragt wurde, widerrief
er es und machte Geltungsdrang und Alkohol verantwortlich.
Doch auch für zwei weitere Morde ist der Libanon-Komplex relevant. Am 19.
Dezember 1980 wurden der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine
Lebensgefährtin Frida Poeschke in ihrem Bungalow in Erlangen erschossen.
Neben den Leichen blieben am Tatort Metallreste und eine Sonnenbrille der
Marke Schubert zurück. Die Metallteile konnten schnell als Reste eines
selbstgebauten Schalldämpfers identifiziert werden.
Die Sonnenbrille war, wie sich später herausstellte, eine Sonderanfertigung
und ein Geschenk des Herstellers an Franziska Birkmann, die nur 16
Kilometer entfernt mit Hoffmann und dem später als Täter ermittelten Uwe
Behrendt in einem Schloss in Ermreuth lebte.
## Ermittlungen in die falsche Richtung
Doch trotz dieser räumlichen Nähe, trotz des Umstands, dass Lewin sich
öffentlich gegen die Gefahr des Neonazismus engagierte und in diesem
Zusammenhang explizit Karl-Heinz Hoffmann und seine Wehrsportgruppe
thematisierte, und ungeachtet der Tatsache, dass bei Hoffmann im Rahmen der
Durchsuchungen nach dem Oktoberfestanschlag eine Ausgabe des italienischen
Magazins Oggi gefunden wurde, in dem nicht nur Hoffmann prominent behandelt
wurde, sondern in dem auch Lewin deutliche Worte gegen Hoffmann findet –
trotz all dieser Hinweise gingen die Ermittlungen erst Monate nach der Tat
dem Verdacht nach, Neonazis könnten die Täter sein.
Stattdessen geriet in den Ermittlungen und in der Öffentlichkeit zunächst
das Opfer Lewin in den Fokus. So war in den Erlanger Nachrichten von
„Ungereimtheiten“ in Lewins „schillernder Vergangenheit“ die Rede, es w…
gemutmaßt, Lewin sei ein Agent des israelischen Auslandsgeheimdienstes. Den
Ermittlungsakten ist außerdem zu entnehmen, dass die Polizei nach der Tat
zunächst Nachforschungen in der jüdischen Gemeinde Nürnberg anstellte. Dort
war Lewin von 1977 bis 1979 Vorsitzender.
Erst im Mai 1981, ein halbes Jahr nach den Morden, wurde Schloss Ermreuth
durchsucht, und die Neonazis der Wehrsportgruppe wurden in den folgenden
Monaten vernommen. Im Zuge dessen berichteten WSG-Mitglieder, Hoffmann habe
nicht nur zusammen mit Behrendt einen Schalldämpfer gebaut, wie er bei der
Tat verwandt wurde, er soll auch versucht haben, WSG-Mitglieder für einen
Mord an einem Juden zu rekrutieren. Dabei wurden etliche Details im
Vorgehen beschrieben, die sich in der Tatbegehung wiederfinden.
## Widersprüche, die aufgelöst werden könnten
1984 schließlich begann der Prozess gegen Hoffmann und Birkmann. Er endete
zwei Jahre später mit einem Freispruch für beide in allen die Morde
betreffenden Anklagepunkten. Zwar räumte Hoffmann ein, Behrendts Flucht in
den Libanon unterstützt und Beweismittel vernichtet zu haben, doch am Ende
galt Uwe Behrendt als Einzeltäter. Er soll sich außerdem Aussagen von
WSG-Mitgliedern zufolge schon 1981 das Leben genommen haben.
Wesentliche Fragen wurden nicht beantwortet: Wie gelangte Behrendt zum
Tatort? Wo ist die Tatwaffe? Handelte Behrendt wirklich allein und ohne
Auftrag?
Die Wehrsportgruppe Hoffmann existiert schon lange nicht mehr, die meisten
Ihrer Mitglieder leben jedoch noch. Und: Die Morde an Lewin und Poeschke
wie auch das Attentat auf das Oktoberfest müssen als unaufgeklärt und
aktuell gelten, solange die Widersprüche fortbestehen. Noch könnten die
Ermittlungen der Bundesanwaltschaft einige dieser Widersprüche aufklären.
30 Jan 2020
## LINKS
[1] /Ex-Wehrsportgruppenchef-vor-Gericht/!5273171
[2] /Ermittlungen-im-Oktoberfest-Attentat/!5336431
## AUTOREN
Sebastian Wehrhahn
## TAGS
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