| # taz.de -- Analyse der NSU-Urteilsgründe: Die Schuld der Beate Zschäpe | |
| > Auf 3.025 Seiten Urteilsbegründung wird Zschäpes Handeln im NSU | |
| > untermauert. Der treueste Helfer des Trios wird allerdings entlastet. | |
| Bild: An ihrer Schuld besteht kein Zweifel: Beate Zschäpe | |
| BERLIN taz | Es ist ein historisches Dokument. Auf 3.025 Seiten sezieren | |
| die RichterInnen des Oberlandesgerichts München in ihrer schriftlichen | |
| Urteilsbegründung die Schuld von Beate Zschäpe und vier Mitangeklagter an | |
| der NSU-Terrorserie. An den zehn Morden, den zwei Anschlägen in Köln, den | |
| 15 Raubüberfällen. [1][Vor wenigen Tagen wurde der Schriftsatz an die | |
| Prozessbeteiligten verschickt]. Er ist wegweisend. Halten die Urteile der | |
| Überprüfung des Bundesgerichtshofs stand? Lassen sich darauf weitere | |
| Anklagen gegen NSU-Helfer begründen? | |
| Fünf Jahre hatten die RichterInnen um den Vorsitzenden Manfred Götzl über | |
| den Terror des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ verhandelt. [2][Am 11. | |
| Juli 2018 fällten sie ihr Urteil: lebenslange Haft für Zschäpe, mit | |
| besonderer Schwere der Schuld, und Strafen von zweieinhalb bis zehn Jahren | |
| für die Mitangeklagten]. Für das Gericht war klar: Zschäpe handelte | |
| gleichwertig neben ihren Untergrundkumpanen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. | |
| Sie ist voll für die Terrortaten verantwortlich. | |
| Genau das war die zentrale Frage des Prozesses: War Zschäpe wirklich | |
| gleichwertige Mittäterin des Terrortrios? Obwohl sie an keinem Tatort war? | |
| In der Urteilsbegründung, die der taz vorliegt, untermauern die | |
| RichterInnen nun ihre Sicht – und das akribisch. Gut 1.900 Seiten widmen | |
| sie der Beweiswürdigung von Zschäpes Taten. Und sie lassen keinen Zweifel: | |
| Zschäpes Tatbeiträge seien „von überragender Wichtigkeit“ für die | |
| Terrorserie gewesen, ja „geradezu Bedingung“. Alle Taten des Trios hätten | |
| „gemeinsam, arbeitsteilig in bewusstem und gewollten Zusammenwirken“ | |
| stattgefunden. | |
| ## Zschäpes „unverzichtbare“ Beiträge | |
| Zschäpe habe dabei das Trio mit Alibis getarnt, die Abwesenheiten der Uwes | |
| mit Vorwänden verschleiert – und auch mit den Männern die Tatorte und Opfer | |
| ausgesucht. Dass sie bei den Taten nicht vor Ort war, sei „unverzichtbarer“ | |
| Teil des Plans gewesen – um die Wohnung abzusichern, die als „Zentrale“ | |
| diente. Und um dort im Ernstfall Beweise zu vernichten und die | |
| Bekenner-DVDs zu verschicken. Wie es Zschäpe im November 2011 tatsächlich | |
| tat. Erst da flog der NSU auf. Zschäpe, so die RichterInnen, habe damit die | |
| Terrorserie abgeschlossen und als solche erst erkennbar gemacht. | |
| Zschäpe hatte diese Deutung ganz am Ende des Prozesses noch zu zerstreuen | |
| versucht. Plötzlich brach sie ihr langes Schweigen und ließ erklären, alle | |
| Taten hätten allein Mundlos und Böhnhardt verübt, sie selbst sei stets erst | |
| im Nachhinein eingeweiht worden. Über die Taten sei sie „entsetzt“ gewesen. | |
| Gegen die Männer habe sie sich aber nicht durchsetzen können, von Böhnhardt | |
| sei sie gar geschlagen worden. | |
| Die RichterInnen weisen diese Aussagen allesamt als „unglaubhaft“ zurück. | |
| Denn Zschäpe selbst verfolge „nationalsozialistisch-rassistische | |
| Vorstellungen“, der Terror habe ihrer „ideologischen Interessenlage“ | |
| entsprochen. So habe Zschäpe mit Böhnhardt und Mundlos schon vor dem | |
| Abtauchen 1998, in der Kameradschaft Jena, dafür plädiert, [3][man müsse | |
| „mehr machen“, und dies mit dem Aufstellen von Bombenattrappen auch | |
| umgesetzt]. Das Trio sei „persönlich und ideologisch aufeinander fixiert“ | |
| gewesen und habe sich „zunehmend radikalisiert“. Die Mordanschläge seien | |
| dann der nächste Schritt gewesen, „eine Eskalation ihrer | |
| Gewaltbereitschaft“. Ein gemeinsamer Schritt. | |
| ## Senat hält Zschäpes Aussagen für „unglaubhaft“ | |
| Zschäpe sei unterdrückt worden? Nein, so das Gericht: Alle Zeugen hätten | |
| das Trio harmonisch erlebt und Zschäpe als selbstbewusst. Gewalt von | |
| Böhnhardt? Die Angaben seien viel zu „widersprüchlich“: Mal sei von | |
| Schlägen die Rede, dann nur von festem Anpacken, mal sei die Gewalt bis | |
| 2001 erfolgt, dann bis 2008. Zschäpes behauptetes Alkoholproblem, etwa beim | |
| Inbrandsetzen des letzten Unterschlupfs, mit mehreren Flaschen Sekt intus? | |
| Habe es nicht gegeben: Zschäpe habe bei der Tat kontrolliert gehandelt, | |
| Bekannten sei auch sonst nie ein Alkoholproblem aufgefallen und Zschäpe | |
| habe in Haft keine Entzugserscheinungen gehabt. | |
| Für das Bild der machtlosen Zschäpe hatten die Verteidiger auch einen | |
| eigenen Gutachter aufgefahren: den Psychiater Joachim Bauer. [4][Er | |
| attestierte Zschäpe eine „dependente Persönlichkeitsstörung“, eine schwe… | |
| Abhängigkeit] – und damit eine verminderte Schuldfähigkeit. Schon im | |
| Prozess hatte das Gericht Bauer aber als befangen abgelehnt. In den | |
| Urteilsgründen greift der Senat dessen Diagnose nicht mal mehr auf – | |
| sondern stellt sich voll hinter den selbst bestellten Gutachter Henning | |
| Saß, der Zschäpe „Raffinesse und Disziplin“ attestierte und eine volle | |
| Schuldfähigkeit. Saß’ Einschätzungen sei „überzeugend“ und „von gro… | |
| Sachkunde getragen“. Ebenso bündig wird der zweite Gutachter von Zschäpes | |
| Anwälten – Pedro Faustmann, der das methodische Vorgehen von Saß | |
| kritisierte – abgehandelt: „Methodische Fehler lassen die gutachterlichen | |
| Ausführungen Prof. Dr. Saß soweit nicht erkennen.“ | |
| Zschäpes Verteidiger verweisen auch auf die Rechtsprechung des | |
| Bundesgerichtshofs (BGH), die strenge Maßstäbe für eine Mittäterschaft | |
| ansetzt. [5][Anwalt Mathias Grasel kündigte an, in seiner | |
| Revisionsbegründung das NSU-Urteil daran zu „messen“]. Auf den BGH bezieht | |
| sich indes auch Götzls Senat: Er verweist auf eine aktuelle | |
| BGH-Entscheidung, wonach für eine Mittäterschaft nicht die Anwesenheit am | |
| Tatort nötig sei. Vielmehr reichten Beiträge zur Tat, ein eigenes Interesse | |
| daran und ein Einfluss auf die Tatausführung. Und dies, so die | |
| RichterInnen, sei bei Zschäpe „in allen Fällen gegeben“. | |
| ## Der treuste Helfer soll nichts gewusst haben | |
| Bei einem Angeklagten aber war das Gericht überraschend von der Anklage | |
| abgewichen: bei André Eminger. [6][Von fast Anfang an bis zum Schluss hielt | |
| der Neonazi, der sich „Die Jew Die“ auf den Bauch tätowierte, dem Trio die | |
| Treue, besorgte eine Wohnung, Bahncards und Wohnmobile]. Mit einem der | |
| Fahrzeuge fuhr der NSU zu seinem ersten Bombenanschlag 2001 in Köln. Zwölf | |
| Jahre Haft forderte deshalb die Bundesanwaltschaft für Eminger – und | |
| fragte, ob er nicht das vierte Mitglied des NSU gewesen sei. | |
| Das Gericht sah und sieht es anders: Es verurteilte Eminger nur zu | |
| zweieinhalb Jahren Haft – weil er bei fast allen Hilfen nichts von den | |
| Terrortaten gewusst habe. [7][Als Götzl dies im Gericht verkündete, brachen | |
| anwesende Neonazis in Jubel aus]. | |
| Der Senat unterstreicht nun aber seine Sicht – und benennt Eminger explizit | |
| als „Nichtmitglied“ des NSU. Die Begründung: Eminger habe – trotz seiner | |
| Hilfen – in den Anfangsjahren nur spärlich Kontakt zum Trio gehabt. Es sei | |
| daher „fernliegend“, dass er in die Terrortaten eingeweiht wurde – dafür | |
| habe „weder eine Veranlassung noch eine Notwendigkeit“ bestanden. Dem Trio | |
| reichte es, Eminger nur den Grund ihres Untertauchens zu erzählen: die | |
| Sprengstofffunde in einer Jenaer Garage. Auch habe Eminger nicht ahnen | |
| können, dass mit den Wohnmobilen Terror verübt wurde – das Anmieten war | |
| „alltägliches Geschäft“. | |
| Erst 2007, als Eminger das Trio vor dem Auffliegen bewahrte, sei er in die | |
| Terrorserie eingeweiht worden, glaubt das Gericht. Damals musste Zschäpe | |
| wegen eines Wasserschadens im Haus bei der Polizei vorsprechen. Eminger | |
| begleitete sie und behauptete, Zschäpe sei seine Frau. Beide seien nur zu | |
| Besuch im Haus gewesen. Der Polizist glaubte es. Erst nach diesem enormen | |
| Hilfsdienst habe Eminger von den Morden erfahren. Mit diesem Wissen habe | |
| der Zwickauer aber nur noch die Bahncards besorgt – und könne deshalb auch | |
| nur dafür als Terrorunterstützer verurteilt werden. | |
| ## Keine Worte zum Versagen des Verfassungsschutzes | |
| Es ist eine Sicht, die Opferanwälte und die Bundesanwaltschaft stark in | |
| Zweifel ziehen. Sie verweisen auf Emingers jahrelangen Kontakt zum Trio, | |
| seine Loyalität und Gewalt befürwortende Neonazi-Ideologie: Warum sollte | |
| das Trio gerade ihm die Taten verschweigen? Im Fall Eminger hat deshalb | |
| auch die Bundesanwaltschaft Revision eingelegt. | |
| Haben die Ausführungen des Gerichts zu Eminger Bestand, sind weitere | |
| Anklagen gegen NSU-Unterstützer wohl vom Tisch. Denn wenn nicht mal der | |
| langjährigste und engste Helfer als Mitwisser verurteilt werden kann, wie | |
| soll dies erst bei anderen gelingen? Opferanwälte nennen in einer Erklärung | |
| deshalb „die Frage, wie es mit der Revision der Bundesanwaltschaft | |
| weitergeht, die spannendste und wichtigste“. | |
| Die Urteilsgründe bestätigen die Opferanwälte indes auch in einer anderen | |
| Kritik: dass sich das Gericht zu wenig mit weiteren Helfern des NSU sowie | |
| dem Versagen von Verfassungsschutz und Ermittlern beschäftigt habe. | |
| Vielmehr betont der Senat, wie „abgeschottet, vorsichtig und legendiert“ | |
| die „drei Personen“ agiert hätten. Von einem womöglich größeren | |
| NSU-Netzwerk ist keine Rede. Auch das Agieren des Verfassungsschutzes wird | |
| mit keinem Wort erwähnt, [8][ebenso wenig wie dessen einstiger Mitarbeiter | |
| Andreas Temme, der beim Kasseler NSU-Mord anwesend war]. Das Gericht hält | |
| sich nur an den Schuldnachweis für die Angeklagten – und nur den. | |
| Ob die Urteile gegen Eminger, Zschäpe und die anderen Bestand haben, liegt | |
| in der Hand des BGH. Einzig Carsten S., der als Überbringer der Mordwaffe | |
| verurteilt wurde, zog seine Revision zurück und trat seine Haftstrafe | |
| bereits an. [9][Alle anderen Verurteilten haben einen Monat Zeit, ihre | |
| Revisionen zu begründen]. Nach einem schriftlichen Verfahren werden dann | |
| die BGH-Richter über die NSU-Urteile entscheiden – das aber wohl erst 2021. | |
| Aktualisiert am 30.04.2020 um 13:15 Uhr. In einer früheren Version des | |
| Artikels stand, dass der Gutachter Joachim Bauer der Angeklagten Beate | |
| Zschäpe eine Schuldunfähigkeit attestierte. Dies war falsch und wurde | |
| korrigiert. Bauer attestierte Zschäpe eine verminderte Schuldfähigkeit. | |
| 28 Apr 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Urteilsbegruendung-im-NSU-Prozess/!5680220 | |
| [2] /Urteile-im-NSU-Prozess/!5517273 | |
| [3] /Widersprueche-nach-Zschaepe-Aussage/!5260905 | |
| [4] /Kritik-an-Gutachter-von-Beate-Zschaepe/!5409973 | |
| [5] /Revisionen-im-NSU-Verfahren/!5680522 | |
| [6] /Andre-Eminger-im-NSU-Prozess/!5432565 | |
| [7] /Urteil-im-NSU-Prozess-fuer-Andre-Eminger/!5517433 | |
| [8] /NSU-Serie-Teil-3/!5352788 | |
| [9] /Revisionen-im-NSU-Verfahren/!5680522 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Beate Zschäpe | |
| OLG München | |
| NSU-Prozess | |
| Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) | |
| Rechtsextremismus | |
| Beate Zschäpe | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Antisemitismus | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| IG | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Rechtsterroristin Beate Zschäpe: Mit Beschwerde gescheitert | |
| Die Rechtsterroristin Beate Zschäpe ist gescheitert. Sie hatte | |
| Verfassungsbeschwerde gegen ihre Verurteilung wegen Mordes eingelegt. | |
| Eingabe von Zschäpe abgelehnt: Keine „Überraschungsentscheidung“ | |
| Die Anwälte der NSU-Terroristin sahen Zschäpes Anspruch auf rechtliches | |
| Gehör verletzt. Dies wies der Bundesgerichtshof nun zurück. | |
| Verfassungsbeschwerde eingelegt: Zschäpe geht gegen NSU-Urteil vor | |
| Der Bundesgerichtshof hat das Urteil gegen Beate Zschäpe bestätigt. Die | |
| NSU-Terroristin legt dagegen nun eine Verfassungsbeschwerde ein. | |
| Terrorprozess in München: Die Heilpraktikerin mit der Bombe | |
| In München steht eine Angehörige des „III. Weg“ vor Gericht. Sie soll | |
| Patronenhülsen verschickt und einen Brandanschlag geplant haben. | |
| Nazimorde in Deutschland: Der fatale Mythos vom Einzeltäter | |
| Auch 40 Jahre nach den Oktoberfest-Morden nimmt die Justiz rechte Netzwerke | |
| nicht ernst. Ein Umdenken findet nur langsam statt. | |
| Beate Zschäpe legt Revision ein: NSU-Urteil auf dem Prüfstand | |
| Im NSU-Verfahren legen die Verteidiger von Beate Zschäpe ihre | |
| Revisionsbegründung vor. Der Bundesgerichtshof ist nun am Zug – und das | |
| kann dauern. | |
| Urteilsgründe im NSU-Prozess: „Formelhaft, ahistorisch und kalt“ | |
| Opferangehörige und ihre Anwälte kritisieren hart die vorgelegten | |
| Urteilsgründe zum NSU-Prozess: Diese seien ein „Mahnmal des Versagens“. | |
| Revisionen im NSU-Verfahren: Viel Arbeit, wenig Zeit | |
| Seit Dienstag liegt das schriftliche NSU-Urteil vor, nun schreiben die | |
| VerteidigerInnen an den Revisionen. Dafür gilt eine knappe Frist. | |
| Urteil im NSU-Prozess: Nicht allen zugänglich | |
| Das schriftliche NSU-Urteil wird nicht offiziell veröffentlicht. Zu sehen | |
| bekommen es zunächst nur die Angeklagten und die Staatsanwaltschaft. | |
| Urteilsbegründung im NSU-Prozess: 3.025 Seiten Schuldspruch | |
| 21 Monate nach dem NSU-Urteil legt das Oberlandesgericht München jetzt die | |
| schriftlichen Urteilsgründe vor. Nun sind die Verteidiger am Ball. |