| # taz.de -- Urteilsgründe im NSU-Prozess: „Formelhaft, ahistorisch und kalt�… | |
| > Opferangehörige und ihre Anwälte kritisieren hart die vorgelegten | |
| > Urteilsgründe zum NSU-Prozess: Diese seien ein „Mahnmal des Versagens“. | |
| Bild: „Das Urteil hat keine Gerechtigkeit gebracht.“ Elif Kubaşık, Witwe … | |
| Berlin taz | Es sind Worte tiefer Enttäuschung. „Die Gerechtigkeit, die ich | |
| uns gegenüber erhofft hatte, hat das Urteil nicht gebracht“, schreibt Elif | |
| Kubaşık an die Richter im NSU-Prozess. „Es ist, als ob Mehmet nur eine | |
| Nummer für Sie gewesen ist, als ob es unsere Fragen nicht gegeben hätte.“ | |
| Mehmet, der Mann von Elif Kubaşık. Erschossen vom NSU am 4. April 2006 in | |
| Dortmund. | |
| Elif Kubaşık saß im NSU-Prozess, immer wieder. Sie sagte als Zeugin aus, | |
| [1][sie sprach ein Schlusswort], [2][sie reiste auch zur Urteilsverkündung | |
| am 11. Juli 2018]. „Dieser Tag hat sich bei mir eingebrannt“, schreibt Elif | |
| Kubaşık. Weil der Vorsitzende Richter Manfred Götzl seinen Urteilsspruch | |
| nur „kalt“ heruntergelesen habe. Weil er sie, die Opferangehörigen, darin | |
| mit keinem Wort erwähnte. Weil er Ismail Yozgat, den Vater des erschossenen | |
| Halit Yozgat, „mit Unbarmherzigkeit“ zum Schweigen brachte, als dieser im | |
| Saal vor Schmerz aufschrie. Und weil Götzl nichts zu den vielen offenen | |
| Fragen sagte, welche die Familien bis heute zur NSU-Terrorserie umtreiben. | |
| Elif Kubaşık musste damals den Saal verlassen. | |
| Und nun wiederholt sich alles. | |
| [3][Denn vor wenigen Tagen legte Götzls Senat seine schriftliche Begründung | |
| des NSU-Urteils vor]. Auf 3.025 Seiten sezieren die RichterInnen darin die | |
| Schuld von Beate Zschäpe und den vier Mitangeklagten an der | |
| NSU-Terrorserie, an den zehn Morden, den zwei Anschlägen und den 15 | |
| Raubüberfällen. Beate Zschäpe erhielt dafür lebenslängliche Haft, vier | |
| Mitangeklagte bekamen Haftstrafen von zweieinhalb bis zehn Jahren. | |
| ## 3.025 Seiten Urteilsgründe, aber kein Wort an die Opfer | |
| [4][Aber auch auf diesen 3.025 finden sich keine Ausführungen dazu, welche | |
| Folgen die Morde für die Angehörigen hatten]. Und auch keine Worte zum | |
| jahrelangen Versagen der ErmittlerInnen und VerfassungsschützerInnen bei | |
| der NSU-Terrorserie. | |
| Für Elif Kubaşık ist das schwer zu verkraften. Deshalb schrieb sie nun ihre | |
| Erklärung, adressiert an Götzls Senat. Sie sei, um Antworten auf ihre | |
| Fragen zu bekommen, immer wieder ins Gericht gekommen, „obwohl es mir | |
| unendlich schwerfiel“. Warum wurden die Rechtsterroristen nicht gestoppt? | |
| Welche Helfer hatten sie? Was wusste der Staat? Sie habe auf Antworten dazu | |
| gehofft, und auf ein gerechtes Urteil, erklärt Kubaşık. Aber: „Dieses | |
| Urteil ist nicht gerecht.“ | |
| Wenn die Urteilsgründe mit 3.025 Seiten schon so lang seien, „warum haben | |
| Sie dann nicht wenigstens aufgeschrieben, wonach Sie uns gefragt haben, was | |
| diese Morde mit uns und unseren Familien angerichtet haben?“, fragt | |
| Kubaşık. Warum gibt es keine Ausführungen zu weiteren Helfern? Dazu, wie | |
| nah der Staat dem Trio war? Wie der Verfassungsschutz Akten zerstörte? „Wir | |
| wollten nichts Unmögliches“, schreibt Kubaşık. „Wir wollten, dass Sie uns | |
| ernsthaft zuhören. Uns, die schon vor allen anderen ahnten, dass hinter den | |
| Morden Nazis stecken. Wir wollten, dass Sie Ihre Pflicht tun. Dass Sie | |
| untersuchen, was geschehen ist. Dass Sie aufschreiben, was gesagt worden | |
| ist.“ | |
| ## Auch 19 Opferanwälte kritisieren Senat hart | |
| Und Elif Kubaşık ist mit ihrer Abrechnung nicht allein. Auch 19 AnwältInnen | |
| von Opferangehörigen kritisieren in harschen Worten die vorgelegte | |
| Urteilsbegründung. Diese sei „formelhaft, ahistorisch und kalt“, heißt es | |
| in ihrer gemeinsamen Erklärung. Das Urteil negiere das Helfernetzwerk der | |
| Rechtsterroristen, verkürze die Beweisaufnahme „bis zur Unkenntlichkeit“ | |
| und trage „nichts zur Wahrheitsfindung im NSU-Komplex bei“. Das Versagen | |
| der Ermittler und des Verfassungsschutzes würden „totgeschwiegen“. Die | |
| Urteilsgründe legten offen, dass die Richter „kein Interesse an einer | |
| Aufklärung hatten“. | |
| Und auch die AnwältInnen beklagen den Umgang mit den Opfern. Das Gericht | |
| stehe diesen „mit hässlicher Gleichgültigkeit“ gegenüber. In den | |
| Urteilsgründen würde über die Getöteten mit „extremer Kälte“ geschrieb… | |
| und lediglich vermerkt, dass diese Menschen mit Migrationsgeschichte waren. | |
| Das Gericht gebe ihnen kein Gesicht, es mache sie zu „austauschbaren | |
| Statisten“. Das NSU-Urteil sei damit „ein Mahnmal des Versagens des | |
| Rechtsstaats, der die Angehörigen der NSU-Mordopfer über Jahre erst | |
| kriminalisierte und nun endgültig im Stich gelassen hat“. | |
| [5][Mit den vorlegten Urteilsgründen haben die VerteidigerInnen nun bis | |
| Mitte Mai Zeit, um ihre Revisionen für den Bundesgerichtshof zu begründen]. | |
| Auch die Bundesanwaltschaft hatte Revision eingelegt, hier gegen das milde | |
| Urteil von zweieinhalb Jahren Haft für den Mitangeklagten André Eminger. | |
| [6][Neonazis hatten dieses damals mit Jubel im Saal quittiert]. Auch dies | |
| war ein Schock für die anwesenden Opferfamilien. | |
| Viele Angehörigen scheinen nicht mehr an eine weitere Aufklärung der | |
| NSU-Terrorserie zu glauben. Elif Kubaşık tut es – trotz aller Enttäuschung | |
| – dennoch. Es gebe bis heute viele Menschen, die „für die Wahrheit | |
| kämpfen“, schreibt sie. Die Hoffnung auf Antworten habe sie daher „trotz | |
| allem nicht ganz aufgegeben“. | |
| 2 May 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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