# taz.de -- Diskussion zum Mord an Walter Lübcke: Die Eiterbeule aufstechen | |
> In Kassel diskutierten PolitikerInnen und ExpertInnen über Erkenntnisse | |
> aus dem Mord an Walter Lübcke. Es herrschte seltene Einmütigkeit. | |
Bild: Gedenken an Walter Lübcke während des Hessentags | |
FRANKFURT taz | Zwei Erkenntnisse hat der [1][Mord am CDU-Politiker und | |
Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke] befördert: Zum einen die | |
Einsicht, dass Öffentlichkeit, Politik und Behörden die Gefahren des | |
Rechtsextremismus lange sträflich unterschätzt haben. Zum Zweiten, dass | |
Hass und Hetze im Netz nicht zu tolerieren sind, weil allzu oft auf Worte | |
auch Taten folgen. Zu diesem Ergebnis kamen PolitikerInnen und Experten bei | |
einer virtuellen Podiumsdiskussion in Kassel am Montag – rund ein Jahr nach | |
dem Mord an Lübcke im Juni 2019. | |
Eingeladen zur Diskussion, die zwar auf einer Bühne, aber ohne Publikum und | |
mit teils nur virtuell anwesenden Gästen stattfand, hatte das Bündnis Offen | |
für Vielfalt. Unter diesem Namen hatten sich vor einem Jahr zahlreiche | |
Initiativen, Wirtschaftsunternehmen, Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und | |
weitere engagierte BürgerInnen gegen Rassismus und Rechtsextremismus | |
zusammengeschlossen. | |
Anetta Kahane, Mitbegründerin und Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, | |
brachte es am Montag auf den Punkt: „Ich bin sehr froh, dass | |
Rechtsextremismus jetzt ernst genommen wird von der Politik. Leider | |
brauchte es dafür einen Regierungspräsidenten, die vielen migrantischen | |
Opfer haben da offenbar noch nicht zu einem Umdenken geführt“, sagte sie. | |
Seit der Vereinigung gab es in Deutschland 182 Tötungsdelikte mit | |
rechtsextremen oder rassistischem Motiv. | |
Michael Brand, CDU-Bundestagsabgeordneter aus dem nahegelegenen Fulda, | |
räumte ein, dass es auch in Bundeswehr und Polizei versäumt worden sei, | |
„zeitnah durchzugreifen“. Auf die rechten Umtriebe in der hessischen | |
Polizei angesprochen, beklagte er „Bunkerbewegungen“ in den Institutionen. | |
„Wenn man die Eiterbeule nicht aufsticht, dann leidet die ganze Institution | |
darunter“, sagte er und versicherte, es gebe inzwischen eine Kertwende. | |
„Was wir als Demokraten nicht zulassen dürfen, ist, dass eine | |
extremistische Minderheit das Kommando übernimmt.“ | |
## Warnung vor den Corona-Skeptikern | |
Staat und Gesellschaft müssten noch entschiedener gegen Hass und Hetze im | |
Netz vorgehen, sagte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, SPD. Das | |
von ihr eingebrachte Gesetz, das den Strafverfolgungsbehörden neue | |
Instrumente verschafft, sei ein wichtiger Schritt. „Wer im Netz Menschen | |
mit dem Tod bedroht, sie beleidigt und aufs Übelste beschimpft, muss damit | |
rechnen, dass der Staat reagiert“, so die Ministerin. | |
Ihre hessische Amtskollegin, Eva Kühne-Hörmann, CDU, berichtete über die | |
neue Online-Meldestelle „Hessen gegen Hetze“. Das Land habe dafür | |
zivilgesellschaftliche Vereine und NGOs als Partner gewinnen können. Seit | |
November seien so 19.000 Hinweise auf einschlägige Inhalte eingegangen, von | |
denen zuletzt 60 Prozent als strafrechtlich relevant eingestuft werden | |
mussten. „Melden reicht nicht, wir wollen verfolgen,“ sagte die | |
Landesjustizministerin und nannte Zahlen. Bei ihrem Amtsantritt vor sechs | |
Jahren habe es in Hessen vier Internet-Staatsanwälte gegeben, inzwischen | |
seien es 22; insgesamt 351 Ermittlungsverfahren seien wegen Hass und Hetze | |
im Netz eingeleitet worden. | |
Rechtsextremismus und Rassismus sei aber nicht allein mit staatlicher | |
Repression beizukommen ist, das war ebenso Konsens in der Runde. „Wir | |
brauchen jeden in dieser Gesellschaft, und die Demokraten dürfen sich auch | |
nicht einreden lassen, sie seien in der Minderheit“, so CDU-Mann Brand. | |
Eindringlich warnte der Journalist und Rechtsextremismusexperte Olaf | |
Sundermeyer vor aktuellen Gefahren. Im selben Umfeld, in dem der | |
mörderische NSU seine Unterstützer gefunden habe, [2][sei der mutmaßliche | |
Lübcke-Mörder, Stephan Ernst, unterwegs gewesen], sagte Sundermeyer. Er | |
sprach von einer „Gewaltachse des militanten Neonazismus“, die von | |
Westfalen über Kassel bis nach Thüringen reiche. Die Behörden hätten diese | |
Szene aus den Augen verloren, als sich deren feste Strukturen aufgelöst | |
hätten. | |
Auch die Aufmärsche gegen Chorona-Schutzmaßnahmen in den letzten Wochen | |
waren am Montag Thema. Sundermeyer verglich sie mit den | |
Pegidademonstrationen. Vor fünf Jahren seien Staat und Öffentlichkeit | |
Pegida nicht entschlossen genug entgegengetreten. Auch diesmal gehe es in | |
erster Linie nicht um die Sorge der BürgerInnen, etwa um Arbeitsplätze oder | |
Freiheitsrechte: „Was wir momentan auf der Straße erleben, das sind | |
dieselben Akteure, die vor vier, fünf Jahren die Politik vor sich | |
hergetrieben haben, mit dem Ziel, diesen Staat vorzuführen“. | |
Sundermeyer spielte darauf an, dass die Polizei zuletzt die von | |
Verschwörungstheoretikern inspirierten Demonstrationen geduldet und dabei | |
weder die die Corona-Schutzbestimmungen noch das Versammlungsrecht | |
durchgesetzt hatten. „Deren einzige Ziel ist, den Rechtsstaat vorzuführen. | |
Da muss man Haltung zeigen!“, forderte Sundermeyer. | |
12 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Christoph Schmidt-Lunau | |
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