# taz.de -- Opferangehörige im NSU-Prozess: Die Hinterbliebenen | |
> Die Witwe von Mehmet Kubaşık äußert harte Kritik: an der Aufklärung und | |
> an Beate Zschäpe. Aber es fallen auch Worte der Vergebung. | |
Bild: Elif Kubaşık an einer Gedenktafel für ihren Mann | |
MÜNCHEN taz | Elif KubaşıkStimme ist fest, den Blick aber vermag sie kaum | |
von ihrem Manuskript zu heben. Jede Reise zu diesem Prozess sei schwer | |
gewesen, so auch heute, sagt die 53-Jährige, als sie am Dienstagnachmittag | |
ganz in Schwarz gekleidet an das Rednerpult im Saal A101 des Münchner | |
Oberlandesgerichts tritt. Aber Kubaşık will sprechen, will eine Botschaft | |
aussenden, eine der letzten in diesem Prozess. | |
„Ich will, dass die Angeklagten hier verurteilt werden“, sagt Elif Kubaşı… | |
„Dass sie ihre verdiente Strafe bekommen.“ Diese Angeklagten sitzen nur | |
wenige Meter entfernt, in der ersten Reihe Beate Zschäpe. Sie schaut auf | |
Kubaşık ohne Regung. | |
Aber selbst wenn Zschäpe verurteilt werde, sagt Elif Kubaşık, habe ihr | |
dieser Prozess bei der wichtigsten Frage nicht geholfen: der nach dem | |
Warum. „Warum Mehmet? Gab es Helfer in Dortmund? Sehe ich sie heute immer | |
noch? Und was wusste der Staat?“ | |
Es war der 4. April 2006, um 12.55 Uhr, als Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos | |
den Kiosk von Elifs Mann Mehmet Kubaşık in Dortmund betraten. Sofort | |
schießen sie auf den 39-Jährigen, der hinter der Ladentheke steht. Ein | |
erster Schuss geht daneben, ein zweiter trifft Kubasik direkt in den Kopf. | |
Noch zwei weitere Male feuern die Täter auf ihr Opfer, dann fliehen sie. | |
Mehmet Kubaşık ist sofort tot. | |
## Anklage von Elif Kubaşık | |
Seit Mai 2013 wird auch diese Tat im Münchner NSU-Prozess verhandelt – so | |
wie die neun weiteren Morde, die zwei Sprengstoffanschläge und 15 | |
Raubüberfälle. Für die Bundesanwaltschaft ist klar: Die Hauptangeklagte | |
Beate Zschäpe ist dafür voll schuldig. Sie forderte lebenslange Haft mit | |
anschließender Sicherungsverwahrung. Und für die vier Mitangeklagten | |
Haftstrafen bis zu zwölf Jahren. | |
Nun ist eine weitere Schlussetappe angebrochen: die Plädoyers der | |
Nebenklage, der Opferangehörigen. Und Elif Kubaşık nutzt ihres für eine | |
Anklage. Sie beklagt, wie die Polizei nach dem Mord an ihrem Mann Hinweisen | |
nicht nachging. Und verweist auf die Kanzlerin, die nach den NSU-Morden | |
versprach, alles zu tun, um die Hintermänner der Mordserie zu ermitteln. | |
Aber weiter seien so viele Fragen offen, klagt sie. „Frau Merkel hat ihr | |
Versprechen gebrochen.“ | |
Elif Kubaşıks Leben war nach der Tat zerstört. Nach der Tat zählt die | |
Polizei die Mutter zu den Verdächtigen. Die Ermittler durchsuchen ihre | |
Wohnung, fragen sie nach Drogengeschäften ihres Mannes, nach der Mafia oder | |
der PKK, nach einer vermeintlichen Geliebten. Elif Kubaşık fragt, ob die | |
Täter nicht auch Neonazis sein könnten. Sie bleibt ungehört. Und zieht sich | |
mit den drei Kindern zurück, geht kaum mehr vor die Tür, leidet unter | |
Angstzuständen. Der Laden muss schließen. | |
Das Schicksal von Elif Kubaşık teilen auch weitere NSU-Hinterbliebene. Die | |
kommenden Wochen werden damit den Prozess füllen: 55 Anwälte wollen für die | |
95 NSU-Opfer und Angehörigen Schlussworte halten. | |
## Institutioneller Rassismus | |
Am Dienstag spricht der Anwalt Mehmet Daimagüler für zwei weitere Familien: | |
die von İsmail Yaşar und Abdurrahim Özüdoğru. Beide Männer, einer | |
Imbissbetreiber, einer Änderungsschneider, wurden in Nürnberg vom NSU | |
erschossen. Daimagüler berichtet, wie die Polizei auch nach dem Mord an | |
Özüdogru von Drogengeschäften sprach, seine Frau verdächtigte, ihr Telefon | |
überwachte. Auch bei Ismail Yasar sei sofort ein Drogenverdacht dagewesen, | |
selbst die Dönerspieße seien mit einem Spürhund untersucht worden. Wäre das | |
bei einem ermordeten Gastronom namens Müller auch so gewesen? „Seien wir | |
ehrlich: nein.“ Dabei hätten im Fall Yasar gleich vier Zeugen von zwei | |
hellhäutigen Radfahrern am Tatort berichtet. Daimagüler spricht von | |
institutionellem Rassismus. | |
Dann wendet sich Daimagüler direkt Zschäpe zu. Die weicht seinen Blicken | |
nicht aus. „Was haben Sie denn dazu beigetragen, dass unser Land besser | |
wird?“ Daimagüler zieht den Vergleich zu Mashia M., dem Kölner Bombenopfer. | |
Diese arbeite heute als Ärztin, rette Menschenleben – und sollte nach | |
Zschäpes Willen gar nicht in dieses Land gehören. „Das zeigt den ganzen | |
Wahnsinn der Rassenideologie.“ Zschäpe reagiert nicht. Daimagüler | |
übermittelt ihr eine Botschaft der Familien von Yaşar und Özüdoğru: „Wir | |
nehmen Ihre Entschuldigung nicht an“, verliest der Anwalt. „Wir verzeihen | |
Ihnen nicht den Mord an unserem Bruder. Wir verzeihen Ihnen nicht die | |
Lügen, die Sie uns hier aufgetischt haben.“ | |
Überraschend richten sich die Familien aber auch einen Mitangeklagten: | |
Carsten S. Als einziger der Angeklagten hatte er umfassend im Prozess | |
ausgepackt und sich, teils unter Tränen, schwer belastet. Als Jugendlicher | |
war S. mit Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt in der Thüringer Neonazi-Szene | |
aktiv. Als das Trio 1998 untertauchte, wurde der 19-Jährige vom | |
Mitangeklagten Ralf Wohlleben als Bote eingesetzt – und überbrachte die | |
Česká-Pistole, mit dem der NSU neun seiner Morde verübte. | |
„Ich vergebe Ihnen“, lässt nun dennoch die Tochter von Yaşar ausrichten. | |
„Ich will nicht mehr mit Wut zu Bett gehen und mit Wut aufwachen.“ Deshalb | |
fordere sie, Carsten S. von einer Haft zu verschonen und nur zur einer | |
Bewährungsstrafe zu verurteilen. | |
Carsten S. starrt in den Saal, auch er zeigt keine Regung. Schon die | |
Bundesanwaltschaft hatte sein Geständnis gewürdigt und eine dreijährige | |
Haftstrafe nach Jugendrecht gefordert – für den Mitwaffenbeschaffer | |
Wohlleben dagegen zwölf Jahre. | |
Yaşars Tochter formuliert auch einen Auftrag an Carsten S., seine Schuld | |
„abzutragen“: „Sprechen Sie mit jungen Menschen. Gehen Sie zu Ihnen und | |
erzählen Sie Ihre Geschichte. Warnen Sie sie vor dem Hass der Nazis und vor | |
dem Unheil, das diese Menschen anrichten.“ | |
Auch Elif Kubaşık hat noch eine letzte Botschaft, bevor sie vom Rednerpult | |
abtritt. Sie sei Dortmunderin, sie habe zwei Kinder in diesem Land geboren. | |
Inzwischen sei hier auch ihr Enkel auf die Welt gekommen. Er heißt Mehmet. | |
„Wir sind ein Teil dieses Landes und werden hier weiterleben.“ | |
21 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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