# taz.de -- Die Spielregeln der „Cancel Culture“: Bis die Laufbahn beerdigt… | |
> In den USA wird man immerhin für Äußerungen gecancelt, die man gemacht | |
> hat. In Deutschland schon für solche, die man nicht gemacht hat. | |
Bild: Das Auswärtige Amt lässt nach scharfer öffentlicher Kritik die Arbeit … | |
Es gibt ja Streit darüber, ob die vielbeschworene „Cancel Culture“ wirklich | |
existiert. In den USA ist ein Kulturkampf um die Frage entbrannt. Sind | |
Ausladungsforderungen an umstrittene Redner*innen in Social Media Teil | |
einer neuen Verbotskultur – oder nicht doch ganz normale Politik, nur über | |
Twitter und Co.? | |
Sollte die These stimmen, dass es sich bei [1][„Cancel Culture“ um einen | |
US-Import] handelt, hat sie sich binnen Kurzem an deutsche Tradition und | |
Sitte angepasst: preußische Kanzellierungs-Kultur. Wo sie in den USA die | |
Gesellschaft bewegt, wendet sie sich gut preußisch an die Bürokratie: Ziel | |
sind Beamt*innen und Funktionär*innen. Damit es spannender ist, ist der | |
Einsatz höher: Wo in den USA nur Vorträge verhindert werden, muss in | |
Deutschland die gesamte Laufbahn einer Person beerdigt werden. | |
Wie sind die Spielregeln? | |
1. Such dir eine Person im öffentlichen Dienst, die dir missfällt. | |
2. Such ihren Namen bei Google in Kombination mit einigen Schlagwörtern | |
(Extremismus, Antisemitismus, Islam, Verfassungsschutz …). | |
3. Mache dir eine Liste von Zitaten, die genug Interpretationsspielraum | |
bieten. | |
4. Schreib einen Protestbrief an Merkel, Maas, Seehofer oder Papst | |
Franziskus, in dem du den Rücktritt der Person forderst. | |
5. Mobilisiere deine „Freund*innen“ und „Follower*innen“ in den sozialen | |
Medien. | |
6. Nun ist die Gegenseite dran und kann ihrerseits einen Rücktritt fordern | |
– vielleicht sogar deinen. Immerhin hast du gerade versucht, jemanden zu | |
canceln! Klingt paradox, ist aber ein legitimer Spielzug. | |
Gewonnen hat der*die Spieler*in, der*die als erste*r den Rücktritt | |
erzwungen hat. Freude am Spiel haben anscheinend alle: Linke, Rechte, | |
Konservative, Liberale, Parteilose, Lobbyisten und Briefmarkensammler. | |
## Zwei aktuelle Beispiele | |
Zwei aktuelle Beispiele: die Rücktrittsforderungen an den | |
Antisemitismusbeauftragten Felix Klein und an die Vizepräsidentin des | |
Zentralrats der [2][Muslime Nurhan Soykan] nach ihrer Berufung zur | |
Beraterin im Auswärtigen Amt. Auch wenn die Fälle sehr unterschiedlich | |
sind, kommt in beiden die gleiche Ausschlusslogik zum Zug. | |
[3][Im Fall Felix Klein wandten sich sechzig „besorgte“ | |
Wissenschaftler*innen] aus Deutschland und Israel mit einem offenen Brief | |
an Merkel – weil Klein es regelmäßig wagt, israelbezogenen Antisemitismus | |
zu thematisieren. Peinlich, wie anerkannte Professor*innen sich bei der | |
Dienstherrin eines Beamten beschweren – und dabei so tun, als sei | |
ausgerechnet der Antisemitismusbeauftragte die Ursache von Judenhass in | |
Deutschland. | |
Die gleiche Gruppe hatte sich schon Anfang Mai in einem offenen Brief (was | |
sonst?) an Seehofer auf die Seite des umstrittenen Historikers Achille | |
Mbembe gestellt. Ich persönlich vermisse unter den Unterzeichner*innen | |
einen Sprachphilosophen, der sich wissenschaftlich mit dem Paradox befasst, | |
wie man glaubwürdig im Namen der Meinungsfreiheit ein Sprechverbot für | |
Herrn Klein erlassen soll. | |
## Wieso fiel mir eigentlich Frau Soykan nie auf? | |
Wie steht es mit der [4][Berufung von Nurhan Soykan] als Beraterin durch | |
das Auswärtige Amt? Als ich die Empörung in den sozialen Medien bemerkte, | |
fragte ich mich, wieso mir Frau Soykan bisher nie aufgefallen war. | |
Angeblich soll sie Antisemitin, Extremistin und türkische Nationalistin | |
sein – Themen, mit denen ich mich beruflich regelmäßig befasse. So jemand | |
sollte tatsächlich eher vorsichtig behandelt werden. | |
Dazu würde ich aber gerne belastbarere Quellen lesen als einen Artikel in | |
Springers Welt, in der ihr vorgeworfen wird, „sich nicht scharf genug gegen | |
Antisemitismus und religiösen Extremismus“ abzugrenzen. Nicht nur die | |
Formulierung ist bezeichnend: Evangelikale im öffentlichen Dienst werden | |
sie wohl nie zu hören kriegen. Aber auch die Stoßrichtung ist sehr deutsch: | |
In den USA wird man immerhin nur für Äußerungen gecancelt, die man gemacht | |
hat, in Deutschland schon für solche, die man nicht gemacht hat. | |
Das Auswärtige Amt lässt die Arbeit an Soykans Projekt „Religion und | |
Außenpolitik“ vorerst „ruhen“. Den Preis zahlt aber nicht das Amt, sonde… | |
Nurhan Soykan. Ihre Karriere ist beendet: Keine Auswahlkommission wird sie | |
in absehbarer Zeit für eine Position nominieren. | |
Konservative Publizisten verorten „Cancel Culture“ in der Linken – und | |
betreiben sie selbst am besten. Das geht so lange gut, bis sie selbst | |
betroffen sind. Wie in jedem Kalten Krieg stehen die am schlechtesten da, | |
die zu beiderseitiger Abrüstung mahnen. Aber wäre es nicht schön und im | |
Interesse aller, wenn nicht immer gleich Existenzen auf dem Spiel stünden? | |
PS: Bitte googeln Sie mich nicht! | |
6 Aug 2020 | |
## LINKS | |
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[3] /Antisemitismus-Diskussion/!5699717 | |
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## AUTOREN | |
Meron Mendel | |
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