| # taz.de -- Soziales Phänomen „Cancel Culture“: Dialektik der Absage | |
| > Die sogenannte Cancel Culture macht sich breit: Ein Gegner wird geächtet | |
| > und ausgegrenzt. Das ist Streitvermeidung statt Auseinandersetzung. | |
| Bild: Die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart wurde auch ein Fall von �… | |
| Was in letzter Zeit mit wechselnden Akteur:Innen, Themen und Gelegenheiten | |
| in immer schnelleren Rhythmen ständig wiederkehrt – das ist das Phänomen | |
| der sogenannten [1][Cancel Culture]. Damit gemeint ist das Verbannen von | |
| Personen mit inkriminierten Haltungen aus dem öffentlichen Raum. Wobei dies | |
| immer im Doppelpack auftritt: Überall, wo gecancelt, abgesagt und | |
| boykottiert wird – wird dieses Canceln kritisiert. | |
| „Cancel Culture“ und deren Kritik treten zuverlässig zusammen auf. Wenn | |
| etwas ständig wiederkehrt, sich nicht abweisen lässt – dann ist es ein | |
| Symptom. In diesem Fall ist es Symptom für die Auseinandersetzung zwischen | |
| zwei Formen von Liberalismus: zwischen altem und neuem Liberalismus. Beide | |
| verstehen sich als Kritik. Aber diese wird auf unterschiedliche Arten | |
| vollzogen und ausgelebt. Die alte Kritik beruht ihrem Selbstverständnis | |
| nach auf rationalen Argumenten. Sie will überzeugen. Ihr Medium ist die | |
| Debatte bis hin zum Streit. | |
| Die neue Kritik hingegen, die „Cancel Culture“, funktioniert völlig anders. | |
| Geradezu gegenteilig. Statt zu überzeugen, will sie den Gegner strafen. | |
| Statt mit ihm zu debattieren, will sie ihn isolieren und stigmatisieren. | |
| Statt um Auseinandersetzung geht es ums Stummstellen, um den Ausschluss aus | |
| dem öffentlichen Raum. Statt auf Vernunft setzt sie auf Moral und Empörung. | |
| Das ist ein anderer Antrieb. Kurzum: Während es dem alten Liberalismus um | |
| Streit geht – geht es der „Cancel Culture“ um Streitvermeidung. Deshalb | |
| eben: Canceln. Ausladen. Absagen. | |
| ## Das Medium der Demokratie: Kritik | |
| Wobei man festhalten muss: Das Medium der Demokratie ist Kritik, ist Streit | |
| – und nicht Eintracht. Ihr Konsens ist kein gegebener, sondern ein | |
| erkämpfter, errungener. Deshalb ist Dissens eine Produktivkraft der | |
| Demokratie, während eine – imaginierte – Idylle deren Stillstellung ist. | |
| Aus dieser Perspektive zeigt sich aber, dass beide Liberalismen ihre | |
| Ambivalenzen haben. | |
| So steht hinter dem alten Liberalismus einerseits die rationalistische | |
| Illusion, man könne jede Auseinandersetzung im Modus einer vernünftigen | |
| Debatte austragen. Andererseits aber steht hinter dem hehren Anspruch solch | |
| einer vernünftigen Debatte auch der Anspruch auf Meinungshoheit. Die | |
| rationale Auseinandersetzung ist also immer auch ein Machtkampf. | |
| Diesem alten Liberalismus der bürgerlichen Freiheiten steht der neue | |
| Liberalismus der Freiheitsgrenzen gegenüber. Da wird die Reinheit der | |
| Gesinnung dem Austragen von Dissens vorgezogen. Unnachgiebig. Ambivalent | |
| ist das dennoch, denn: Grenzen braucht es ja wirklich. Gegen Nazis. Gegen | |
| Rassismus. Gegen Diskriminierung. | |
| Das Problem dabei ist die Art von Grenzziehung. Denn diese Grenze verläuft | |
| nicht nur gegen solche eindeutigen Fälle. Sie hat sich zu einer Grenze | |
| gegen Zweideutiges, gegen Gerüchte, gegen den Verdacht verfestigt. Alter | |
| und neuer Liberalismus nähren sich aus derselben Quelle, aber Letzterer ist | |
| überschießend. Er kehrt als Fratze wieder. | |
| ## Das Argument verkehrt sich | |
| Diese Fratze zeigt sich am deutlichsten an ihrem Standardargument: Man | |
| wolle dem Inkriminierten keine Bühne bieten. Das Argument aber hat sich | |
| längst verkehrt. Die Keine-Bühne ist längst zur großen Bühne geworden. Die | |
| nicht gehaltene Rede, der verhinderte Auftritt, die nicht erfolgte Lesung | |
| schicken dennoch ihre Wellen, ihre Erschütterungen, ihre emotionale Beben | |
| aus. Sie sind der Wirkung des Vollzugs völlig überlegen. | |
| Welcher Hahn hätte nach der Eröffnungsrede von XY, nach der Lesung von Z | |
| gekräht? Die Absage aber eröffnet eine große Bühne. Anderswo. Das heißt: | |
| die wahre Bühne, das wahre Spektakel ist nicht das Gecancelte, Abgewehrte, | |
| Verhinderte. | |
| Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten haben heute Hochkonjunktur. Nur | |
| muss man sie neu denken. Nicht klassisch als Unterdrückung eines verbotenen | |
| Wunsches, der in veränderter Form, als Symptom, wiederkehrt. Heute ist das | |
| Nichtzulassen des Zweideutigen, der Abweichung, des vermutet Falschen nur | |
| die Verdrängung von der ersten Bühne. Dann aber kehrt es hundert Mal | |
| verstärkt auf allen medialen Bühnen wieder. Das ist die Dialektik der | |
| „Cancel Culture“. | |
| 25 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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