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# taz.de -- Blinde Flecken in der Debatte: Cancelt euch doch
> Solange die deutsche Diskussion über Cancel Culture ihre Denkfaulheit
> nicht aufgibt, kann man sie aufgrund mangelnder Relevanz gerne streichen.
Bild: Wer darf sprechen, wer bekommt Unterstützung bei Kritik, wer nicht?
Die sogenannte Debatte über [1][die Cancel Culture] ist nur eine von vielen
deutschen Diskursfaulheiten: Man nimmt eine laufende US-Debatte und wirft
ein paar deutsche Namen und Themen hinein, fertig ist der Diskurs. Es
stehen sich in etwa die gleichen Lager gegenüber wie bei #MeToo, wo es in
Deutschland auch keine mit den USA vergleichbare Bewegung gab. So wie es in
Deutschland kaum gecancelte Namen gibt, so gab es auch kaum drei
Männernamen, die öffentlich gefallen sind; doch die deutsche Empörung über
das Zerstörpotenzial von #MeToo war größer als die Bewegung selbst.
Das gleiche deutsche Scheindebattentheater spielt sich nun rund um den
Begriff „Cancel Culture“ ab. Wie gesagt, man kommt in Deutschland auf keine
drei Namen, aber wehret den Anfängen, sagen die Besorgten! Eher nicht.
Dabei sind die Hintergrundgeschichten zu den deutschen Absagen
vielschichtiger als: Ein linker Mob hat die Künstler von der Bühne
gebrüllt. Nein, manchmal sind Kulturveranstalter derzeit überfordert damit,
auf die aktuellen politischen Spannungen zu reagieren. Ein linker
Meinungsmob jedenfalls [2][hat die Kabarettistin Lisa Eckhart nicht von der
Hamburger Bühne gebrüllt].
Spannend wird die deutsche Cancel Culture erst, wenn man sich ansieht, was
und wer alles nicht unter den Schutzmantel der Anti-Cancel-Culture-Lobby
fällt. Der [3][afrikanische Historiker Achille Mbembe] etwa, der die
Eröffnungsrede der Ruhrtriennale halten sollte, kam nicht in den Genuss,
von den Cancel-Culture-Empörten beschützt zu werden, obwohl ihm weltweit
führende Denker zur Seite sprangen. Da gehe es um etwas so Sensibles wie
[4][Antisemitismus,] heißt es dann, das Schüren von Vorurteilen sei in
heutigen Zeiten besonders gefährlich. Interessanterweise wirft man der
Kabarettistin Lisa Eckhart dasselbe vor, doch hinter ihr versammeln sich
die engagierten Hüter der freien Kunst, doch dazu später.
Am interessantesten werden die deutschen Cancel-Culture-Besorgten in der
Auslassung: Sehen sie Perspektiven, Künstler und Stimmen, die
jahrzehntelang gecancelt wurden? Nein. Doch jahrzehntelang wurden Stimmen
im deutschen Diskurs aussortiert, weil es für viele Verantwortliche
selbstverständlich war, dass sie nicht mitzureden haben. Deren Kunst sei
nicht gut genug, hieß es dann. Die Kälte des alten Cancel-Mechanismus lag
ja darin, dass vielfältige Perspektiven gar nicht erst auf die Bühne
gebeten wurden, deshalb musste man auch niemanden ausladen. Für Autor*innen
mit Migrationsgeschichte gab es in Deutschland lange vor allem die
Interkulturelle Woche oder irgendein Format mit „Nachbarn“ im Titeln, um
den soziokulturellen Charakter der Veranstaltungen zu kennzeichnen. Bloß
nicht in die heiligen Hallen der Hochkultur! Kulturprodukte von
Eingewanderten und ihren Kindern waren so leicht zu canceln, man konnte sie
einfach für „nicht gut genug“ befinden, völlig debattenfrei.
Doch jetzt sind viele von ihnen da und sie lassen sich auch nicht mehr
canceln. Sie haben, wie emanzipiert, eine Meinung und vertreten diese nicht
leiser als jene, die vorher den Diskurs bestimmt haben. Die Präsenz von
Minderheitenstimmen in der Öffentlichkeit verdankt sich meist nicht den
klassischen Gatekeepern, sondern ihrer eigenen Beharrlichkeit und einem
Publikum, das sich endlich in den öffentlichen Meinungen wiederfindet. Die
Vielfalt des aktuellen Diskurses ist dem Bildungsaufstieg einiger
talentierter Einwandererkinder zu verdanken, die entgegen allen
statistischen Prognosen ihren Weg gegangen sind und in der Mehr- und
Minderheitsgesellschaft ihre Fans gefunden haben. Ihre Präsenz ist auch den
sozialen Medien zu verdanken und der Kraft, mit der sie nun ihre
Perspektive vorbringen. Zu behaupten, Widerspruch sei ein „Wegbrüllen“ oder
„Canceln“ bezeugt eher: Man war gewohnt, alles sagen zu dürfen und dafür
wenig Gegenrede zu erhalten.
Wenn mich Cancel Culture interessiert, dann vor allem als Frage danach, wer
jahrzehntelang gecancelt wurde, ohne dass Canceln ein Thema war. Die
deutschen Podien waren noch nicht so divers wie heute, gleichzeitig wird
behauptet, der Meinungskorridor verenge sich. Eine Zeit lang benutzte man
Künstler und Autoren mit Migrationsgeschichte, es galt als politisch hip
und gewollt, sich mit ihnen zu zeigen, man wolle ja die deutsche
Weltoffenheit zelebrieren. Doch jetzt, da die Rechten stärker und lauter
sind, möchte man deren „Betroffenheitspositionen“ nicht so gerne hören. Es
könnte den rechten Rand stärken. Doch sie bleiben. Zum Glück. Wer wurde in
der Vergangenheit schon alles an den Planungstischen der Veranstalter
gecancelt, weil seine „Betroffenheit“ die friedliche Bürgergesellschaft
beunruhigt?
Wenn ich sehe, über wessen Canceln wir in Deutschland reden, kommen mir
direkt große Mitleidstränen. In Zeiten von Corona hat die [5][Kabarettistin
Lisa Eckhart] mehr Lesungstermine als zehn anspruchsvolle Autor*innen
zusammen auf ihrer Webseite. Mit dieser Arroganz des Erfolges sitzt sie als
Gast im ORF und beantwortet die „kritischen Fragen“ der Moderatorin. Nicht
alle Juden fänden ihre Witze antisemitisch, und man „unterstelle den Juden
eine Humorlosigkeit, die fast an Antisemitismus grenzt“. Nun ist es sicher
klug, darauf hinzuweisen, dass keine einzige Organisation je „für alle
Juden“ sprechen wird, doch auf die Kritik jüdischer Repräsentantinnen mit
diesem Satz zu reagieren, ist dann doch interessant.
Im Grunde antwortet Eckhart auf jede Kritik mit: „Ihr könnt mir doch
nichts.“ Das stimmt. Das ist auch gut so, aber dann sollte man das auch
anerkennen. Solange die deutsche Debatte über Cancel Culture nicht lernt,
ihre Sorge um die freie Rede internationaler zu denken und Themen wie Raif
Badawi, der für einen Blogeintrag noch immer in Gefangenschaft ist, oder
Hate Speech im Netz und Morddrohungen gegen liberale Stimmen einzubeziehen,
kann man die deutsche Debatte aufgrund mangelnder Relevanz gerne canceln.
12 Sep 2020
## LINKS
[1] /Soziales-Phaenomen-Cancel-Culture/!5704221
[2] /Kabarettistin-ausgeladen/!5705737
[3] /Mbembe-zum-Antisemitismusvorwurf/!5684094
[4] /Debatte-um-Historiker-Achille-Mbembe/!5685526
[5] /Ausladung-der-Kabarettistin-Lisa-Eckhart/!5706011
## AUTOREN
Jagoda Marinić
## TAGS
Schwerpunkt #metoo
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