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# taz.de -- Witzkultur in Deutschland: Witzle g'macht
> Der Witz als ordnungserhaltendes Instrument, als Urform der Propaganda
> und als Waffe: Warum wir dringend eine politische Humorkritik bräuchten.
Bild: Meister des Humor-Genres „Mann macht Witze über Frauen“: Der Comedia…
Als wir noch die Isarindianer waren, zogen wir uns gelegentlich unter einen
Brückenbogen zurück, um geheime und seltsame Nachrichten aus der Welt der
Erwachsenen auszutauschen, die meisten von ihnen in Form von sogenannten
Witzen, von denen man nicht zugeben durfte, nicht zu verstehen, worum es
überhaupt ging. Die besten hatten natürlich den Pumucklfaktor: Das reimt
sich, und was sich reimt, ist gut. Einer davon ging so und war sehr
beliebt: „Ich kenn an Witz vom Onkel Fritz. Die Weiber haben vorn an
Schlitz.“
Aufgewachsen in einer nur peripher katholischen, frauenstarken Familie
konnte ich mit gesicherten anatomischen Kenntnissen kommen: Das ist gar
kein Witz, die haben wirklich einen … Solch aufklärerischer Einspruch kam
bei meinen mehr oder weniger roten Brüdern schlecht an. Vielleicht
fürchtete man auch, jenen geheimnisvollen Onkel Fritz zu kränken, den alle
außer mir zu kennen schienen. Damals wusste ich noch nicht, dass eine
Aussage in einer Gruppe weniger ihrem Wahrheitsgehalt als vielmehr dem
Zusammenhalt der Gruppe selbst zu dienen hat.
Außerdem war mir nicht klar, was an einem „Schlitz“ zum Lachen sein sollte.
Ich hätte selbst gern einen gehabt, statt dieses Schwanzes, der, zugegeben,
beim Draußenbieseln Vorteile zeigte. Aber ansonsten fand ich einen Schlitz
einfach schöner. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem eine Tante, man pflegte
damals Eierlikör zum Nachmittagskaffee zu servieren, von den Anstrengungen
und Schmerzen berichtete, die man beim Kinderkriegen durch eben diesen
Schlitz erdulden musste. Da war ich doch ganz froh, bloß einen Schwanz zu
haben. Man könnte wohl mit Fug und Recht behaupten, ich wäre aus bloßer
Feigheit ein Mann geworden, wenn es Natur und Gesellschaft nicht eh so
vorgeschrieben hätten.
Gelacht wurde natürlich auch bei Kaffee, Kuchen und Eierlikör. Meistens
über Männer. Das war die Basis der Witzproduktion, so schien es. Frauen
machen Witze über Männer, und Männer machen [1][Witze über Frauen]. Vor
allem wenn die anderen gerade nicht zuhören. Ganz ähnlich verhielt es sich
offenbar mit „politischen“ Witzen. Man macht Witze über die Bürgermeister,
die Polizisten, das Finanzamt, die Regierung, aber nur, wenn von denen
niemand zuhört. Und „Vorgesetzte“ oder „Amtspersonen“ machen Witze üb…
Leute, die sie verwalten und kontrollieren. Patienten machen Witze über
Ärzte, und Ärzte machen Witze über Patienten. Lehrer machen Witze über
Schüler, und Schüler machen Witze über Lehrer. Immer wenn die anderen nicht
dabei sind. Jede Gesellschaft hat die Witzordnung, die sie verdient.
„Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“, so lautet der Titel einer
Untersuchung von Sigmund Freud, und darin wird deutlich, dass Witzemachen
ein manchmal notwendiges Instrument der Sublimation durchaus
widersprüchlicher Impulse ist. In Witzen sind Wünsche und Ängste verwoben,
die man sich „im Ernst“ kaum zu äußern wagte. Dabei ist die „Zote“, s…
es Freud, ein konspirativer Akt von Männern in Bezug auf abwesende Frauen.
Hier öffnet sich auch ein Feld, das Sigmund Freud aus fachlichen Gründen
weniger interessierte, nämlich der Witz und seine Beziehung zum
Bewusstsein. Das heißt zu Macht, zu Interesse, zu Ideologie. Man kann Witze
sowohl als kommunikative Endprodukte von Traumarbeit ansehen wie als
Urformen von Propaganda und „Überzeugung“. Nationalismus, Rassismus,
Sexismus und Klassismus äußern sich als Erstes in Form von Witzen. Wer das
nicht glaubt, braucht sich nur die „Chatrooms“ der rechtsextremen
Polizistinnen und Polizisten ansehen, die gerade aufgefallen sind. Zugleich
ist der Witz auch hier noch ein Entschuldungsraum. War doch nur ein Witz.
Wesentlich aber ist beim Witz als bewusst eingesetztes Instrument, dass
jemand davon getroffen werden soll, den man zum Zuhören zwingen kann, und
der sich möglichst nicht wehren kann.
Eine erste Öffnung der Witzräume bietet etwa der [2][rheinische Karneval].
Ich wette, Sigmund Freud hat nie eine „Prunksitzung“ mit Büttenreden in
einer rheinischen Kleinstadt erlebt, sonst hätte sein Buch über den Witz
ein paar Seiten mehr gebraucht. Hier nämlich müssen die Menschen, über die
Witze gemacht werden, selbst am lautesten darüber lachen: Ehefrauen lachen
über Ehefrauwitze, Schwiegermütter über Schwiegermutterwitze, Finanzbeamte
über Finanzamtswitze und so weiter. Lachzwang und Humorkontrolle sind das
eine, das andere Faszinosum besteht vielleicht darin, dass man in den
geheimen Witzraum der jeweils anderen einbezogen ist. Kein Wunder, dass das
Lachen hier gelegentlich recht hysterisch klingt.
Das Zweite ist der Medienraum, vor allem das Fernsehen. Auch hier kann man
ja keine reale Abwesenheit durch den Witz mehr konstruieren. Wenn das Volk
im Fernsehen Witze über die Regierung macht, dann hört die Regierung mit,
und umgekehrt. Und bei Witzen, die Männer über Frauen machen, sitzen die
Frauen daneben. Im Internet dreht sich das noch einmal weiter. Hier werden
Witze, wie man treffend sagt, „losgelassen“, wobei sowohl Absender als auch
Adressat anonym bleiben. Auf die zwar fragwürdige demokratische
Öffentlichkeit des Witzemachens folgt nun eine verschärfte Art der
Abwertung. Witze, die eine kaum noch verhohlene Abwehr bis hin zur Mordlust
transportieren.
## Lindners Altherren-Witz
Wenn zum Beispiel die Zote eine Männer-Verständigung zur abwesenden Frau
ist, dann ist sie vielleicht auch umgekehrt eine Konstruktion ihrer
Abwesenheit oder ihres Ausschlusses. Nehmen wir also den „Altherren-Witz“
von [3][Christian Lindner] (auch wenn ich mich als älterer Mann gegen diese
Bezeichnung wehren muss: Weder machen alle alte Herren Altherren-Witze noch
sind Altherren-Witze auf alte Herren beschränkt): Er richtet sich nicht
allein an andere Männer und behandelt nicht eine abwesende Frau. Er richtet
sich gegen eine Frau, der er gerade politisch übel mitgespielt und sie
rituell entmachtet hatte.
Er konstruiert eine konspirative Männlichkeit, die sich in doppeltem Sinn
eine Frau als Opfer sucht. Wäre sein Witz nur in Bezug auf das Unbewusste
„herausgerutscht“, so wäre ein schlichtes „Träum weiter, Bubi“ die
angemessene Reaktion. Aber auch hier ist die Beziehung zum Bewusstsein viel
spannender. Die Zote vollzieht den Ausschluss und die Abwertung der Frau,
die vorher politisch vollzogen wurde, noch einmal auf einer tieferen Ebene.
Aus der politischen Abwesenheit muss noch eine sexuelle Abwesenheit werden.
Und jemand muss darüber lachen. Die Gruppe, wie gesagt.
Der Witz stellt eine Beziehung zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein
her, und zwar in beide Richtungen. Er ist daher immer auch als eine Waffe
zu verstehen. Es geht also nicht allein darum, auf dem Weg zwischen
Isarindianer und Altherrenauftritt den inneren Onkel Fritz zu bezähmen,
sondern auch darum, den Diskurs von [4][Sexualität] und Politik in ihnen zu
erkennen. Und bevor wieder jemand von Humorlosigkeit raunzt: Die meisten
Witze sind das Humorloseste, was es auf Göttins weiter Erde gibt.
9 Oct 2020
## LINKS
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[2] /Drei-Monate-lang-Aschermittwoch/!5715116
[3] /Lindner-Merz-und-Diskriminierung/!5714269
[4] /Lindner-Merz-und-Diskriminierung/!5714269
## AUTOREN
Georg Seeßlen
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