# taz.de -- Lindner, Merz und Diskriminierung: Der Sexismus in uns | |
> Christian Lindner und Friedrich Merz klopfen Altherrensprüche auf Kosten | |
> von Frauen und Homosexuellen. Sie hoffen auf ein Publikum, das solche | |
> Äußerungen gutheißt. | |
Bild: Grinsen, Kunstpause, total unabsichtlich. Im Denken einfach alt: Christia… | |
Es war eine Woche sprachlicher Entgleisungen. Erst demütigte Christian | |
Lindner die von ihm geschasste Generalsekretärin Linda Teuteberg auf dem | |
FDP-Parteitag mit einem sexistischen „Witz“: [1][300 Mal habe er seinen Tag | |
mit Teuteberg begonnen], erzählte er, legte eine Kunstpause ein, um Lacher | |
im Publikum abzufangen, um dann nachzulegen: „Ich spreche über unser | |
tägliches, morgendliches Telefonat zur politischen Lage. Nicht was ihr | |
jetzt denkt.“ | |
Einen vergleichbaren Fehltritt leistete sich CDU-Mann Friedrich Merz, als | |
er auf die Frage, ob er sich einen schwulen Kanzler vorstellen könne, | |
[2][Homosexualität in Verbindung mit Kindesmissbrauch] brachte. Alles im | |
Jahr 2020. Waren wir nicht eigentlich schon weiter? | |
Das Interessante ist, dass beide Aussagen überraschend rückwärtsgewandt, | |
aber gleichzeitig so alltäglich und „tausendmal gehört“ daherkamen – es… | |
eben Alltagssexismus und Alltagshomophobie par excellance. Dass sich | |
Lindner und Merz im Nachhinein beide missverstanden fühlten, ist nur | |
Ausdruck ihrer permanenten Selbstüberhöhung. | |
Dennoch ist es zu einfach, Merz und Lindner als Ewiggestrige abzutun und zu | |
behaupten, dass der Rest der Gesellschaft schon weiter sei. Die | |
Herabwürdigung von anderen ist ein erprobtes Mittel des eigenen | |
Machterhalts. Zudem ist es so: Friedrich Merz kandidiert um den Vorsitz der | |
CDU – und seine Umfragewerte sind nicht allzu schlecht. Und Lindner ist | |
immer noch FDP-Chef, auch wenn seine Partei momentan keinen Höhenflug hat. | |
Diese Männer sind nicht nur aus der Gegenwart, sie sind vielleicht auch | |
Männer der Zukunft. Es ist längst nicht ausgemacht, dass diese Eskapaden | |
zwingend zu schlechteren Zustimmungswerten führen. In Betrachtung des | |
Trump-Prinzips könnte auch das Gegenteil passieren. | |
Lindner und Merz sind beide rhetorisch geschult und nicht neu im | |
Politikbetrieb. Beide gehen offenbar davon aus, dass es ein Publikum gibt, | |
das solche Sprüche gutheißt. Es ist deshalb nicht überzogen, sich mit | |
diesen scheinbar nur so dahingesagten Worten auseinanderzusetzen. Von | |
Politiker:innen darf und sollte die Öffentlichkeit verlangen, niemanden | |
mit Worten zu diskriminieren. | |
„Wer sich Merz als Kanzler und Lindner als seinen Stellvertreter wünscht, | |
der will einen Rollback in die 1950er Jahre“, kritisierte | |
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Doch es ist gefährlich, die beiden | |
Männer in einer Vergangenheit zu verorten, die lange vorbei ist. | |
Es war eben nicht 1950, sondern 2001, als Klaus Wowereit als erster | |
Spitzenpolitiker mit seinem Satz „Ich bin schwul – und das ist auch gut | |
so!“ seine Homosexualität offen thematisierte. 2005 wurde mit Angela Merkel | |
die erste Frau ins Kanzleramt gewählt. Beide Momente waren Meilensteine der | |
Emanzipation. Doch Fortschritt verläuft nicht zwingend linear; alle | |
gesellschaftlichen Errungenschaften können auch wieder verloren gehen. | |
Das Problem nur auf die beiden Personen Merz und Lindner beziehungsweise | |
die CDU und die FDP zu verengen verdeckt den Blick auf das ganze Bild. Die | |
Tatsache, dass heute schwule und lesbische Politiker:innen mit einer | |
größeren Selbstverständlichkeit im politischen Betrieb agieren können, ohne | |
diesen Teil ihrer Identität vertuschen zu müssen, und dass Frauen | |
Ministerposten besetzen, bedeutet eben nicht, dass alle | |
diskriminierungsfrei leben. | |
Sexismus, Homophobie und Transfeindlichkeit sind trotz gesetzlicher | |
Errungenschaften nach wie vor gängig – und zwar in allen gesellschaftlichen | |
Milieus, in allen Parteien. Wer anderes behauptet, verkennt die | |
Lebensrealität der Betroffenen. | |
Auch in linken, sich progressiv verstehenden Kreisen wird diskriminiert. | |
Merz und Lindner als Schuldige auszumachen kann eben auch dazu dienen, sich | |
nur selbst zu vergewissern, auf der richtigen Seite zu stehen. Aber | |
vielleicht offenbart sich hier nur die Diskrepanz zwischen modernem | |
gesellschaftlichen Diskurs und einer Gesellschaft, die gar nicht so | |
progressiv ist, wie manche es gerne hätten. | |
25 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] /FDPlerin-ueber-Lindners-sexistischen-Witz/!5715226 | |
[2] /Dorothee-Baer-gegen-Rechtspopulist-Tichy/!5714272 | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
## TAGS | |
Sexismus | |
FDP | |
CDU/CSU | |
Homophobie | |
Sexismus | |
Klaus Wowereit | |
Friedrich Merz | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Andropause | |
CDU-Wirtschaftsflügel | |
[tazze]IG | |
CDU | |
Dorothee Bär | |
Tichy | |
FDP | |
FDP | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sexismusvorwürfe an der Uni Kiel: Wenn der Tutor mal ausgehen will | |
Studierende beschweren sich über Sexismus an der Kieler Universität. Es | |
geht um Pornos im Hörsaal und respektloses Verhalten gegenüber | |
Studentinnen. | |
Wowereits Outing vor 20 Jahren: Gut so – bis heute! | |
Aus Sorge, im Wahlkampf würde seine Homosexualität zum Thema, sagte | |
Wowereit seinen berühmten Satz. Es war ein Signal zum Aufbruch, auch für | |
Berlin. | |
Friedrich Merz kandidiert für Bundestag: Endlich mal gewonnen | |
Wenigstens im Sauerland klappt's: Merz schlägt seinen Nachfolger und wird | |
Bundestags-Direktkandidat. In Berlin will er für einen Rechtsruck kämpfen. | |
SPD-Debatte um Diversität: Teil des großen Wirs | |
Die SPD debattiert über den Umgang mit queeren Menschen und Migrant*innen. | |
Manchen fällt es schwer, Platz im gemeinsamen Haus freizuräumen. | |
Sexismus und das Aufhalten von Türen: Alt und Arsch gesellt sich gern | |
Früher hielten wir Frauen ständig die Tür auf. Wenn die Kuh dann spurte, | |
schleimte man verlogen herum. Das ist typisch für sexistische Erhöhung. | |
CDU-Aufsteigerin Jana Schimke: Die im Blick bleibt | |
Die Brandenburgerin Jana Schimke könnte CDU-Generalsekretärin werden. Wohl | |
aber nur, wenn Friedrich Merz Parteichef würde. | |
Witzkultur in Deutschland: Witzle g'macht | |
Der Witz als ordnungserhaltendes Instrument, als Urform der Propaganda und | |
als Waffe: Warum wir dringend eine politische Humorkritik bräuchten. | |
Wahl des neuen CDU-Chefs: Machtkampf via Internet | |
CDU-Chefin AKK hat sich mit den drei Bewerbern für ihre Nachfolge | |
getroffen. Wie wählt man einen neuen Parteichef während der Pandemie? | |
Dorothee Bär gegen Rechtspopulist Tichy: Die Antisexistin von der CSU | |
Wegen eines sexistischen Textes in „Tichys Einblick“ zeigt Bär sich | |
solidarisch mit Sawsan Chebli. Ein weiterer Grund, sie nicht zu | |
unterschätzen. | |
Sexistische Beleidigung gegen Sawsan Chebli: Erhard-Stiftung zieht die Notbremse | |
Auf der Website von Roland Tichy wurde Sawsan Chebli sexistisch beleidigt. | |
Jetzt tritt der Rechtspopulist als Chef der Ludwig-Erhard-Stiftung zurück. | |
FDPlerin über Lindners sexistischen Witz: „Einfach rausgerutscht“ | |
Christian Lindner hat einen sexistischen Witz gemacht. FDP-Politikerin | |
Maren Jasper-Winter fand das nicht lustig – glaubt aber an ein Versehen. | |
Bundesparteitag der FDP: Eine Partei wie ein Altherrenwitz | |
Die FDP hat auf die großen gesellschaftlichen Fragen keine Antworten. Sie | |
will wieder mitregieren, doch alles klingt wie immer: rückwärtsgewandt. |