# taz.de -- Debatte um Historiker Achille Mbembe: Die postkoloniale Schablone | |
> Zur Diskussion über Achille Mbembe gehören auch die postkolonialen | |
> Studien selbst. Sie sind Teil des Problems, selbst beim Thema | |
> Antisemitismus. | |
Bild: Die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gilt der Erinnerung an den Holo… | |
In der Debatte über Achille Mbembe scheinen inzwischen die relevanten | |
Argumente vorgebracht worden zu sein. Die öffentliche Debatte über die | |
Probleme des Diskurses der postkolonialen Studien (PoCo) hingegen steht | |
erst am Anfang. Wer solche Probleme diagnostiziert, dem wird von Fans oder | |
Vertretern dieser Strömung häufig mit kollektiv-narzisstischer Kränkung und | |
entsprechenden Abwehrstrategien begegnet. | |
Die bedenklichste Variante dieser Abwehrstrategien wird gerade von Mbembe | |
selbst praktiziert: die totalisierte Verdachtshermeneutik in Gestalt des | |
Rassismusvorwurfs. Diese Ersetzung von Argumenten durch Verweise auf | |
Herkunft und Identität – und sei es die eigene – ist ein Musterbeispiel f�… | |
die schablonenhafte Verwendung des Orientalismusmotivs seitens prominenter | |
Vertreter des PoCo-Diskurses: [1][Mbembe stilisiert sich zum Opfer einer | |
Kampagne, die „fragile Stimmen“ der Unterdrückten] zum Verstummen bringen | |
wolle. | |
Jede Kritik wird als „Othering“ delegitimiert, das heißt als bloß | |
projektive, rassistische Abwehr verleugneter Selbstanteile und Probleme der | |
eigenen Gesellschaft durch Konstruktion eines minderwertigen Anderen. Dass | |
man eine fragile Stimme sei, wenn man weltweit Universitäten, Stiftungen, | |
renommierte Verlage und Medien für die Verbreitung der eigenen Positionen | |
in Anspruch nehmen kann, ist eine steile These. | |
Noch fragwürdiger ist es, Kritikern ohne jeden Beleg ein rassistisches | |
Motiv anzudichten. Dieser Debattenstil ist aber kein Zufall, wenn man sich | |
die theoretischen Grundlagen vieler PoCo-Theoretikerinnen und Theoretiker | |
anschaut: die Schriften Nietzsches und Foucaults. Es ist genau die | |
Hermeneutik des Verdachts, die dort zum methodischen Prinzip erhoben wurde. | |
## Kult der Komplexität | |
„Man interpretiert nicht, was im Bezeichneten ist“, schreibt Michel | |
Foucault zustimmend, „sondern fragt letztlich, von wem die Interpretation | |
stammt. Das Prinzip der Interpretation ist nichts anderes als der | |
Interpret.“ Dass der Interpret bei Foucault dann lediglich der Knotenpunkt | |
eines anonymen Machtgeschehens und institutioneller Praktiken | |
privilegierten Sprechens ist, ist in diesem Fall zweitrangig. Immer wird | |
Geltung auf Genesis, wird Wahrheit auf die Herkunft des Gesagten reduziert. | |
Sodann steht der Vorwurf der Pauschalisierung im Raum, oder man versucht, | |
wie [2][Peter Ullrich in der taz], mit einem inhaltsleeren Gestus der | |
Ausgewogenheit die „eigentliche Wissenschaft“ der PoCo-Studien von | |
„vereinfachenden aktivistischen Aneignungen“ zu trennen. Natürlich gibt es | |
auch innerhalb der PoCo-Studien Kontroversen und theoretische | |
Ambivalenzen, zum Beispiel bei der Frage von Homogenität oder Hybridität | |
von Kulturen, einem Political Talk oder Culture Talk über soziale | |
Phänomene. | |
Es wäre dennoch abenteuerlich, zu behaupten, es gäbe bei einer enormen | |
Anzahl prominenter Vertreter des Faches, von Edward Said bis Judith Butler, | |
von Gayatri Spivak bis Mahmood Mamdani, von Iman Attia bis Étienne Balibar, | |
keine massiven [3][Probleme bei der theoretischen Bestimmung und | |
politischen Bewertung des Antisemitismus], des Holocaust und Israels. | |
Im Gegenteil findet sich hier ein systematischer Zusammenhang zwischen | |
[4][begrifflicher Einebnung der Spezifik des Antisemitismus, der | |
Relativierung der Schoah und einer Dämonisierung Israels]. Wenn Ullrich | |
diagnostiziert, die „Forschung zu Rassismus und Antisemitismus findet noch | |
überwiegend voneinander isoliert statt“, so ist das nicht zutreffend. | |
Denn eine postkoloniale Perspektive auf Judentum und Antisemitismus ist | |
keineswegs ein Randphänomen. Und gerade dort, wo diese Themen explizit | |
innerhalb dieses „Framework“ studiert werden: Zum Beispiel bei Gil Anidjar, | |
Michael Rothberg, Santiago Slabodsky oder Abigail Bakan finden sich häufig | |
die wissenschaftlich fragwürdigsten Ergebnisse, die regelmäßig in eine | |
ebenso fragwürdige „Israelkritik“ münden. | |
## Ein systematisches Problem | |
Um es vereinfacht zu sagen: Ein am Modell des europäischen Kolonialismus | |
gebildeter Begriff von Rassismus und „Othering“ wird, ohne Rücksicht auf | |
den zu erforschenden Gegenstand, als weltanschauliche Schablone verwendet. | |
Das führt zunächst dazu, den Antisemitismus notorisch auf eine Ebene mit | |
dem Rassismus gegenüber Schwarzen oder Arabern zu stellen. | |
Bei den Behauptungen, Juden seien im Antisemitismus als „less than white“ | |
(Bakan) behandelt, als antizivilisatorische „Barbaren“ (Slabodsky) | |
diskriminiert oder in Auschwitz gar als „Muslime“ ermordet worden | |
(Anidjar), geht die Spezifik der modernen Judenfeindlichkeit verloren, die | |
in den Juden ja gerade die Inkarnation von Hypermodernität, Abstraktheit | |
und anonymen konflikthaften Dynamiken des Kapitalismus sieht. | |
Die These, die aschkenasischen Juden seien nach dem Holocaust „white by | |
permission“ geworden (Bakan) und selbst zur „imperialen Gestalt“ mutiert, | |
kann sich dann zwanglos in das Stereotyp vom privilegierten Juden einfügen, | |
gegen den der Antisemit schon immer konformistisch rebellierte. | |
Wer darauf hinweist, dass Antisemitismus ein sehr spezifischer Hass ist und | |
dabei keineswegs nur noch bei Nazis oder neuen Rechten anzutreffen sei, | |
wird ebenso verschwörungstheoretisch wie aggressiv als Vertreter einer | |
„Holocaust-Industrie“ identifiziert, die zudem den Blick auf europäische | |
Verbrechen im „Trikont“ (Afrika, Asien und Lateinamerika) verstelle. | |
## Spezifik des Holocaust | |
Wer nun keinen adäquaten Begriff von Antisemitismus besitzt, kann auch | |
keinen von der Spezifik des Holocaust entwickeln. Und so wird dieser allzu | |
häufig lediglich als innereuropäisches Kolonialverbrechen interpretiert. Zu | |
diesem Zweck wird die Schoah systematisch vom erlösungsantisemitischen | |
Totalvernichtungsmotiv entkoppelt und in eine Kontinuität von Versklavung | |
und kolonialem Völkermord aufgelöst. | |
Die Zahl der zustimmenden Erwähnungen der Holocaust-Relativierer W.E.B. Du | |
Bois und Aimé Césaire ist in PoCo-Beiträgen dabei Legion. Wer keinen | |
Begriff von der Spezifik des Holocaust und der Persistenz des | |
Antisemitismus hat, kann schließlich keine Sensibilität für die | |
Notwendigkeit Israels als Selbstschutzinstanz der Juden entwickeln. | |
Die Dämonisierung Israels allein schon durch die atemberaubende Ansammlung | |
von Halbwahrheiten, mit denen etwa in den Texten Abigail Bakans oder Judith | |
Butlers gearbeitet wird, gehört weltweit zum guten Ton angesehener | |
Akademikerinnen und Akademiker dieser Strömung – selbstverständlich immer | |
mit humanem Anstrich und einer Rhetorik der Gewaltlosigkeit, in der „nur“ | |
die antisemitische Bedrohung Israels seitens der Hamas, der Hisbollah oder | |
des Mullah-Regimes ignoriert wird. Mitunter wird Israel ein pathologischer | |
„Samson-“ oder „Suicide Complex“ (Anidjar) attestiert, während man von | |
realen Selbstmordattentätern lieber schweigt oder sie gar verklärt, wie in | |
den Schriften Jasbir Puars. | |
Damit sind wir beim letzten Punkt: der De-Thematisierung des Antisemitismus | |
im politischen Islam und im arabischen Nationalismus. Hier schlägt die | |
pauschalisierende Verwendung des Orientalismuskonzepts voll durch. Wer vom | |
Antisemitismus der „People of Color“ spricht, kann nur von einem bösartigen | |
Bemächtigungswillen getrieben sein, so der Tenor. | |
Empirische Überprüfungen sind entweder Fehlanzeige, oder man nimmt die | |
Marginalisierten und „peripheren Akteure“ schlicht nicht ernst, wenn diese | |
gegen Juden hetzen und religiöse oder nationale Überlegenheit für sich | |
beanspruchen. Den Subalternen zuzuhören ist nicht die Sache dieser | |
kultursensiblen Rassismuskritik. | |
14 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Mbembe-zum-Antisemitismusvorwurf/!5684094 | |
[2] /Diskussion-um-Historiker-Mbembe/!5682990 | |
[3] /Postkoloniale-Theoretiker/!5678482 | |
[4] /Debatte-um-Achille-Mbembe/!5681657 | |
## AUTOREN | |
Ingo Elbe | |
## TAGS | |
Postkolonialismus | |
Achille Mbembe | |
Antisemitismus | |
Israel | |
taz.gazete | |
Schwerpunkt Kunst und Kolonialismus | |
Postkolonialismus | |
Shoah | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Postkolonialismus | |
BDS-Movement | |
Kolumne Der rote Faden | |
Achille Mbembe | |
Achille Mbembe | |
Israel | |
Postkolonialismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Antisemitismus in der Kultur: Hineinrufen ins brüllende Nichts | |
Zwei neue Bücher können das Bewusstsein für jüdische Positionen stärken. | |
Sie liefern instruktive Beiträge jenseits der aufgeheizten Debattenspirale. | |
Diskussion über Erinnerungspolitik: Der absolute Genozid | |
In welchem Verhältnis stehen Shoah und koloniale Verbrechen zueinander? | |
Eine Tagung an der TU Berlin versuchte sich an Antworten. | |
Verhältnis Kolonialismus und NS: Krise der Erinnerung | |
Der sogenannte neue Historikerstreit berührt eine zentrale Frage: Wie soll | |
Deutschland geschichtspolitisch für ein neues Zeitalter aufgestellt werden? | |
Debatte um Erinnerungskultur: „Eine sehr eigenwillige Deutung“ | |
Der Genozid-Forscher A. Dirk Moses kritisiert die deutsche | |
Erinnerungspolitik – in einer Tonalität, die man auch aus der Neuen Rechten | |
kennt, so der Historiker Volker Weiß. | |
Buch „Why we matter“: Den Blickwinkel wechseln | |
Die Aktivistin und Politikwissenschaftlerin Emilia Roig erzählt in „Why we | |
matter“ entlang ihrer eigenen Biographie, wie Rassismus funktioniert. | |
Um M-Straße erneut Debatte entbrannt: Trotzdem danke fürs Aufwecken | |
U-Bahnhof „Mohrenstraße“ soll in „Glinkastraße“ umbenannt werden? Dab… | |
gibt es von Decolonize Berlin einen Namensvorschlag. Ein Wochenkommentar. | |
Debatte um Achille Mbembe: Schiefe Optik | |
Eine ernsthafte Beschäftigung mit BDS würde wenig Spielraum für eine | |
Verteidigung Achille Mbembes lassen. | |
Schuldige und Schuldkomplexe: Phasen des Zusammenzuckens | |
Die Angst vor Corona weicht gerade anderen Ängsten. Auch alte Reflexe | |
schnappen wieder zu. Klar ist: Stärkere Mächte sind nicht per se die | |
Schlechten. | |
Debatte um Historiker Achille Mbembe: Die Logik des Verdachts | |
Die aktuelle Debatte über den Denker Achille Mbembe zeigt, wie sehr die | |
Anti-BDS-Beschlüsse der Kunst- und Meinungsfreiheit in Deutschland schaden. | |
Mbembe zum Antisemitismusvorwurf: „Gigantische Diffamierungskampagne“ | |
Der in Deutschland attackierte Kameruner weist die Antisemitismusvorwürfe | |
gegen ihn zurück – mit einer Ausnahme. Und: Felix Klein möge sich | |
entschuldigen. | |
Debatte um Achille Mbembe: Zionismus und Universalismus | |
Mbembes Fanclub nimmt dessen Ausführungen zu Israel nicht ernst und | |
ignoriert den arabisch-islamischen Antisemitismus. Eine Replik. | |
Postkoloniale Theoretiker: Leerstelle Antisemitismus | |
Die Verdienste postkolonialer Forschung sind groß. Doch die Causa Achille | |
Mbembe zeigt, dass sie das Wesen des Antisemitismus verkennt. |