# taz.de -- Verhältnis Kolonialismus und NS: Krise der Erinnerung | |
> Der sogenannte neue Historikerstreit berührt eine zentrale Frage: Wie | |
> soll Deutschland geschichtspolitisch für ein neues Zeitalter aufgestellt | |
> werden? | |
Bild: In welchem Verhältnis stehen Kolonialismus und die Shoah zueinander? Hol… | |
Nur zwei Tage nachdem Bund und Länder Ende März letzten Jahres den ersten | |
Lockdown beschlossen hatten, nahm im Feuilleton und auf Twitter mit der | |
sogenannten [1][„Causa Mbembe“] eine sich bis heute hinziehende öffentliche | |
Debatte über das Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus ihren Anfang, | |
die von vielen als [2][neuer „Historikerstreit“] betrachtet wird. | |
Dass sich die ursprünglich eher abseits geführte Diskussion über die | |
israelfeindlichen Äußerungen des kamerunischen Philosophen Achille Mbembe | |
binnen kürzester Zeit zu einer erinnerungspolitischen Fundamentaldebatte | |
auswuchs, ist durchaus erklärungsbedürftig. | |
Die Gründe sind sicher vielfältig, aber auch ein Zusammenhang mit dem | |
Lockdown, in dem die Welt für einige Wochen stillzustehen schien und die | |
aus den Büros Vertriebenen über ihr eigenes Leben und den Zustand der Welt | |
sinnierten, ist naheliegend. In der verschärften sozialen, politischen und | |
ökologischen Krise (Pandemie, Klimawandel, Niedergang der USA als | |
Ordnungsmacht etc.) wuchs das Bedürfnis, über die Fehler der Vergangenheit | |
nachzudenken und die bisherige Weltsicht infrage zu stellen. | |
Zumal mit China längst ein in der Pandemie besonders sichtbarer Akteur die | |
politische Bühne betreten hatte, der unter Xi Jinping inzwischen lautstark | |
die Systemfrage stellt und historische Deutungsmacht beansprucht. | |
## Sich verändernde Welt | |
Inmitten der allgemeinen Verunsicherung und Panik also fungierten die | |
Mbembe-Debatte und der sich anschließende Historikerstreit als Foren, auf | |
denen Deutschlands Rolle in einer sich radikal verändernden Welt verhandelt | |
werden konnte. Anstatt aber offen über globale Herausforderungen und | |
Bedrohungen der Demokratie zu sprechen, richtete sich der Blick auf die | |
deutsche Vergangenheit – und auf die Frage, wie sie richtig zu deuten sei. | |
Die Mbembe-Debatte war folglich nur ein eher zufälliger Auftakt für weitere | |
Kontroversen, die sich alle um denselben Themenkomplex drehten: Wie muss | |
eine nationale Gedenkkultur beschaffen sein, um der globalen Gegenwart | |
endlich gerecht zu werden? In welcher Weise muss die koloniale | |
Vergangenheit Deutschlands im nationalen Erinnerungsnarrativ berücksichtigt | |
werden? Wie „provinziell“ ist das deutsche Holocaustgedenken? | |
Auf welcher geschichtspolitischen Grundlage beruht die deutsche | |
Israelpolitik? Was ist Antisemitismus und was „legitime Israelkritik“? | |
Inwiefern grenzt der Begriff der „Singularität“ postmigrantische | |
Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung aus? | |
Solche Fragen sind zweifellos wichtig, doch der Verdacht, manchen an der | |
Diskussion Beteiligten gehe es hauptsächlich darum, Deutschland | |
geschichtspolitisch für ein neues Zeitalter flottzumachen, das wohl nicht | |
mehr im Zeichen westlicher Hegemonie stehen wird, drängte sich rasch auf. | |
Zahlreiche Kritiker erklärten, das Holocaustgedenken sei nicht mehr | |
„zeitgemäß“, als ob das irgendetwas über dessen Richtigkeit aussagen wü… | |
## Neue Zeiten | |
Im modernisierungstheoretischen Sinne könnten dieser Lesart zufolge jene, | |
die Erinnerungspolitik noch am Geschichtsbild der scheinbar untergehenden | |
Pax Americana ausrichten, als „konservativ“ bezeichnet werden. Als | |
„progressiv“ dagegen erscheinen all jene, die den Glockenschlag der | |
Geschichte vernommen haben und sich vorlaufend auf neue Zeiten unter der | |
Ägide Chinas einstellen. | |
Die elementare wissenschaftliche Kategorie der Wahrheit, die zwar nicht | |
kontext- und standortunabhängig ist, aber eben auch nicht vom historischen | |
Geschehen selbst abgelöst werden kann, blieb in diesem zähen Ringen um | |
Deutungsmacht zunehmend auf der Strecke. | |
Wie im ersten Historikerstreit ging es auch im zweiten um die Deutung des | |
Nationalsozialismus, um die angemessene Form des Erinnerns, um die | |
richtigen „Lehren aus der Vergangenheit“. | |
Doch während die politische Kultur der alten Bundesrepublik noch durch ein | |
konservatives Lager geprägt war, das die deutsche Schuld kleinredete und | |
den Holocaust relativierte, sind die Vorzeichen heute gänzlich andere: Die | |
ursprünglich von lokalen Initiativen getragene erinnerungspolitische | |
Modernisierung, die erst unter der rot-grünen Regierung Schröders und | |
Fischers richtig Fahrt aufnahm, festigte in den Nullerjahren das Bekenntnis | |
zur deutschen Verantwortung für den „Zivilisationsbruch“ Holocaust und | |
beförderte die Revisionisten aus dem ersten Historikerstreit ins politische | |
Abseits. | |
## Kern der Staatsräson | |
Seither bildet die Erinnerung an Nationalsozialismus, Vernichtungskrieg und | |
Holocaust den Kern deutscher Staatsräson, aus der Prinzipien politischen | |
Handelns abgeleitet werden sollen. Dazu gehört die Solidarität mit Israel, | |
dem Staat der Holocaustüberlebenden, dessen Unterstützung insbesondere die | |
Merkel-Regierung zu einem Eckpfeiler deutscher Außenpolitik gemacht haben | |
will. | |
Was im ersten Historikerstreit „progressiv“ war, nämlich die Position | |
Jürgen Habermas’, der gegen seine konservativen Widersacher Ernst Nolte und | |
Michael Stürmer die Singularität des Menschheitsverbrechens Holocaust | |
betonte und eine kulturelle Integration Deutschlands in die Tradition des | |
westlichen Liberalismus anstrebte, entspricht heute dem politischen Kompass | |
nahezu der gesamten politischen Klasse. | |
Wer diesen Kompass neu ausrichten möchte, und sei es auch aus besten, | |
postkolonialen Absichten, kann dies offenbar nicht mit kleinen | |
Positionsveränderungen tun, sondern muss auf das Zentrum der deutschen | |
Staatsräson zielen. | |
Deshalb geriet im zweiten Historikerstreit erneut die Konzeption des | |
Holocaust als eines „singulären“ oder „präzedenzlosen“ Ereignisses | |
systematisch unter Beschuss. Dieser als „Narrativ“ oder gar „Mythos“ | |
relativierte geschichtswissenschaftliche Begriff ziele darauf ab, so die | |
Kritiker, nichtwestliche Erfahrungen und Narrative auszugrenzen. | |
## Nur ein schreckliches Beispiel | |
Zudem führe er zur Unterstützung Israels, in dem manche Diskutanten gar ein | |
siedlerkolonialistisches und rassistisches Apartheidsystem auszumachen | |
glaubten. Der Holocaust wiederum sei zweifellos ein schreckliches | |
Verbrechen gewesen, aber zugleich auch nur ein besonders schreckliches | |
Beispiel für die Blutexzesse des westlichen Kolonialismus. Mit großen | |
interpretatorischen Verrenkungen versuchte etwa der [3][australische | |
Genozidforscher Dirk Moses], Holocaust und Vernichtungskrieg in koloniale | |
Verbrechen umzudeuten. | |
Im geschichtspolitischen Überschwang, der dazu tendierte, alle Differenzen | |
in einer einzigen Gewaltgeschichte des „westlichen Kolonialismus“ | |
verschwinden zu lassen, wurde also nicht nur die Präzedenzlosigkeit des | |
Holocaust bestritten, sondern auch die spezifische deutsche Verantwortung | |
unsichtbar gemacht. | |
Aus einer solchen Perspektive lassen sich die westlichen Siegermächte des | |
Zweiten Weltkriegs letztlich nicht mehr vom Nationalsozialismus | |
unterscheiden. Und auch der jüdische Staat passt plötzlich ins Passepartout | |
eines Kolonialrassismus, dessen Bekämpfung die wichtigste „Lehre aus der | |
Geschichte“ sei. | |
Wenig erstaunlich daher, dass Achille Mbembe, der in seinem Buch „Politik | |
der Feindschaft“ die südafrikanische Apartheid, die israelische | |
Palästinenserpolitik und den Holocaust allesamt zu Manifestationen eines | |
kolonialen „Trennungswahns“ erklärt hatte, so viel Zuspruch aus dem | |
„progressiven“ Lager erhielt. | |
## Ideologische Soft Power | |
Erst in einigen Jahren wird sich abschließend beurteilen lassen, wie der | |
zweite Historikerstreit ausging – und zwar nicht zuletzt abhängig davon, | |
wie der Westen aus der globalen machtpolitischen Auseinandersetzung mit | |
China hervorgehen wird. Schon jetzt nutzt der chinesische Imperialismus den | |
Postkolonialismus als ideologische Soft Power, um seinen Einflussbereich in | |
Afrika und Südostasien auszuweiten und die westliche Hegemonie zu | |
torpedieren. | |
Dabei stört das Wissen um die Spezifik des Holocaust nur insofern, als | |
dieser sich eben nicht in das Schema des bösen westlichen Kolonialismus | |
einfügen lässt. Solange die Vernichtung der europäischen Juden als ein | |
„westlicher Genozid“ unter anderen rubriziert werden kann, kommt das | |
Holocaustgedenken der chinesischen Staatsideologie dagegen nicht in die | |
Quere. | |
Aber auch der Postkolonialismus kann zum Bumerang für die Herrscher in | |
Beijing werden: dann nämlich, wenn sich „Konservative“ und „Progressive�… | |
gemeinsam gegen den chinesischen Neokolonialismus wenden und den drohenden | |
Genozid an den Uiguren anprangern, ohne damit die Spezifik des Holocaust zu | |
leugnen. | |
1 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Lenhard | |
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