# taz.de -- Buch über Antisemitismus: Jews don’t count | |
> Comedian David Baddiel fragt: Warum sind alle gegen alle Arten von | |
> Diskriminierung außer gegen Antisemitismus? | |
Bild: Sarkastisch im Ton, links und Atheist: David Baddiel, hier vor dem Englan… | |
In Großbritannien ist der [1][Comedian und Schriftsteller David Baddiel] | |
eine der prominentesten jüdischen Stimmen. Hierzulande ist er dagegen | |
bislang nur wenigen ein Begriff, vorrangig als Autor einiger ins Deutsche | |
übersetzter Romane und Kinderbücher. Sein neues Buch, ein politisches | |
Sachbuch, dürfte nun seinen Bekanntheitsgrad auch auf dem Kontinent | |
schlagartig erhöhen. Denn es geht darin um ein Thema, das erschreckend | |
aktuell ist: Antisemitismus. | |
Nun herrscht gewiss kein Mangel an [2][Büchern über Judenfeindschaft], doch | |
Baddiels Buch sticht aus der Flut an Veröffentlichungen heraus: Es ist kein | |
historischer Abriss, keine soziologische Analyse, sondern ein aus | |
persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen gespeister Essay. Sein Ton | |
changiert zwischen Empörung, Sarkasmus und nüchternem Kommentar, an die | |
Stelle des auftrumpfenden J’accuse! tritt die Technik der Collage. | |
Baddiel wägt seine Urteile vorsichtig ab, macht einen Schritt vor, einen | |
zurück, und präsentiert doch eine prägnante These, die durch eine Fülle an | |
empirischem Material gestützt wird: Für viele Menschen „mit gutem | |
Gewissen“, die sich „gegen Homophobie, Rassismus und andere Arten der | |
Diskriminierung“ richten, so der Klappentext, zählen die Juden nicht. | |
Über Juden, so zeigt Baddiel anschaulich, darf man in progressiven Kreisen | |
Witze reißen, und niemand schreitet ein, wenn sie verächtlich gemacht, | |
ausgegrenzt oder stigmatisiert werden. „Jews don’t count“ lautet der | |
englische Originaltitel des Buches. | |
## Wirklich progressiv? | |
Baddiel, dessen Großeltern mütterlicherseits 1939 vor den Nazis nach | |
England geflohen waren, stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass sich | |
selbst für links und progressiv haltende Menschen Antisemitismus | |
herunterspielen, relativieren – oder sogar selbst betreiben. Juden, so | |
stellt er fest, gelten vielen Antirassisten als „weiß“, „privilegiert“… | |
„reich“, weshalb sie auf der Seite der Unterdrücker stünden, gegen die Ha… | |
und Gewalt verständlich, wenn nicht gerechtfertigt sei. | |
Dass dieses tumbe Unterdrücker-Unterdrückte-Schema zwar einem moralischen | |
Impuls entspringen mag, mit Gesellschaftskritik aber wenig zu tun hat, | |
bleibt bei Baddiel nur angedeutet. | |
Er identifiziert sich selbst mit jenem progressiven Milieu, das ihn, den | |
Juden, als Unterdrücker markiert. Da nützen auch alle etwas hilflos | |
vorgebrachten Beteuerungen nichts, er stehe der Politik Israels kritisch | |
gegenüber, wähle die Labor Party und sei Atheist. Anstatt die Grundstruktur | |
der progressiven Weltsicht infrage zu stellen, fordert Baddiel, auch Juden | |
sollten als unterdrückte und marginalisierte Gruppe Anerkennung finden. | |
Die Haltung, Juden unabhängig von dem, was sie glauben, meinen oder tun, | |
für Ausbeuter und Unterdrücker zu halten, nennt Baddiel zurecht | |
„rassistisch“. | |
## Nicht einfach Rassismus | |
Gleichzeitig fällt er aber nicht auf das neuerdings wieder so beliebte | |
Spiel herein, den Antisemitismus einfach unter das Label „Rassismus“ zu | |
subsumieren und damit dessen Spezifik zu unterschlagen. Treffsicher nennt | |
er diese Gleichmacherei in Anspielung auf die rechte Hetze gegen die | |
Black-Lives-Matter-Bewegung das „All Lives Matter der Linken“. Falsche | |
Generalisierung verdeckt die Unterschiede. | |
Wie aber ist nun das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus präzise zu | |
beschreiben? | |
Baddiel führt den Begriff der „high-low status duality“ ein (in der etwas | |
ungelenken deutschen Übersetzung „Hoch-Niedrig-Dualität“), der die | |
Widersprüchlichkeit des antisemitischen Syndroms auf den Punkt bringt: | |
„Juden werden von Rassisten auf die gleiche Weise stereotypisiert wie | |
andere Minderheiten – als verlogen, diebisch, schmutzig, niederträchtig, | |
stinkend –, aber eben auch als vermögend, privilegiert, mächtig, als | |
geheime Herrscher über die Welt. Auf irgendeine Weise sind Juden sowohl | |
Untermenschen als auch im Verborgenen die Herren der Menschheit.“ | |
In der Konsequenz führe dieser Dualismus zu einer doppelten Ausgrenzung aus | |
dem „heiligen Kreis“ der schützenswerten Minderheiten: Erstens gehörten | |
Juden nicht dazu, zweitens seien sie Unterdrücker. Für White Supremacists | |
seien sie „definitiv nicht weiß“, hält Baddiel fest, für so manchen | |
Antirassisten dagegen „nicht braun oder schwarz“. | |
## Größere Gefahr von rechts | |
Beide Lager stimmten darüber ein, dass die Juden sowohl fremd als auch | |
mächtig seien. Der Autor blendet die unmittelbar größere Gefahr durch | |
rechte Gewalt nicht aus (die islamistische dagegen schon), aber es ist das | |
Entsetzen, dass Antisemitismus auch im eigenen politischen Lager grassieren | |
kann, das ihn umtreibt. | |
David Baddiels bestechende Analyse ist schmerzhaft, besonders für ein | |
politisches Milieu, das sich selbst für immun gegenüber antisemitischen | |
Einstellungen hält. | |
23 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.davidbaddiel.com/ | |
[2] /Buch-ueber-Antisemitismus/!5771320 | |
## AUTOREN | |
Philipp Lenhard | |
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