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# taz.de -- Debatte um Erinnerungskultur: „Eine sehr eigenwillige Deutung“
> Der Genozid-Forscher A. Dirk Moses kritisiert die deutsche
> Erinnerungspolitik – in einer Tonalität, die man auch aus der Neuen
> Rechten kennt, so der Historiker Volker Weiß.
Bild: Immer wieder ist die so genannte Erinnerungskultur in der Diskussion: Hol…
taz: Herr Weiß, vor einigen Tagen hat der renommierte, in den USA lehrende
Genozid-Forscher A. Dirk Moses im Online-Magazin [1][Geschichte der
Gegenwart einen polemischen Artikel mit dem Titel „Der Katechismus der
Deutschen“] veröffentlicht. Dieser Artikel wurde inzwischen auch ins
Englische übersetzt und hat teils eine sehr begeisterte Rezeption erfahren.
Sie haben sich kritisch zu Moses’ Artikel geäußert. Was genau stört Sie?
Volker Weiß: Insgesamt ist der Text überfrachtet, er thematisiert den
Kolonialismus, Auseinandersetzungen um deutsche Erinnerungskultur, die
Frage nach der Singularität der Shoah, Israel und die
Israel-Boykottbewegung BDS. Dabei bricht Moses hiesige
vergangenheitspolitische Debatten auf fünf angebliche grundlegende
„Überzeugungen“ herunter, die einen, wie er es nennt, „Deutschen
Katechismus“ ausmachen würden. Doch fast keine davon hält einer Überprüfu…
stand.
So behauptet er etwa, in Deutschland halte man Antisemitismus für ein
spezifisch deutsches Phänomen. Nun, die NS-Vernichtungspolitik war
spezifisch deutsch, aber dass es Antisemitismus in vielen anderen Ländern
gab und gibt, bestreitet niemand. Im Moment wird er sogar regelrecht
externalisiert, als „Import“. Eine weitere Behauptung war, das
Holocaust-Gedenken bilde „das moralische Fundament der deutschen Nation,
oft gar der Europäischen Zivilisation“.
Was stimmt daran nicht?
Ich würde das ja für einen Fortschritt halten – aber auch das ist von
keiner Realität gedeckt. Die Anerkennung einer besonderen Bedeutung der
Shoah ist ein relativ neues Phänomen, das sich erst ab den Neunzigern
durchsetzt. Die Akzeptanz dieser Sicht blieb aber auf eine Bildungselite
beschränkt, wie schon der Blick in die Online-Kommentarspalten zeigt. Moses
scheint seinen liberalen akademischen Kosmos mit der deutschen Gesellschaft
zu verwechseln. Und auch in Europa ist man von einem erinnerungspolitischen
Konsens weit entfernt – siehe allein die Debatten in Polen oder Ungarn.
Zudem klagt Moses die kategoriale Trennung von Antizionismus und
Antisemitismus ein. Richtig, denn beides sollte man grundsätzlich
auseinanderhalten, da der Antizionismus unterschiedliche, auch
innerjüdische Formen kennt. Allerdings artikuliert sich Antizionismus
weltweit mittlerweile fast nur antisemitisch. Am schwierigsten aber finde
ich Moses’ Hauptthese, die Deutschen würden heute im Philosemitismus die
gleiche Erlösung suchen wie im Antisemitismus.
Könnten Sie das weiter ausführen?
Moses behauptet, die Deutschen hätten „verinnerlicht, dass für die sündige
Vergangenheit ihrer Nation nur über den Katechismus Vergebung zu erlangen
ist“. Er glaubt, so wurde eine „Heilsgeschichte“ geschaffen, „in der die
‚Opferung‘ der Juden durch die Nazis im Holocaust die Voraussetzung für die
Legitimität der Bundesrepublik darstellt“. Das ist eine sehr eigenwillige
Deutung.
Ich lese aus den Thesen vor allem Moses’ Abneigung gegen die Arbeiten Dan
Diners, einen „deutschen Katechismus“ beschreibt er jedenfalls nicht.
Vielleicht hätte er den Text besser „Diners Katechismus“ nennen sollen?
Eine ganze Reihe von Moses’ Motiven findet sich auch in Rolf Peter
Sieferles antisemitischem Pamphlet „Finis Germania“.
Inwiefern genau erinnert Sie Moses’ Argumentation und Tonalität an
erinnerungspolitische Debatten von rechts?
Das beginnt schon bei seiner Terminologie. Beispielsweise wirft Moses jenen
vor, [2][die auf die Unterschiede von kolonialer Gewalt und
NS-Vernichtungspolitik hinweisen], als „Hohepriester“ zu agieren und
„Exorzismen“ zu betreiben, er fühlt sich an „Häresieprozesse“ erinner…
Seine „Sakralisierungsthese“ ist ja nicht gerade neu. In der Regel wird sie
von Kreisen vorgetragen, die den Bedeutungsverlust von Religion beklagen
und in der Gedenkpolitik Sinnstiftungskonkurrenz sehen. In Deutschland ist
mir das aus den [3][„Schuldkult“-Debatten der Neuen Rechten] geläufig.
Mit dieser Argumentation muss sich Moses nicht wundern, dass er der
deutschen Rechten nun als Kronzeuge dient. Martin Sellner von den
„Identitären“ hat ihn bereits als „postkoloniale“ Abrissbirne der
verhassten Erinnerungskultur bejubelt. Leider scheint es auch in der
BDS-affinen Kunstszene eine gewisse Offenheit für diese Terminologie zu
geben. Zumindest beobachte ich das in der Rezeption des Textes.
Stehen die von Ihnen kritisierten Aspekte an Moses’ Text pars pro toto für
Tendenzen in der aktuellen Feuilletondebatte über das Verhältnis von
Antisemitismus und Rassismus sowie über postkoloniale Deutungen der Shoah?
Immerhin beklagt Moses ja auch, dass der Antisemitismus in Deutschland als
„ein Vorurteil und Ideologem sui generis“ gelte, das auf keinen Fall „mit
Rassismus verwechselt“ werden dürfe.
Das ist sicher ein Kontext der Debatte. Doch sah der Rassismus in den
Nichtweißen wirklich einen übermächtigen, allgegenwärtigen Weltfeind, der
sowohl den Kommunismus als auch den Kapitalismus kontrolliert, wie der
Antisemitismus in den Juden? Obwohl die rassistischen Rassengesetze in den
USA etwa bis in die Sechziger galten, sammelten die Amerikaner weder im
Pazifik noch in der Karibik oder ihren Südstaaten Nichtweiße ein.
Die Deutschen gaben sich in ihrer Einflusssphäre dagegen alle Mühe, der
Juden habhaft zu werden, um sie zu vernichten. Natürlich sind die Phänomene
Antisemitismus und Rassismus verwandt. Sie können das jetzt als „Unterform“
des Rassismus bezeichnen oder als etwas Eigenes, „sui generis“. Doch diese
Differenzen müssen in jedem Fall wahrgenommen werden.
Lässt sich der Konflikt zwischen Holocaust- und Postcolonial Studies denn
irgendwie auflösen?
Ich denke, die eigentliche Frage in der Auseinandersetzung ist, wie
Shoah-Gedenken als Mahnung für die ganze Menschheit universalisiert werden
kann, ohne dass dabei die jüdischen Opfer darin unsichtbar werden. Die
Erweiterung der Perspektive durch neue gesellschaftliche Gruppen oder über
nationale Grenzen hinweg ist ein objektiver Prozess. Unterschiedliche
Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg finden sich bereits in der
israelischen Gesellschaft selbst. Die Shoah-Überlebenden brachten andere
Erfahrungen mit als die afrikanischen oder orientalischen Juden, die
ehemaligen Angehörigen der Roten Armee hatten ihr Selbstbewusstsein als
Sieger.
Die deutsche Gedenkpolitik wiederum war jahrzehntelang erst mal mit den
eigenen Kriegstoten befasst, jüdische Positionen blieben marginal. Das
Verständnis für das Spezifische der jüdischen Opfer war aber auch in
anderen Ländern wenig entwickelt. Ob in Ost oder West, nationale und
politische Narrative dominierten stets. Diese mussten erst einmal
überwunden werden. Die überlebenden Opfer haben sich ihren Platz in der
Erinnerung erstritten, so gesehen war das Shoah-Gedenken selbst ein Prozess
der Entkolonialisierung.
Auffällig bei vielen der jüngsten Demonstrationen gegen Israel war, dass
dort das „Schuldkult“-Motiv ebenfalls vorgebracht wurde.
Heute müssen wir vergegenwärtigen, dass sich neben dem eher leisen
tradierten Antisemitismus ein eingewanderter lautstark artikuliert. Diesen
anzugehen ist sicher Aufgabe der Bildungsarbeit, aber es müssen in beiden
Fällen auch die politischen Strukturen angegangen werden, die ihn
befördern. Den jeweils einen mit Hinweis auf den anderen zu ignorieren
hilft jedenfalls nicht. Zudem gibt es deutliche Lerneffekte voneinander.
Die Performanz der islamistischen Jugendgruppe Muslim Interaktiv etwa, die
seit einiger Zeit medial sehr offensiv auftritt, ist deutlich an den Stil
der Identitären angelehnt.
Ein letzter von Moses angeführter Glaubenssatz des „Deutschen Katechismus“
besagt: „Deutschland trägt für die Juden in Deutschland eine besondere
Verantwortung und ist Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet: ‚Die
Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson unseres Landes.‘“ Wie bewerten
Sie diesen Punkt?
Das Bekenntnis trägt als Argument recht wenig, da diese Formel kaum mehr
als Symbolwert hat. Es ist bis heute völlig unklar, was das eigentlich
heißen soll, vor allem angesichts divergierender Interessen. Die deutsche
Wirtschaft schielt sehnsüchtig auf den Iran und die arabischen Länder als
Absatzmarkt, darf aber nicht immer so aktiv sein wie früher. In der
Vergangenheit hat man sich da jedenfalls recht wenig um die „Sicherheit
Israels“ gekümmert. Und um bestimmte Vergleiche und Anwürfe zurückzuweisen,
die im Kontext mit Israel gerne bemüht werden, braucht es keine „besondere
Loyalität“, sondern nur etwas Differenzierungsvermögen.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Interviews hieß es
im von der Redaktion verfassten einleitenden Teaser, der Genozid-Forscher
A. Dirk Moses behaupte, die Deutschen würden „Schuldkult“ pflegen. Das
trifft nicht zu. Die Stelle wurde korrigiert.
9 Jun 2021
## LINKS
[1] https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/
[2] /Debatte-um-die-Gedenkkultur/!5751296
[3] https://www.bpb.de/apuz/257660/neue-rechte-und-ideologische-traditionen
## AUTOREN
Till Schmidt
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