# taz.de -- Ulrich Herbert über Holocaust-Forschung: „Quellenlage ist besser… | |
> 16 Bände zählt die breiteste Sammlung zur Holocaust-Forschung. Historiker | |
> Ulrich Herbert über den finalen Band – und warum er den Diskurs zur | |
> NS-Zeit skeptisch sieht. | |
Bild: Grundlegend für unser historisches Selbstverständnis: Auschwitz als Sin… | |
taz: Herr Herbert, die Edition Holocaust-Dokumente sollte nach 8 Jahren | |
beendet sein. Es hat nun 18 Jahre gedauert. Warum? | |
Ulrich Herbert: Die ursprüngliche Idee war es, ein überschaubares | |
Kompendium der wichtigsten Dokumente von etwa sechs Bänden | |
zusammenzustellen. Das hat sich schnell als unzureichend herausgestellt. | |
Eine seriöse Grundlagenforschung, die Täter, Opfer und Zuschauer | |
repräsentiert, musste viel umfangreicher sein. Wir hatten es mit 20 | |
Ländern, 21 Sprachen und Recherchen in mehr als 100 europäischen Archiven | |
zu tun. Zudem sollten die Biografien aller beteiligten Personen | |
recherchiert werden, aller Täter und Zuschauer, [1][vor allem aber aller | |
Opfer]. Das hat sich als sehr aufwendig erwiesen. | |
Warum soll man diese 16 Bände lesen? | |
Zum einen sind sie eine Grundlegung für weitere Arbeiten und Forschungen. | |
Darüber hinaus aber ermöglichen die Dokumente und Quellen einen direkteren | |
Bezug, eine unmittelbare und multiperspektivische Konfrontation mit den | |
Geschehnissen. Wer ein paar Stunden in diesen Quellen liest, vergisst | |
diese Lektüre nicht. Sie schafft die Möglichkeit, sich ein sehr nahes, | |
eigenes Bild zu machen. | |
Viele Bände skizzieren Entrechtung und Repression, dann Ghettoisierung und | |
Deportation, dann Mord und Vernichtung. Ist dies – Verschärfung und | |
Kumulation – der erzählerische Fluchtpunkt dieser Bände? | |
Wenn, dann keiner, der bewusst hergestellt wurde. Aber die Quellen zeigen | |
die Vernichtungspolitik überdeutlich als Prozess, nicht als Vollzug eines | |
früh gefassten Plans. Die Nazis wussten 1939 nicht, dass sie 1942 ganz | |
Europa beherrschen und dass dann sieben oder acht Millionen Juden in ihrem | |
Machtbereich leben würden. Sie haben immer nur die nächste Stufe der | |
Repression und des Terrors geplant. Es gab aber Sprünge. Der Plan, alle | |
Juden nach Madagaskar zu deportieren, der unter anderem aus dem Auswärtigen | |
Amt kam, war so ein Sprung. Man dachte fortan nicht mehr in Tausenden oder | |
Hunderttausenden, sondern in Millionen. | |
Viel Raum nimmt die Kollaboration der besetzten Länder mit den Nazis ein. | |
Es gibt zwei Länder, in denen die NS-Judenverfolgung scheiterte – Dänemark | |
und Albanien. | |
… und Bulgarien … | |
Warum diese Länder? | |
Aus Tradition, Zufall und wegen der Größenordnungen. Es gab 5.000 dänische | |
Juden, das rettende Schweden war mit dem Boot leicht zu erreichen. Die | |
deutschen Besatzer haben die Deportation dort auch nicht so stark forciert | |
wie anderswo. Es gab im Land wenig Antisemitismus und viel Erbitterung über | |
die deutschen Besatzer. Ähnlich war es in Albanien. Bulgarien hat die | |
Deportation der Juden aus den altbulgarischen Gebieten verweigert. Die | |
Juden in den besetzten Gebieten wurden den Deutschen jedoch ausgeliefert. | |
Eine solche Unterscheidung zwischen „eigenen“ und „fremden“ Juden finden | |
wir auch in anderen Ländern. | |
Also gibt es kein Muster? | |
Nicht ein Muster, es gibt mehrere. Antisemitismus ist überall feststellbar. | |
Aber auch eine Gier nach den angeblichen Reichtümern der Juden. [2][In | |
vielen Ländern rückt seit einigen Jahren die Kollaboration mit den | |
Deutschen in den Vordergrund, die lange verschwiegen wurde]. Aber seit gut | |
15 Jahren ist das anders geworden, auch die Quellenlage ist besser | |
geworden. Davon hat die Edition profitiert. | |
Hat Sie in der Forschungsarbeit etwas überrascht? | |
Ja, wie unfassbar viele Zeugnisse aller Art dieser Massenmord hinterlassen | |
hat. Dokumente der Täter und der Zuschauer vor allem, aber eben auch der | |
Opfer. Die Vorstellung, das sei im Wesentlichen ein geheimer Vorgang | |
gewesen, erweist sich so als abwegig. [3][Zum anderen, wie oft man bei | |
solchen Recherchen auf Leute trifft, zu denen man als Deutscher in | |
irgendeiner Beziehung stand oder steht]. Ein Beispiel: Günter Hellwing war | |
während der Kriegsjahre Leiter der Gestapo in Marseille und | |
mitverantwortlich für die Deportation der Juden der Stadt in die | |
Vernichtungslager. Nach dem Krieg wurde er Leiter der Kriminalpolizei in | |
Mülheim an der Ruhr, meiner Heimatstadt. Die Kripo lag direkt gegenüber | |
meiner Schule. Er war SPD-Landtagsabgeordneter, 1958 gelangte er sogar in | |
den Bundesvorstand der Partei, bis sich die SPD von ihm trennte. Es gibt | |
sehr viele solcher Geschichten, das ist in Deutschland gar nicht | |
vermeidbar. | |
Ist die Erforschung der Judenvernichtung im Jahr 2021 – und symbolisch mit | |
dieser Edition – abgeschlossen? | |
Nein. Die Frage, ob nicht endlich alles erforscht ist, wurde uns auch schon | |
2003 gestellt, als wir das Konzept für die Edition vorstellten. Die gleiche | |
Frage hatte mir auch ein [4][FAZ-Redakteur] gestellt, der meinte, das Thema | |
NS-Zeit sei mit der Wiedervereinigung jetzt doch erledigt. Das war 1990. | |
Und in den 1960er Jahren, bei den Debatten um die Verjährung der Mordtaten | |
der Nazis, ging es vor allem um diese Frage. Die Antwort ist immer: Nein. | |
Diese Edition gibt wie alle historische Forschung ein Zwischenresultat, | |
allerdings auf sehr breiter Grundlage. Und natürlich wird sich das durch | |
neue Quellen und neue Fragen auch verändern. | |
Gibt es noch weiße Flecken auf der Forschungslandkarte der | |
Judenvernichtung? | |
Ja. Vor allem in Südosteuropa, in Griechenland, Rumänien, in der Ukraine. | |
In den letzten Jahren wird der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen | |
Interessen und Vernichtungspolitik verstärkt diskutiert und erforscht – in | |
Deutschland und in den einst besetzten Ländern. Der Holocaust war auch und | |
vielfach sogar in erster Linie ein systematischer, staatlich organisierter | |
Raubmord. | |
Ihre Mitherausgeberin Susanne Heim hat gesagt: Diese Bände sind der | |
Versuch, sich von der Metadiskussion über den Holocaust zu entfernen und | |
sich wieder dem Geschehen selbst zuzuwenden. Warum ist das wichtig? | |
Als [5][Helmut Kohl] einmal eine neue Ausstellung in Yad Vashem in | |
Jerusalem besuchte, sagte er dort: Das weiß ich doch alles. Das ist eine | |
verbreitete Haltung. Raul Hilberg hat vermutet, dass sein Buch, das | |
Standardwerk über den Holocaust, zwar oft gekauft, aber fast nie gelesen | |
wurde. Das ist dem Thema inhärent. Es existiert eine verständliche Scheu | |
gegenüber der Empirie des Holocaust. Jeder hat eine Meinung und eine | |
moralische Haltung gegenüber dem Judenmord. Ob er oder sie nun viel darüber | |
weiß – oder nichts. Viel Meinung, wenig Kenntnis: Das ist zunehmend | |
problematisch. | |
Warum sind Sie so skeptisch gegenüber dem öffentlichen Diskurs über die | |
NS-Zeit? | |
Wir erleben schon seit Jahrzehnten ein Übermaß an Spekulation, | |
Interpretation, Deutung, oft ohne detaillierte Kenntnisse. Das galt auch | |
für den Historikerstreit der 80er Jahre. Hier hat sich ein Ungleichgewicht | |
entwickelt – ein Übermaß an medialem Schein und wenig Befassung mit der | |
Sache selbst. Es gibt ja mittlerweile mehr Arbeiten über den Holocaust im | |
Film oder im Gedicht als über den Massenmord selbst. Und immer mehr und | |
immer wieder die Zurichtung auf die Frage: Was soll die Jugend daraus | |
lernen? Aber dass man keine kleinen Kinder umbringt, weiß man auch ohne | |
historische Kenntnisse über den Judenmord. Die Auseinandersetzung mit | |
diesen Massenmorden ist kein didaktischer Vorgang. | |
Sondern? | |
Er ist ein individueller Vorgang. Es zu wissen und mehr darüber zu wissen | |
ist der Zweck dieser Auseinandersetzung. | |
Aber gibt es die Kämpfe um die Interpretation und Deutung der NS-Zeit noch? | |
Der Historikerstreit, die Debatten um die Wehrmachtausstellung, | |
Holocaust-Mahnmal, Zwangsarbeiterentschädigung – all das ist 20 Jahre und | |
länger her. Das Thema scheint als Selbstverständigungsdiskurs der Republik | |
vorbei zu sein. | |
Die großen Auseinandersetzungen um die NS-Verbrechen, um die Wehrmacht, die | |
Rolle der Intellektuellen, die Größenordnungen der Verbrechen sind | |
weitgehend ausgestanden. In den letzten Jahren hat sich ein gewisser | |
Konsens herausgebildet. NS-Herrschaft und Holocaust sind grundlegend für | |
unser historisches und politisches Selbstverständnis. Dieser Konsens wird | |
von den weitaus meisten Bürgern des Landes geteilt. Das war vor 30 Jahren | |
noch ganz anders. Die scharfen Kontroversen haben auch nachgelassen, weil | |
die Auseinandersetzung mit der Tätergeneration vorbei ist, die diesen | |
Diskurs bis in die 80er Jahre hinein mit geprägt hat. Ein SS-Offizier, der | |
am Ende des Krieges 25 Jahre alt war, ist erst 1985 pensioniert worden. | |
Antisemitismus ist als öffentliches Thema aber keineswegs verschwunden. Im | |
Gegenteil. Es reicht von der Debatte um das Verhältnis von Holocaust und | |
Kolonialismus über den Krieg in Nahost bis zu Hans-Georg Maaßens | |
Facebook-Likes. Die Debatte löst sich aber von dem | |
Vernichtungsantisemitismus und von dem, was in diesen 16 Bänden beschrieben | |
wird … | |
Das stimmt. Aber der Begriff wird zurzeit überstrapaziert. Wenn alles | |
[6][Antisemitismus] ist, ist der Begriff nichts mehr wert. In diesen | |
Wochen, in Zeiten des Krieges, wird natürlich besonders exzessiv gelogen. | |
Aber schon in den 70er Jahren hatten französische Bauern mit der Parole | |
„Brüssel ist das Auschwitz der Bauern“ demonstriert. Gaddafi und Saddam | |
Hussein wurden propagandistisch als neue Hitlers tituliert. Der | |
Nationalsozialismus ist global zur Norm des Negativen geworden. Daher sind | |
diese Metaphorisierungen offenbar unvermeidbar. | |
15 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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