# taz.de -- Briefe aus dem Konzentrationslager: „Bin gesund und munter“ | |
> In „Spuren des Terrors“ untersucht Heinz Wewer Briefe aus | |
> Konzentrationslagern. Er gibt damit den Opfern ihre Geschichte und | |
> Individualität zurück. | |
Bild: Den Opfern der Konzentrationslager sollte jegliche Individualität genomm… | |
„Nun ist der erste Einstand getan, der wie aller Anfang schwer ist.“ Auf | |
der Adresszeile des ersten Briefs, den der Geistliche Paul Schneider | |
seiner Frau Gretel kurz nach seinem „Einstand“ geschickt hat, ist nicht | |
etwa seine neue Pfarrstelle vermerkt, sondern [1][„Konzentrationslager | |
Buchenwald“]. | |
Mithilfe dieses und über 280 anderer Dokumente aus dem Lagersystem der | |
Nationalsozialisten, die er in dem Buch „Spuren des Terrors“ versammelt, | |
gelingt dem Historiker Heinz Wewer eine Chronik der Konzentrationslager, | |
die postalische Zeugnisse der Opfer in den Mittelpunkt stellt. Mit Briefen | |
aus insgesamt 31 Konzentrations- und 44 Außenlagern erklärt Wewer die | |
Entwicklung des Lagersystems von den „frühen“ provisorischen | |
Konzentrationslagern für politische Gegner bis zu den Orten der | |
Massenvernichtung. | |
Die Methodik, mit der er sich diesem Thema widmet, ist dem Historiker nicht | |
neu. Bereits in zwei anderen Werken, „Abgereist, ohne Angabe der Adresse“ | |
und „Postalische Zeugnisse zur deutschen Besatzungsherrschaft im | |
Protektorat Böhmen und Mähren“, rekonstruierte Wewer Kapitel der NS-Zeit | |
mithilfe von Briefquellen. | |
Dabei erhebt das Buch „Spuren des Terrors“ keinen Anspruch auf | |
Vollständigkeit: Explizit ausgeklammert werden die Vernichtungslager: | |
Chelmno, Belzec, Sobibor und Treblinka und damit große Teile der Schoah und | |
des Porajmos, [2][des Genozids an den Sinti und Roma]. Diesem Teil der | |
NS-Geschichte widmet Heinz Wewer ein eigenes Buch mit dem Namen „Spuren der | |
Vernichtung“, das 2021 erscheinen soll. | |
## Dokumente von Erich Mühsam und Carl von Ossietzky | |
Eine vollständige Geschichte der Konzentrationslager allein anhand von | |
Briefquellen zu erzählen war aufgrund der Zensur nicht möglich. Um das Bild | |
des Lagersystems aus der Innenperspektive zu vervollständigen, ergänzt | |
Wewer seine Erkenntnisse aus postalischen Quellen um Zeitzeugenberichte. | |
NS-Quellen verwendet er in der Regel nur, um die Bürokratie des Terrors zu | |
erklären, in der die Konzentrationslager organisiert waren. | |
In „Spuren des Terrors“ stehen vor allem Einzelschicksale im Fokus. Neben | |
den letzten Lebenszeichen von berühmten [3][Oppositionellen wie Erich | |
Mühsam] oder Carl von Ossietzky druckt Heinz Wewer vor allem die intime | |
Korrespondenz nicht berühmter Opfer mit ihren Verwandten und Geliebten ab. | |
Dabei rekonstruiert er auch ihr Leben vor und – sofern sie überlebt haben – | |
nach der Lagerhaft und gibt ihnen damit das zurück, was ihnen die | |
Konzentrationslager nehmen sollten: ihre eigene Geschichte und | |
Individualität. | |
Gleichzeitig erklärt Wewer anhand des Privilegs des Postverkehrs, wie | |
Konzentrationslager nach ihrem eigenen Ständesystem funktionierten, das im | |
Sinne der NS-Ideologie nach Kategorien der Herkunft und | |
„Rassezugehörigkeit“ organisiert war. So war deutschen Opfern Postverkehr | |
in der Regel gestattet, während Russen sowie Sinti und Roma und Juden seit | |
Kriegsbeginn keinen Kontakt zur Außenwelt haben durften. | |
## Briefverkehr erhielt Hoffnung und Überlebenswillen | |
Postverkehr wurde ihnen nur dann gestattet, wenn er im Sinne der | |
Nationalsozialisten war. Zum Beispiel im Rahmen der sogenannten | |
Briefaktionen, in denen Juden unmittelbar vor ihrer Ermordung gezwungen | |
wurden, ihren Verwandten zu schreiben. Mit so zynischen Passagen wie „Bin | |
gesund und munter“ sollten Judenräte beruhigt und nebenbei noch nicht | |
verhaftete Juden ausfindig gemacht werden. | |
Briefkontakt war ihnen auch dann erlaubt, wenn sie besonderen Wert für die | |
SS hatten. Das Postprivileg, das den Sekretärinnen von Auschwitz oder den | |
Zwangsarbeitern des Fälscherwerks im KZ Sachsenhausen eingeräumt wurde, war | |
aber keine Gefälligkeit für wertvolle Sonderarbeit. Es sollte lediglich ihr | |
Überleben sichern. Denn das beweist „Spuren des Terrors“ eindrücklich: | |
Briefe waren in den Konzentrationslagern der einzige Kontakt nach außen. | |
Sie erhielten die Hoffnung, Geliebte wiederzusehen, und damit auch den | |
Willen, das Lagersystem zu überleben. | |
27 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Patrick Wagner | |
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