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# taz.de -- Gedenken an Todesmärsche vor 75 Jahren: Auf dem Todesmarsch erscho…
> Kurz vor Kriegsende trieb die SS Häftlinge aus Konzentrationslagern durch
> Brandenburg. Diese Todesmärsche haben Spuren hinterlassen.
Bild: Solche Gedenktafeln sind in Brandenburger Orten zu finden, durch die Häf…
Berlin taz | Ende April 1945 treibt die SS mehr als 30.000 Häftlinge aus
dem Konzentrationslager Sachsenhausen und weitere 12.000 Häftlinge aus
dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrückin Richtung Schwerin. In
Brandenburg kursiert das Gerücht, die SS wolle die Häftlinge zur Ostsee auf
Schiffe treiben und versenken.
Dafür gibt es jedoch keinen historischen Beleg, „Die Faktenlage ist
widersprüchlich“, sagt Carmen Lange, Leiterin der Gedenkstätte
[1][Todesmarsch] im Belower Wald bei Wittstock. „Die Anordnung der
Todesmärsche folgte keinem logisch nachvollziehbaren Ziel, außer dem, eine
Befreiung der Häftlinge zu verhindern. Aber es gibt Hinweise darauf, dass
man die Gefangenen als Geiseln in der Verhandlungsmasse mit den Alliierten
unter Kontrolle behalten wollte oder als Arbeitskräftereservoir erhalten,
für den Fall, dass ein separater Friedensschluss mit den Westalliierten
gegen die Sowjetunion erreicht würde.“
Erst am Kriegsende engagiert sich das Internationale Rote Kreuz für die
Freilassung von KZ-Häftlingen und verhandelt über die Übernahme
Sachsenhausens. Erfolglos. Am 20. und 21. April werden die Häftlinge in
500er-Kolonnen Richtung Schwerin getrieben. In dem immer enger werdenden
Korridor zwischen Roter Armee und US-Truppen laufen die Gefangenen mitten
durch das Gefechtsgebiet.
Die einzelnen Kolonnen werden im Belower Wald bei Wittstock
zusammengeführt. Dort findet man heute noch in die Bäume eingeritzte Spuren
der etwa 16.000 Häftlinge, die hier bis zu sechs Tage lang unter freiem
Himmel lagern mussten, eingezäunt und bewacht von der SS, versorgt nur
durch eine begrenzte Zahl von Lebensmittelpaketen des Roten Kreuzes. Danach
werden sie weitergetrieben bis kurz vor Schwerin und Ludwigslust.
## Überall Spuren
Am Nachmittag des 3. Mai ergeben sich die letzten SS-Wachmänner in
amerikanische Gefangenschaft, und einen Tag später ist hier der Krieg zu
Ende, und die Gefangenen sind frei.
Spuren der Todesmärsche findet man nicht nur im Belower Wald, sondern
überall in Brandenburg. In der Gemeinde Löwenberger Land nahe Sachsenhausen
gibt es Massengräber von Opfern des Todesmarsches in den direkt an der
Bundesstraße gelegenen Dörfern Teschendorf, Grieben und Linde. Wer nicht
mehr laufen konnte, wurde erschossen. Andere starben an Hunger oder
Erschöpfung. Die Leichen werden von Bauern oder dem Volkssturm eingesammelt
und vergraben, später exhumiert und auf den Dorffriedhöfen beigesetzt.
Zur Gemeinde Löwenberger Land gehört auch das Dorf Grüneberg. Ende der
1980er begaben sich hier Konfirmand:innen mit ihrem Pfarrer auf Spurensuche
und befragten die Alten, wie das war, als die Kolonnen durch ihre Dörfer
kam. „Es war April, kurz vor unserer Flucht. Schon am Tag liefen die KZler
auf der Straße Richtung Löwenberg“, heißt es in einem der Interviews. „S…
liefen nicht, sie schlurften. Rechts und links von ihnen liefen die
SS-Leute. Die Häftlinge sagten nichts, sie schrien nicht. Nur das Schlurfen
und ein leises Murmeln war zu hören. Auch nachts liefen sie und am Morgen
lagen die Leichen am Straßenrand.“
Der elende Anblick ausgemergelter Menschen in verdreckten gestreiften
Lumpen, die Schüsse und die Leichen am Wegesrand durchziehen die
anonymisierten Berichte, die die heutige Grüneberger Pfarrerin Barbara
Schlenker aufbewahrt. Seit den 50er Jahren war die offizielle Erzählung in
der DDR, die Bevölkerung sei entsetzt und solidarisch gewesen und die SS
habe die Hilfsbereitschaft der Landbevölkerung gewaltsam unterbinden
müssen.
## Jugendliche erforschen Geschichte
Es gibt solche Schilderungen in den Interviews: Berichte von starrem
Entsetzen über den Zustand der Häftlinge und die Grausamkeit der SS, davon,
dass Wasser gegen deren Befehl an den Weg gestellt wurde, von Empörung.
Aber die anderen Berichte überwiegen: die vom gaffenden Wegschauen, vom
Nicht-ertragen-Können, man hatte ja selbst Probleme – und auch solche: „Man
hat uns erzählt, das seien Russen und Verbrecher, und wir hatten Angst.“
Die Interviews sind Teil der Erinnerungsarbeit in Grüneberg, die bis heute
fortdauert. In den letzten zwei Kriegsjahren wurde hier eine
Munitionsfabrik mit einem KZ-Außenlager betrieben. Die Einrichtung eines
Gedenkortes ist Teil der Gemeinde-Jugendarbeit im Rahmen des Projekts
„überLAGERt“, in dem Jugendliche in Brandenburg die Geschichte der
KZ-Außenlager in ihren Orten erforschen. „Meistens heißt es zuerst:
Geschichte interessiert mich nicht so“, erzählt Barbara Schlenker, „aber
wenn sie dann eintauchen in die Erlebnisse von Zeitzeugen ergreift es sie
doch.“ Sie befragt die Alten in den Dörfern auch selbst bei jeder
Gelegenheit und versteht das als Teil ihrer Seelsorge. „Denn es wurde ja
jahrzehntelang darüber geschwiegen. Viele reden zum ersten Mal darüber,
wenn ich sie frage.“
In ihrem Fundus findet sich eine Beschreibung von Zivilisten, die zu Tätern
wurden, ein Beispiel von vielen aus den Quellen zum Todesmarsch: Nachdem
die Gefangenenkolonne aus Sachsenhausen durch Teschendorf gezogen war,
„haben sie 15 zusammengesammelt, die sie erschossen hatten. Und einer hat
noch gelebt. Der Förster hat ihn dann totgeschossen.“
In der Ortsmitte von Teschendorf steht ein monumentales Kriegerdenkmal. Die
Straße dahinter führt zum Friedhof. Am rückwärtigen Zaun befindet sich das
Grab der 15 Ermordeten und ein Mahnmal, dessen Geschichte viel über
Erinnerungspolitik erzählt. Die Toten waren zunächst von den Dorfbewohnern
in einem Bombentrichter vergraben und einige Monate später auf Veranlassung
des ersten kommunistischen Bürgermeisters des Ortes auf den Friedhof
umgebettet worden. Hier gab es zu diesem Zeitpunkt schon ein Grab mit
gefallenen deutschen Soldaten.
## Veränderung des Gedenkens
Im Frühjahr 2000 wurden auf Initiative des Volksbundes Deutsche
Kriegsgräberfürsorge die beiden Grabstellen mit einem großen, weithin
sichtbaren Holzkreuz zu einem gemeinsamen Mahnmal verbunden. An dem einen
Ende des Kreuzarms steht der Gedenkstein mit den Namen und Dienstgraden der
Wehrmachtssoldaten, am anderen der Gedenkstein mit der Aufschrift: „Den 15
Opfern des Todesmarsches der Häftlinge des KZ Sachsenhausen.“
Noch weitreichender ist die Veränderung des Gedenkens im sieben Kilometer
entfernten Linde. Am Ende des kleinen Dorfes liegt der Friedhof mit einem
Sammelgrab und dem Gedenkstein „Den Opfern der
Gewaltherrschaft/Todesmarsch“; der Stein wurde in den 90er Jahren gesetzt,
nachdem der alte verfallen war, auf dem gestanden hatte: „Hier ruhen 20
unbekannte Opfer des Faschismus. Ermordet auf dem Marsch des
Konzentrationslagers Sachsenhausen im April 1945.“ Auf dem neuen Stein
verschwinden die KZ-Opfer in der Gedenkformel des wiedervereinigten
Deutschland, mit der die Opfer einer diffusen Gewaltherrschaft geehrt
werden.
In der DDR gedachte man der Todesmärsche im Rahmen einer heroisierenden
Erinnerungspolitik. Die Beteiligung der Bevölkerung an den Verbrechen wurde
verschleiert und verschwiegen. Die Vielfalt der Opfergruppen wurde unter
dem jedes Mahnmal prägenden roten Winkel der kommunistischen Häftlinge
unsichtbar gemacht. Aber die Todesmärsche waren Teil des öffentlichen
Gedenkens, und man findet überall Spuren.
In der alten Bundesrepublik wandten sich erst im Lauf der 80er Jahre die
Geschichtswerkstätten dem Thema durch lokale Laienforschung zu. Nur selten
und zufällig findet man im Süden und im Westen der Republik eine
Gedenktafel oder einen anderen Hinweise auf das letzte
nationalsozialistische Gesellschaftsverbrechen.
18 Apr 2020
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Todesm%C3%A4rsche_von_KZ-H%C3%A4ftlingen
## AUTOREN
Beate Selders
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