Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kriegsende vor 75 Jahren: „Das Leid der Polen ist unbekannt“
> SPD-Politiker Markus Meckel plädiert für ein Polen-Denkmal in Berlin. Es
> soll nicht an NS-Opfer erinnern, sondern an Polens Bande zu Deutschland.
Bild: Warschauer Aufstand 1944: Soldaten der Polnischen Heimatarmee kämpfen ge…
taz: Herr Meckel, die bundesdeutsche Erinnerungskultur wird international
viel gelobt. Gibt es noch Unbearbeitetes darin?
Markus Meckel: Dass unter der „Obhut“ der Wehrmacht mehr als drei Millionen
sowjetische Kriegsgefangene umgekommen sind, ist im deutschen
Geschichtsbewusstsein kaum präsent. Ähnliches gilt für Belarus, wo fast ein
Drittel der Zivilbevölkerung dem NS-Krieg zum Opfer fiel. Das Massaker im
französischen Oradour ist bekannt, dass in 605 Dörfern in Belarus Ähnliches
geschah, nicht. All das darf man nicht gegeneinander ausspielen. Man muss
es in einem weiten Blick integrieren. Die rassistische Ideologie der Nazis
spiegelte sich direkt in der unterschiedlichen Kriegsführung und Besatzung
in Ost und West wider. Das ist zu wenig bekannt.
Eine Initiative fordert ein Denkmal für die polnischen Opfer der deutschen
Besatzung in Berlin. Ist das notwendig?
Natürlich ist es wichtig, an diese Opfer zu erinnern. Doch: Warum nur an
diese? Ich halte es für einen Irrweg, wenn wir nun beginnen, der Opfer des
Weltkrieges nach Nationen getrennt zu gedenken. Auch die Opfer der
Ukrainer, Russen und, wie gesagt, in Belarus zählen Millionen. Irgendwann
stellt sich dann auch die Frage, ob wir nur Denkmale bauen, wenn es um
Millionen von Opfern geht. Wie rechtfertigt man, dass man dieser Nation ein
Denkmal widmet, jener nicht? Was ist mit den Hunderttausenden griechischer
Opfer? Man kann da keine sinnvolle Grenze ziehen, ohne zynisch zu wirken.
Insofern ist der Vorschlag gut gemeint, aber nicht gut.
Dass Polen nicht als Opfer der NS-Lebensraumpolitik zusammen mit Russland
erinnert werden will, ist angesichts des Hitler-Stalin-Paktes
nachvollziehbar, oder?
Es ist grundsätzlich richtig, dass der Hitler-Stalin-Pakt in Deutschland
und Westeuropa zu wenig im Bewusstsein präsent ist, aber auch in Russland
und Belarus. Das Schicksal Polens und der baltischen Staaten, aber auch
Finnlands, bis zum Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 ist kaum im
Blick. Dazu kommt, dass bei diesen östlichen Nachbarn 1945 nicht Freiheit
Einzug hielt, sondern eine neue Diktatur, die kommunistische. Dafür gab es
lange wenig Verständnis. Ich erinnere an die Feiern in Moskau 2005, als
Schröder und Chirac zu Putin fuhren und Chirac die baltischen Staaten rüde
aufforderte, dort nicht den Störenfried zu spielen. Das hat sich nur sehr
langsam geändert. Der 23. August, der Tag des Hitler-Stalin-Paktes, ist ein
europäischer Gedenktag geworden. Aber das Datum ist noch immer
unterbelichtet. Die historische Identität Europas muss diese
ostmitteleuropäischen Erfahrungen einschließen.
Es gab drei Millionen nichtjüdische Opfer in Polen. Das ist hierzulande,
ebenso wie die Auslöschung Warschaus 1944, kaum bewusst. Spricht das nicht
doch für ein Denkmal in der Mitte Berlins, um das ins Bewusstsein zu rufen?
Nein. Ein Denkmal erinnert an etwas, das bekannt ist. Das Leiden der Polen
unter der deutschen Besatzung ist eher unbekannt, ebenso die Leiden der
östlichen Nachbarvölker. Daher ist ein Dokumentationszentrum, das über die
deutsche Besatzung in Europa aufklärt, die bessere Wahl. Das kann den
Vernichtungskrieg im Osten differenziert darstellen und auch den
Unterschied zu der Besatzung in Westeuropa.
Bleibt nicht auch bei einem solchen Zentrum das Problem der konkurrierenden
Opfererzählungen-Perspektive?
Es braucht eine differenzierte Darstellung, denn natürlich gibt es
Unterschiede zwischen Polen, der Ukraine und etwa dem Balkan. Wichtig wäre
die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus diesen Ländern, aber es wäre
ein deutsches Projekt. Es ist illusorisch, heute mit Russland oder Polen
ein gemeinsames Zentrum zu bauen. Ein Vorbild dafür kann das Vorgehen sein,
das der Gründungsdirektor des Museums des Zweiten Weltkrieges in Danzig,
Paweł Machcewicz, wählte: Er schuf ein polnisches Museum in Zusammenarbeit
mit internationalen Wissenschaftlern …
… so international, dass die PiS ihn umgehend als Direktor entließ …
Das zeigt, wie problematisch die Idee wäre, mit der polnischen Regierung
gemeinsam einen Gedenkort zu gestalten. Es geht, wie das Museum Danzig
zeigt, nicht nur darum, Wissen zu vermitteln, sondern auch, verschiedene
nationale Narrative in einen Dialog zu bringen. Ein Dokumentationszentrum
in Berlin, das die Geschichte der deutschen Besatzung zeigt, ist dafür eine
geeignetere Form als ein Denkmal.
Unterschätzen Sie nicht die Kraft symbolischer Formen?
Keineswegs. Ich bin für ein polnisches Denkmal, ja, wir haben sogar schon
eines, nur leider ein schlechtes.
Wo?
Es gibt im Volkspark Friedrichshain in Berlin ein Denkmal von 1972, ein
Relikt aus DDR-Zeiten, das auf verlogene Art die deutsch-polnische
Freundschaft symbolisiert. Aber es hat schon jetzt ein treffendes,
bewahrenswertes Motto: Za naszą i waszą wolność – Für eure und unsere
Freiheit. Man muss es völlig neu gestalten und um eine Freiluftausstellung
ergänzen.
Was genau soll das symbolisieren?
Beim D-Day 1944, der Landung in der Normandie, waren die Polen die
viertgrößte Nation, die Truppen stellte, noch vor den Franzosen. Es gab
polnische Divisionen in der Roten Armee, die das KZ Sachsenhausen befreit
haben, und die polnische Heimatarmee, die den Warschauer Aufstand 1944
machte. Polen haben bei der Schlacht von Montecassino in Italien mit den
Briten gegen die Wehrmacht gekämpft. Auch Polen hat Hitler niedergerungen
und am 8. Mai Deutschland befreit. Nur Stalin hat verhindert, dass Polen
als Siegermacht galt, so wie es die westlichen Alliierten Frankreich
zugestanden haben. Dieses polnische Selbstbewusstsein wird permanent
verletzt, weil Deutschland diese Rolle schlicht nicht wahrnimmt. Polen
hatte in den letzten zwei Jahrhunderten einen wichtigen Anteil an unserem
Kampf für Freiheit und Demokratie. Das reicht vom Hambacher Fest 1832 bis
zu Solidarność nach 1980 und 1989/90. Die deutsche und polnische Geschichte
sind auf eine einzigartige Weise miteinander verbunden. Diesen Anteil
Polens an der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte sollte man mit
diesem Denkmal würdigen.
6 May 2020
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Schwerpunkt Tag der Befreiung
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Polen
Warschauer Aufstand
Annalena Baerbock
Belarus
NS-Gedenken
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Kriegsende
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Schwerpunkt Nationalsozialismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Buch über Warschauer Aufstand: Der vergessene Widerstand
Am 1. August 1944 begann der Warschauer Aufstand. Stephan Lehnstaedt hat
nun die erste deutschsprachige Monografie seit 1962 veröffentlicht.
Polens Reparationsforderung: Mehr als eine juristische Frage
Außenministerin Baerbock lehnt Polens Forderung nach Entschädigung für
Weltkriegsschäden ab – juristisch korrekt. Moralisch wäre ein anderer Weg
besser.
Lech Wałęsa zu Protesten in Belarus: „Die Opposition hat keine Struktur“
Der Anführer der polnischen Friedens- und Gewerkschaftsbewegung Solidarność
von 1980 über Populismus, Putin und Protest.
Kompromissvorschlag im Denkmalstreit: Erinnerung ist Pflicht
Das von den Nazis verursachte Leid in Ostmitteleuropa ist bisher kaum
thematisiert worden. Ein Kompromiss im Denkmalstreit könnte das ändern.
Denkmal zum Überfall auf Polen: Ein einfacher Plan
Ein Polendenkmal oder das Dokuzentrum zu NS-Besatzung? Bei dem Streit, wie
Deutschland an die zivilen Opfer erinnern soll, bahnt sich eine Lösung an.
Gespräch über Kriegsende vor 75 Jahren: „Die erste Teilung passierte 1945“
Der 8. Mai 1945 und das Erinnern: Ein Gespräch mit der ostdeutschen
Historikerin Silke Satjukow und dem westdeutschen Historiker Ulrich
Herbert.
Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes: Ein Feiertag zum Gedenken
Corona macht ein Kulturprogramm sowie Gedenkveranstaltungen unmöglich. Als
Ersatz finden diese nun virtuell statt. Petition für dauerhaften Feiertag.
Gedenken an Todesmärsche vor 75 Jahren: Auf dem Todesmarsch erschossen
Kurz vor Kriegsende trieb die SS Häftlinge aus Konzentrationslagern durch
Brandenburg. Diese Todesmärsche haben Spuren hinterlassen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.