# taz.de -- Gespräch über Kriegsende vor 75 Jahren: „Die erste Teilung pass… | |
> Der 8. Mai 1945 und das Erinnern: Ein Gespräch mit der ostdeutschen | |
> Historikerin Silke Satjukow und dem westdeutschen Historiker Ulrich | |
> Herbert. | |
Bild: Panorama-Installation zum Anlass des 60. Jahrestags des Kriegsendes am Br… | |
taz am wochenende: Frau Satjukow, Herr Herbert, eine persönliche Frage zu | |
Beginn: Wie wurde in Ihren Familien über den 8. Mai 1945 gesprochen? | |
Silke Satjukow: In Thüringen, wo ich groß geworden bin, marschierten die | |
Amerikaner schon im April ein, im Juli folgte die Rote Armee. Wenn wir den | |
8. Mai als Chiffre für die letzten Kriegstage verstehen, wurde bei uns oft | |
darüber gesprochen, dass meine Tante Angela von einem Russen vergewaltigt | |
wurde. Die Erzählung in meiner Familie war also nicht die von einer | |
Befreiung, sondern die von einer Gewalttat. | |
Ulrich Herbert: Bei uns war der 26. Januar das entscheidende Datum. Die | |
Stadt Elbing in Ostpreußen, wo meine Großeltern und meine Mutter lebten, | |
wurde an diesem Tag eingenommen. Als die Rote Armee schon in Sichtweite | |
war, entschieden meine Großeltern, sich nach Westen aufzumachen. Meine | |
Mutter erlebte den 8. Mai dann in Bayern. Sie erzählte mir von dem ersten | |
amerikanischen Jeep, den sie sah. Der Fahrer war ein Schwarzer, der | |
Offizier ein Weißer. Der hatte das Hemd offen und die Füße auf den Kühler | |
gelegt. Der Kommentar meiner Mutter: „Und trotzdem gewonnen.“ | |
Das Kriegsende erleben die Menschen unterschiedlich, je nach Region. Kann | |
man sagen, dass da schon die Zweiteilung Deutschlands einsetzt? | |
Satjukow: Die Erwartungen der Deutschen an die Alliierten waren sehr | |
unterschiedlich. Die nationalsozialistische Propaganda hatte den Menschen | |
eingetrichtert, vor allem die Russen seien Bestien. Und tatsächlich | |
plünderte, vergewaltigte und mordete die Rote Armee in diesen letzten | |
Kriegstagen. Aber auch die Franzosen hatten den Ruf, gewalttätig zu sein, | |
was sich in Süddeutschland teils bestätigte. Anders sprach man dagegen über | |
die Amerikaner und die Briten. Differierende Erwartungen führten dann auch | |
zu unterschiedlichen Erfahrungen. Insofern kann man von einer ersten | |
Teilung sprechen. | |
Herbert: Die Russen haben nicht nur das getan, was die deutsche Propaganda | |
vorhergesagt hat, sondern, was die Deutschen auch erwartet hatten, weil sie | |
wussten oder zumindest ahnten, was deutsche Einheiten in Russland | |
angerichtet hatten. Insofern hat die Propaganda nur eine Befürchtung | |
verstärkt, die es aufgrund eigener Informationen gab. | |
Als Tag der Befreiung haben den 8. Mai damals die wenigsten gesehen … | |
Satjukow: Das kommt darauf an. Für die Häftlinge in den | |
Konzentrationslagern war es natürlich Befreiung, ebenso für versteckte | |
Juden und andere gefährdete Personen. Aber die Mehrheit der Deutschen | |
empfand den Einmarsch nicht als Befreiung. | |
Herbert: Für die genannten Opfergruppen stimmt das, aber schon bei | |
sowjetischen Zwangsarbeitern ist das nicht mehr so eindeutig. Sie hofften, | |
befreit zu werden, wussten aber auch, dass bei Stalin als Kollaborateur | |
galt, wer sich gefangen nehmen ließ – und das wurde hart bestraft. Die | |
meisten Deutschen dachten aber nicht in den Kategorien von „befreit“ oder | |
„besetzt“. | |
Sondern? | |
Herbert: Für sie war entscheidend: Überlebe ich den Krieg oder nicht? Auch | |
den meisten Soldaten war zum Schluss völlig egal, wie der zu Ende gehen | |
würde. Die glaubten an gar nichts mehr. Insofern ist „Befreiung“ eine | |
nachträgliche Kategorisierung. Damals lebten 78 Millionen Menschen auf dem | |
Reichsgebiet, 40 Millionen von ihnen nicht an dem Ort, an dem sie | |
eigentlich lebten – Displaced Persons, Zwangsarbeiter, Vertriebene, die | |
Ausgebombten, die aufs Land geflohen waren. Chaos, Durcheinander und die | |
Offenheit der Situation bestimmten das Bild. | |
Allen Teilen Deutschlands gemeinsam ist, dass dort schnell keiner mehr Nazi | |
gewesen sein will. Die Versuche der Entnazifizierung sind dann | |
unterschiedlich. | |
Herbert: Am Anfang gar nicht so. Die amerikanischen Behörden haben zunächst | |
in einem Ausmaß zugegriffen, das man heute gern unterschätzt. Da wurden | |
über eine Million NS-Belasteter in den Internierungslagern inhaftiert, und | |
das war kein Spaß. Und die Aussortierung der Nazis aus den Verwaltungen war | |
ziemlich durchgreifend. | |
Das amerikanische Interesse an der Entnazifizierung lässt mit Blick auf den | |
Kalten Krieg aber bald nach. | |
Satjukow: Das könnte man für die sowjetische Besatzungszone auch so sagen. | |
Die Rotarmisten waren zunächst sehr engagiert, aber nicht so organisiert | |
wie die Amerikaner und Briten mit ihren Entnazifizierungsplänen. Die | |
Sowjets hatten wegen des verbrecherischen Überfalls auf ihr Land kaum Zeit | |
gehabt, diesen Organisationsgrad zu erreichen, und ihre Lager waren in | |
schrecklichem Zustand. Die Menschen dort verhungerten, übrigens wie die | |
Sowjetrussen zu Hause auch. Die Besatzer beginnen ab 1946 mit der | |
Bestrafung neuer Feinde – Gegner des antifaschistischen Regimes. | |
Herbert: Im Westen lässt der Druck der Amerikaner seit 1947 nach, im Zuge | |
des aufkommenden Kalten Kriegs. Aber auch aus Mitleid – es gibt viele | |
Zeugnisse, dass Amerikaner und Briten die Situation der Deutschen | |
bemitleidenswert fanden. Seit Ende 1947 bemühen sich die USA, | |
Westdeutschland zu stabilisieren, und wollen angesichts der Stärke der | |
Roten Armee einen Wehrbeitrag der Deutschen. Das führt dazu, dass die | |
Deutschen im Westen völlig unverdient plötzlich in einer relativ starken | |
Position sind. | |
Der Druck, es mit der Aufarbeitung sein zu lassen, kommt aber auch aus der | |
westdeutschen Gesellschaft. | |
Herbert: Ja, nicht zuletzt von den Kirchen. Die Bischöfe sagen, die | |
Entnazifizierung sei ein ebenso großes Unrecht wie die Konzentrationslager. | |
Das Ganze sei jetzt doch schon so lange her. Das war drei Jahre nach dem | |
Krieg! | |
Satjukow: Im Osten wird die neue kommunistische Führungsriege aus der | |
Sowjetunion mitgebracht, die haben sich jahrelang im Exil auf die | |
Machtübernahme vorbereitet. Jetzt übernehmen sie, natürlich unter der Ägide | |
der Besatzer. Moskau tut, was es will, Ostberlin tut, was es will, und die | |
Kommandanten in der Militäradministration tun, was sie wollen. Doch nicht | |
alles geschieht unter Zwang. Vor allem den jungen Menschen unterbreiten sie | |
ein verführerisches Angebot. Sie sagen: „Ihr habt Schuld auf euch geladen, | |
aber wenn ihr euch am Aufbau des Antifaschismus beteiligt, lassen wir euch | |
davonkommen. Dann werdet ihr für eure Beteiligung am Krieg nicht belangt.“ | |
Wir haben also eine Bevölkerungsgruppe, die weiterhin Funktionselite sein | |
darf, natürlich um den Preis des Gehorsams. | |
Der Faschismus wird zu einem Problem des Kapitalismus, also des Westens, | |
erklärt. | |
Satjukow: Gleich zu Beginn wird ein Mythos der „Befreiung“ etabliert – | |
anders als im Westen. Die Sowjets sagen: Wir befreien euch doppelt, vom | |
Faschismus und vom Kapitalismus. Und sie versprechen Jobs und Belohnungen. | |
Natürlich brauchen sie auch willfährige Deutsche. Denn viele Menschen sind | |
in den Westen geflüchtet. Es gibt also Positionen und Wohnraum zu | |
verteilen. Aber es gibt noch eine zweite Seite: In den Ritualen des Mythos | |
werden die Ostdeutschen weiterhin Jahr für Jahr an die eigene Kriegsschuld | |
erinnert. Jahrzehnte später bekennen sie tatsächlich ihre Verantwortung. | |
Auf eine Anfang der 1990er Jahre gestellte Frage: „Wer sind die Sieger des | |
Zweiten Weltkriegs?“, antworten 67 Prozent der Westdeutschen: die USA; 87 | |
Prozent der Ostdeutschen: die Sowjetunion. | |
Herbert: Die Opfer der Sowjetunion werden im Westen bis heute eigentlich | |
nur begrenzt wahrgenommen. Dieser Kriegsende-Diskurs ist insgesamt sehr | |
deutsch geprägt. In Deutschland weiß man sehr wenig darüber, was in den | |
Niederlanden geschah, in Italien, von Polen und der Sowjetunion ganz zu | |
schweigen. Das ist eine deutsche Nabelschau, wenn das Kriegsende nicht als | |
europäisches Phänomen wahrgenommen wird. Selbst von linker Seite wird es in | |
Deutschland oft als nationales Ereignis gesehen. | |
Satjukow: In Ostdeutschland findet man nicht so eindeutig einen rein | |
nationalen Erinnerungsdiskurs, vielmehr war es eine Gemengelage aus | |
deutschen und sowjetischen Erzählungen. Im Privaten sprach man sehr offen | |
etwa über Gewalttaten. Gleichzeitig wurden Generationen von Kindern mit der | |
offiziellen Erzählung von der Befreiung vom „Hitlerfaschismus“ durch die | |
„Freunde“ groß: In Filmen, Romanen, Kinderzeitschriften und | |
Jugendpioniermanövern erfuhren sie von den sowjetischen Opfern. Sie | |
verstanden, dass die Sowjetunion viele Millionen Menschen verloren hatte – | |
durch die Schuld der Deutschen. | |
Herbert: Da gibt es ein interessantes Paradox zwischen Ost und West. In der | |
Bundesrepublik gibt es zunächst eine enorm hohe Kontinuität von NS-Tätern, | |
die wieder Karriere machen. Und eine starke Verdrängung der Nazizeit im | |
Volk. Aber beides, Täterkontinuität und Verdrängung, war ein solcher | |
Skandal, dass es tief greifende Reaktionen hervorrief, die bis heute | |
nachwirken. Die NS-Aufarbeitung kommt seit den 1960er Jahren von unten, sie | |
wird nicht von oben verordnet. In den 1970er Jahren wird dann auch | |
zunehmend die private NS-Belastung thematisiert, während es ein | |
entlastendes Gesamtnarrativ nicht mehr gibt. In der DDR ist es andersrum. | |
Es gibt das offizielle antifaschistische Staatsverständnis, das die | |
individuelle Biografie aber nicht einbezieht. Das führte zu einer | |
antifaschistischen Grundhaltung, die mit einem selber gar nichts zu tun | |
hat. | |
Satjukow: Die Ostdeutschen lebten mit ihren Familienerzählungen über die | |
Russen ebenso wie mit dem offiziellen antifaschistischen Mythos. Sie alle | |
mussten sich mit diesen Schlüsselerfahrungen auseinandersetzen – wie sie | |
sich diese aber aneigneten, war höchst unterschiedlich. Viele blieben bei | |
ihrer Ablehnung gegenüber den Besatzern, andere richteten sich ein, lernten | |
auch die gute Seiten der Russen kennen. Wieder andere verschrieben sich | |
begeistert der Sache des Sowjetkommunismus. | |
Wie sieht das konkret aus? | |
Satjukow: Einer meiner Kollegen war im Kriegsgefangenenlager in Sibirien | |
inhaftiert. Er kehrte Ende der 1940er Jahre zurück, im Herzen war er nun | |
Kommunist. Er hat keine Kritik an seinen einstigen Peinigern mehr | |
zugelassen, er war quasi wiedererweckt worden für die Sache des | |
Antifaschismus. Auf der anderen Seite lebt da ein Buchhändler in meiner | |
Heimatstadt Weimar, dem die Russen nicht nur den Vater genommen, sondern | |
auch seinen Laden enteignet hatten. Niemals bekamen die Russen da nur die | |
geringste Chance auf Akzeptanz. | |
Die unterschiedlichen Phasen der Aufarbeitung in der BRD kann man gut | |
unterscheiden. Wie ist das im Osten, Frau Satjukow? | |
Satjukow: In den 1950ern setzt man auf mythische Verklärung. Es entstehen | |
Monumentalfilme mit Stalin in der Hauptrolle. Siegerfilme, die das | |
ostdeutsche Publikum so kurz nach dem Krieg ablehnte. Für die Botschaft | |
„Die Russen sind die Sieger“ waren sie noch nicht bereit. Das änderte sich | |
mit der Tauwetterperiode ab Ende der 1950er Jahre. Es kamen nun Bücher und | |
Filme auf den Markt, die den sowjetischen Normalbürger als gezeichnetes | |
Kriegsopfer darstellten. Über ein Jahrzehnt nach dem Krieg zeigten sich die | |
Ostdeutschen bereit, Mitgefühl für ihre einstigen Feinde zu verspüren. Es | |
waren ja – wie sie selbst – Betrogene, wehrlos, hilflos. Die wirkliche | |
Wende aber kam mit Michail Gorbatschow Mitte der 1980er Jahre. Nun kommen | |
Programme ins Kino und Bücher in die Läden, die den Zweiten Weltkrieg | |
brutal und realistisch zeigen. Die Führung in Ostdeutschland reagierte | |
entsetzt: Solche Erzählungen widersprachen der eigenen, jahrzehntelang | |
oktroyierten Propaganda vom Krieg. Diese Filme und Bücher blieben in der | |
DDR fast alle unter Verschluss – bis zur friedlichen Revolution 1989. | |
Wie entwickelt sich das Erinnern seit 1990? | |
Herbert: Da dominierte bei vielen Konservativen die Haltung: „Jetzt ist es | |
mal gut mit der NS-Zeit. Wir haben ja jetzt die Berliner Republik und | |
fangen ganz neu an.“ Die irrten sich gründlich. Das Jahrzehnt der | |
intensivsten Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sind die 1990er Jahre. Da | |
kommt die Debatte über die Zwangsarbeiterentschädigung, die | |
Wehrmachtsausstellung, das Holocaustdenkmal, Martin Walsers Rede in der | |
Paulskirche – es hört gar nicht auf. Und das Narrativ, dass es jetzt auch | |
um ost- und westdeutsche Unterschiede gehe, spielt bei alldem eigentlich | |
keine Rolle. Mit der Wiedervereinigung war die NS-Debatte gerade nicht zu | |
Ende. | |
Satjukow: 1989 brach das ostdeutsche Narrativ von der „Befreiung“ durch die | |
Rote Armee weitgehend zusammen – wie so viele andere Erzählungen des | |
Sozialismus. Die Ostdeutschen schickten nicht nur ihre eigene Regierung und | |
die Stasi, sondern auch die Russen als Sündenböcke in die Wüste. Die Russen | |
galten in den frühen 90ern als mitschuldig am ostdeutschen Elend. Nach | |
wenigen Jahren aber passierte etwas Unerwartetes: Die vor allem durch die | |
Medien kommunizierte Entwertung ostdeutscher Lebenswege führte dazu, dass | |
vor allem die älteren Generationen überlegten: Wie kriegen wir unser Leben | |
wieder so erzählt, dass es von Wert ist? Sie erinnerten sich, dass sie ein | |
besonderes Wissen über die Sowjetunion, über die Russen besaßen. Sie | |
sprachen Russisch, kannten Kultur und Alltag. Das hatten sie den | |
Westdeutschen voraus. Bis heute zeigen sie ihre vermeintliche besondere | |
Nähe etwa auf T-Shirts und Postkarten: „Wer das nicht lesen kann, ist ein | |
dummer Wessi“ steht dort in kyrillischer Schrift. | |
Man ist stolz auf die Vergangenheit mit den Russen? | |
Satjukow: Damit sagt man: Die Russen, „Timur und sein Trupp“, und diese | |
ganzen Romane, die ihr Westdeutschen nicht kennt, gehören zu uns! Ende der | |
90er Jahre werden die einstigen Besatzer nachträglich zu Freunden erklärt. | |
Sie geraten zu einem Teil der eigenen Biografie – in Abgrenzung von den | |
Westdeutschen. Und das beeinflusst bis heute auch die ostdeutsche Bewertung | |
von Putins Politik, etwa der Krim-Okkupation. Nicht selten fallen die | |
Urteile anders aus als im Westen. | |
Wenn wir auf die Debatten seit den nuller Jahren schauen, gibt es die um | |
den Luftkrieg, dann das Tagebuch der Anonyma, das von den russischen | |
Vergewaltigungen erzählt. Das Leid der Deutschen rückt stärker in den | |
Fokus. | |
Herbert: Ich würde sagen, es war höchste Zeit. In der Bundesrepublik hatte | |
es bis in die 60er Jahre zunächst ein Primat der deutschen Opfer gegeben, | |
insbesondere der Vertriebenen. Die Zahl der Bücher über sie war etwa in der | |
Universitätsbibliothek Freiburg damals fast dreißigmal so hoch wie die der | |
Bücher über Juden. Dann hat sich das seit den 60er Jahren geändert, und | |
zwar so, dass es schon als verdächtig galt, an das Leid der Bombenopfer und | |
vergewaltigen Frauen zu erinnern. Deshalb war es ein wichtiger Schritt, zu | |
erkennen, dass man die NS-Verbrechen nur angemessen aufarbeitet, wenn man | |
die an den Deutschen begangenen Verbrechen nicht verschweigt. Erst dann | |
werden die Erinnerungen der Menschen nicht zensiert, nur dann entsteht | |
Lernbereitschaft – und es werden die Größenordnungen sichtbar. | |
Stimmt das Bild heute denn? | |
Herbert: Wir sind immer noch nicht am Ende. Wir haben bis heute noch kein | |
angemessenes Narrativ, wie wir unserer Großväter, Väter, Onkel, die als | |
deutsche Soldaten gekämpft haben und zu Millionen gestorben sind, | |
angemessen gedenken. Ist ja auch schwierig in diesem Land. | |
Satjukow: Was mich in Bezug auf unsere Erinnerung umtreibt, ist: Wie werden | |
wir unser Gedenken an die Großväter und Großmütter in eine europäische und | |
digitalisierte Gesellschaft einbetten? Ein Beispiel: Der Dreiteiler „Unsere | |
Mütter, unsere Väter“ ist in mehr als sechzig Länder verkauft worden. | |
Solche Filme müssen sich einem globalen Unterhaltungswettbewerb stellen. | |
Aber was bedeutet das für ein nationales und europäisches Gedächtnis? | |
Herbert: Ein gutes Beispiel. Die ja doch sehr problematischen Seiten dieses | |
Films sind öffentlich kritisiert worden. Und die Diskussion hat das Bild | |
wieder zurechtgerückt. So nett, naiv und unschuldig waren unsere Mütter und | |
Väter eben nicht. | |
Satjukow: Wir haben die Erstausstrahlung mit einem Forschungsprojekt | |
begleitet. Uns interessierte vor allem die Aneignung durch verschiedene | |
Generationen. Wir fanden heraus, dass die auf europäischer Ebene geführten | |
Expertendiskurse mit den Verständigungen meist junger Leute in den | |
digitalen Plattformen kaum etwas gemein hatten. Es existierten praktisch | |
voneinander abgekoppelte Geschichtserzählungen. Diese digitalen Räume | |
sollten wir Experten besser kennenlernen. | |
Macht Ihnen das Sorgen? | |
Satjukow: Die Aushandlung dessen, was als authentische Geschichte zu gelten | |
hat, erreicht im Internet eine neue Schwelle. Denn der Prozess der | |
Meinungsbildung in den Communitys qualifiziert Narrative und Bilder als | |
historische Tatsachen, die keineswegs dem Stand der historiografischen | |
Erkenntnis entsprechen – auch für die politische Meinungsbildung | |
möglicherweise eine problematische Entwicklung: Rechte Meinungsmacher oder | |
Revanchisten, Extremisten und Fundamentalisten jedweder Couleur sind dabei, | |
diese Kommunikationsprozesse an sich zu reißen. Das bereitet mir Sorgen. | |
Herbert: Mir nicht. Echokammern hat es immer gegeben. Die Romanserie mit | |
den höchsten Auflagen in den 60er und 70er Jahren in der BRD hieß | |
„Landser“. Da gab es jede Woche ein Heft. Solche Echokammern haben ihre | |
eigene Dynamik und sind von uns Historikern auf direkte Weise nicht | |
beeinflussbar. Was wir beeinflussen können, ist die rationale Herausbildung | |
kultureller Hegemonien. Nehmen wir die Wehrmachtsausstellung, die einer | |
breiten Öffentlichkeit die Verbrechen der Wehrmacht gezeigt hat. Die hat in | |
den öffentlichen Debatten etwas verändert und lieb gewordene Mythen wie den | |
von der „sauberen Wehrmacht“ zertrümmert. | |
Satjukow: Es ist ein Unterschied, wenn mein Schwiegervater früher am | |
Stammtisch gesagt hat: „War nicht alles schlecht unter Hitler.“ Am nächsten | |
Tag wusste niemand mehr, was da geredet wurde. Das unterscheidet den | |
Stammtisch von einem millionenfach angeklickten Echoraum. Das ist anders – | |
und wir verstehen diese Art der Geschichtsaneignung bisher noch kaum. | |
Herbert: Einverstanden. Aber es hat immer eine autonome Aneignung der | |
Vergangenheit durch die jüngere Generation gegeben – und zwar eine, die den | |
Älteren meist nicht passte. Wir können da nicht anders als mit Aufklärung | |
reagieren: klare, belegbare Informationen und Argumente liefern. Und das | |
funktioniert ja auch. Der direkte Zugriff auf die Aneignungssysteme der | |
Jungen muss aber scheitern. | |
Was machen wir jetzt mit diesem Tag, dem 8. Mai? | |
Herbert: Das, was wir gerade tun. Wir reden darüber, wir schauen uns Filme | |
an, wir diskutieren. Wir fragen uns: Ist das angemessen? Wobei mir scheint, | |
dass in öffentlichen Diskussionen oft der Grundsatz gilt: viel Meinung, | |
keine Ahnung. Es ist schon sinnvoll, wenn man auch weiß, was im letzten | |
Kriegsjahr geschehen ist, wenn man über den 8. Mai spricht. | |
Satjukow: Wir machen das, was einer Demokratie gut zu Gesicht steht: Wir | |
nutzen diesen Tag, um uns als Gesellschaft zu vergewissern, wie wir heute | |
und künftig leben wollen. Dazu gehören zwangsläufig unterschiedliche | |
Perspektiven – immer aber das Reden und die Verständigung. | |
5 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Jan Pfaff | |
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