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# taz.de -- Kriegsende vor 75 Jahren: Stalin bleibt unfehlbar
> Der „Tag des Sieges über den Faschismus“ ist in Russland mehr als
> Gedenken. Präsident Putin legitimiert damit seine Macht – und deutet
> Geschichte um.
Bild: 9. Mai 1945: Rotarmisten versammeln sich zu einer Siegeskundgebung vor de…
Moskau taz | Nur wer aus dem Fenster schaut, hat die Chance, etwas
mitzuerleben. Dutzende Städte planen Flugschauen und wollen nicht auf das
Feuerwerk verzichten, das zu jeder Siegesfeier dazugehört. Das 75. Jubiläum
des sowjetischen Sieges über den Hitlerfaschismus am 9. Mai sollte in
Moskau ganz groß begangen werden. Dieser Feiertag ist so etwas wie ein
zweiter Gründungsmythos – nach der Taufe der Rus vor über 1.000 Jahren –,
hinter dem sich Jung und Alt ungeachtet politischer Couleur versammeln. Die
zentrale Heerschau auf dem Roten Platz wäre der Startschuss gewesen: 15.000
Soldaten sollten an der Kremlmauer vorbeidefilieren, begleitet von
Flugzeugen, Schützenpanzern und neuesten Errungenschaften der
Rüstungstechnik.
Mitte April kam das Aus. Der Oberkommandierende der Streitkräfte, Wladimir
Putin, verschob die Parade. Zu Jahresbeginn hatte er das „Jahr der
Erinnerung und des Ruhmes“ ausgerufen. Die Pandemie durchkreuzte dieses
Vorhaben und Wladimir Putin entließ die Nachfahren des „Siegervolkes“ bis
zum 11. Mai in die Coronaferien. Angeblich hatten ihn Veteranen aus
gesundheitlichen Gründen um einen Aufschub der Parade gebeten. Es muss für
Putin eine der quälendsten Entscheidungen gewesen sein. Noch nie war eine
Siegesfeier seit 1945 ausgefallen oder verlegt worden. Für den Präsidenten
bedeutet dieser Tag mehr als das Gedenken an einen Vernichtungskrieg. Mit
dem Sieg über den Faschismus legitimiert das System Putin seine Macht. Der
Kremlchef und seine Entourage präsentieren sich als rechtmäßige Nachfolger
der sowjetischen Feldherren.
„Auch dem Ausland sollte die Feier signalisieren, dass Russland den
Supermachtstatus der Sowjetunion geerbt hat“, sagt Militärexperte Alexander
Golz. Ohnehin ist im Russland Wladimir Putins die Überzeugung weit
verbreitet, es hätte die Last des Krieges fast allein getragen. Auch die
„unsterbliche Brigade“ findet am 9. Mai nur online statt. Jeder kann an
diesem Gedenken mit Bildern gefallener Verwandter teilnehmen, deren
Porträts dann die Brigadisten auf Transparenten vor sich hertragen.
Diese Bewegung kam aus dem Volk, erreichte Millionen Mitwirkende und wurde
so populär, dass sie vom Kreml eingemeindet wurde. Unter Putins Führung
entwickelte sich der „Große Vaterländische Krieg“, wie Russland den Zweit…
Weltkrieg nennt, zur zentralen Ideologie, und so ist nach 75 Jahren der
„Große Vaterländische“ propagandistisch immer noch so präsent, als wäre…
erst gestern zu Ende gegangen.
## Westliche Siegermächte fallen nicht ins Gewicht
Um ihn herum baut das Regime die Begründung der eigenen Existenz. Russland
sei einziger nennenswerter Sieger gewesen, behauptet dieser Mythos. Die
westlichen Siegermächte fallen aus Sicht des Kreml nicht ins Gewicht.
Kritik an Moskau bedroht den Mythos, Kollaboration mit dem Faschismus
versucht Putin zu vertuschen, daher auch sein Vorstoß, Polen Mitschuld am
Ausbruch des Krieges zuzuschreiben.
Seit Jahren versucht Wladimir Putin, das Bild vom Ausbruch des Zweiten
Weltkriegs zu korrigieren. Die Datierung der Sowjetunion setzt nicht am 1.
September 1939 ein, sondern erst mit dem Überfall Deutschlands auf die
UdSSR am 22. Juni 1941. Um die Vorgeschichte geht es und um die Abmachungen
zwischen Berlin und Moskau im Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, in
dessen geheimem Zusatzprotokoll die Aufteilung Europas vorgesehen war.
2009 noch verurteilte Wladimir Putin diesen Pakt in der polnischen Zeitung
Gazeta Wyborcza. Bereits Jahre vorher hatte der Kongress der
Volksdeputierten unter Michail Gorbatschow 1989 das Abkommen verurteilt
und das Geheimprotokoll für ungültig erklärt. In der Endphase der
Sowjetunion, in der sich das Land zum Westen öffnete, war es das
öffentliche Eingeständnis eines Fehlers.
## Der Geschichtsrevisionismus des Präsidenten
Rückwirkend passt diese Sicht aber nicht mehr in die offizielle
Geschichtsschreibung, da es aus Russland einen Mittäter machte. Daher der
Geschichtsrevisionismus des Präsidenten. Stalin und sein Sieg dürfen nicht
angetastet werden. Bröckelt das Bild des Befreiers, könnte auch der Kreml
in Mitleidenschaft gezogen werden, so das Kalkül.
Und so verschärft der Präsident den Ton gegenüber Polen, dem er eine
Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zuschob. Als Anlass diente ein
regionaler Konflikt 1938 zwischen Polen und der Tschechoslowakei um die
Region Teschen. Warschau verleibte sich das Gebiet ein, Berlin unterstützte
Polen damals. Und Moskau fabriziert daraus eine deutsch-polnische Allianz,
die für die Sowjetunion hätte bedrohlich werden können. Dass es sich dabei
um einen Regionalkonflikt handelte, unterschlägt Moskau. Was waren im
Vergleich dazu die gemeinsamen deutsch-sowjetischen Verbrechen, denen die
Existenz des polnischen Staates zum Opfer fiel?
Erst im Dezember 2019 hatte der Kremlchef acht Präsidenten der GUS-Staaten
geladen, die sich die revidierte Version der Vorkriegsgeschichte anhören
sollten. Putin saß als Referent über Archivmappen und trug vor, die Chefs
der sowjetischen Nachfolgestaaten wirkten ein wenig verloren. Moskaus
Kalkül: Die „Ehemaligen“ sollten als Mediatoren die Kreml-Version
verbreiten.
## „Verstrickung leugnen, Fakten kleinreden“
„Diese Lesart läuft darauf hinaus, jede Verstrickung der Sowjetunion zu
leugnen oder unwiderlegbare Fakten zumindest kleinzureden“, sagt Andrei
Kolesnikow vom Carnegie Zentrum Moskau. Grundsätzlich gelte wieder, eigene
Schuld nicht einzugestehen. Überhaupt ist Polen Moskau seit Langem wegen
seiner proamerikanischen Haltung ein Dorn im Auge. Zum 80. Jahrestag des
Kriegsausbruchs im vergangenen Jahr war Russlands Präsident nicht nach
Polen eingeladen worden. Auch bei der Gedenkfeier zur Befreiung des KZ
Auschwitz im Januar 2020 fehlte er.
Bereits die Verabschiedung einer Resolution des Europaparlaments im
vergangen September verstimmte Moskau. Das Papier „Über die Bedeutung der
europäischen Erinnerung für die Zukunft Europas“ bezichtigt Russland offen
der Mittäterschaft am Kriegsausbruch – fast auf einer Stufe mit den Nazis.
Die Resolution des Europaparlaments legt gar den Abriss sowjetischer
Kriegsdenkmäler nahe. Derzeit ist ein Streit mit Tschechien um das Denkmal
für Marschall Konew entbrannt, der 1945 Prag von den Deutschen befreite.
Allerdings nahm er 1956 auch an der Niederschlagung des ungarischen
Volksaufstands teil und ging 1968 mit Truppen gegen den Prager Frühling
vor. Auch am Berliner Mauerbau war der General beteiligt. Sein
Bronzedenkmal wurde im April demontiert.
Dass jüngere Generationen Moskaus antifaschistisches Pathos mit den Fakten
abgleichen, verstört den Kreml. Und so kehren immer mehr historische
Versatzstücke aus der Stalin-Zeit zurück: 1940 wurden im Wald von Katyn
nordwestlich von Smolensk 4.400 polnische Offiziere vom sowjetischen
Geheimdienst NKWD erschossen. Insgesamt mehr als 20.000 Polen wurden
hingerichtet. Neuerdings schreibt Russland diese Verbrechen wieder den
Nazis zu. Der Vorsatz des Kreml lautet: Leugnen, dem Vergessen anheimgeben
und im Anschluss propagandistisch mit neuer Aussage aufladen.
## Die Verharmlosung des Hitler-Stalin-Pakts
Diese Umdeutung widerfährt auch dem Münchner Abkommen von 1938, das die
Abtretung des Sudetenlandes an Berlin festschrieb. Moskau stellt es
inzwischen auf eine Stufe mit dem Hitler-Stalin-Pakt und übersieht dabei,
dass Prags Garantiemächte Großbritannien und Frankreich aus dem Abkommen
keine eigenen territorialen Ansprüche ableiteten. Moskau hingegen
verstrickte sich 1939 in einen Krieg mit Finnland, besetzte das Baltikum
und Teile Polens und annektierte 1940 Bessarabien, das seit 1918 zu
Rumänien gehörte.
Wladimir Putin wirft Franzosen und Engländern Zynismus vor, weil sie den
Tschechen nicht zur Hilfe eilten. Berechtigte Vorwürfe, allerdings war auch
die UdSSR unter Stalin zu Beistand verpflichtet. Dazu kein Wort, der
Generalissimus bleibt unfehlbar. Stattdessen unterstellt der Kremlchef den
Polen einen Rollentausch: vom Brandstifter bei Kriegsausbruch zum
Brandopfer.
Fazit: Wer Stalin kritisiert, zieht auch den Sieg in Zweifel. Wladimir
Putin klammert sich an die Fiktion, mithilfe der Geschichte ließe sich das
Imperium wiedererrichten – und vor allem die eigene Macht zementieren.
7 May 2020
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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