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# taz.de -- Kriegsende vor 75 Jahren: Holocaust auf Instagram
> Wie erinnern wir uns der Holocaust-Opfer, wenn sie einmal nicht mehr
> sind? Historiker:innen experimentieren mit Games und digitalen
> Zeitzeugen.
Bild: Die Zeitzeugen sterben: Befreite Deportierte in einem Pariser Hotel
Berlin taz | Für einen Moment blicken [1][Sally Perel]s Augen suchend
umher. Dann hat er sich orientiert. „Ich begrüße alle und freue mich,
teilnehmen zu dürfen“, sagt der 94-Jährige in die Kamera. Und dann beginnt
er zu erzählen. Davon, wie seine Eltern ihn fortschickten, um ihn vor dem
Ghetto in Łódź zu bewahren – und wie sein Vater ihm damals auftrug:
„Vergiss niemals, dass du Jude bist“, während seine Mutter ihm sagte: „Du
sollst leben.“ Kurz darauf wurden diese zwei Dinge unvereinbar: Perel
überlebte den Holocaust, weil er sich als Deutscher ausgab, der HJ beitrat
und „Heil Hitler“ brüllte. Seine Erinnerungen schrieb er Mitte der 80er
Jahre nieder in dem Buch „Ich war Hitlerjunge Salomon“.
Rund 300 Menschen haben sich auf Einladung der FDP-nahen
Friedrich-Naumann-Stiftung auf der Videoplattform Zoom dazugeschaltet.
Normalerweise reist Perel mehrmals im Jahr von Israel nach Deutschland, um
Lesungen und Vorträge zu halten. In Zeiten von Corona ist das unmöglich.
Und so können viele Zeitzeug:innengespräche dieser Tage wenn überhaupt
nur digital stattfinden – ein ungewohntes Format für diese besondere Form
der Begegnung, die in den kommenden Jahren ohnehin immer weniger möglich
sein wird.
Perel feierte nur wenige Tage nach dem Gespräch seinen 95. Geburtstag. Die
Überlebenden sind hochbetagt. Wie können die Schicksale dieser Menschen
geteilt werden, wenn sie nicht mehr da sind? Ansätze dazu gibt es – und
diese reichen von Erzählungen durch Dritte bis hin zu Instagram-Accounts.
## Gedenkstättenbesuche statt Zeitzeugengespräche?
„Es ist schon viel getan worden, um die Zeugnisse der Überlebenden zu
dokumentieren“, sagt Annemarie Hühne von der [2][Stiftung Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft] (EVZ). So hat etwa der Regisseur Steven
Spielberg schon in den 90er Jahren mit der [3][Shoah Foundation] begonnen,
Überlebende von Holocaust und Naziverfolgung auf Video aufzunehmen. Die
Sammlung umfasst heute mehr als 55.000 Interviews. Die Stiftung EVZ selbst
ist eine der Verantwortlichen für das Archiv „Zwangsarbeit 1933–1945“.
„Aber das ist natürlich nie das Gleiche, wie den Menschen persönlich zu
begegnen“, sagt Hühne.
Es sei jedoch keineswegs so, dass Erinnerung ohne Zeitzeug:innen nicht
mehr möglich sei. 2019 gaben in einer Untersuchung der Stiftung 68 Prozent
der Befragten an, noch nie an einem Zeitzeug:innengespräch teilgenommen zu
haben. „Aber 80 Prozent waren schon in einer Gedenkstätte“, sagt Hühne.
„Das zeigt die Bedeutung der historischen Orte für die Vermittlungsarbeit.“
Das Gleiche gelte für den filmischen Zugang – zu dem natürlich auch
Interviews mit Überlebenden gehören. „Wir werden nicht mehr mit den
Menschen selbst sprechen können, aber sie werden nicht verschwinden.“
Die Stiftung EVZ fördert das Projekt Digitale Zeitzeugen der Shoah
Foundation. Dabei beantworteten Überlebende vor laufender Kamera jene
Fragen, die sonst etwa Schüler:innen stellen. Am Ende soll eine
Projektion entstehen, der die Zuschauer:innen Fragen stellen können,
und die Software sucht die passende Antwort heraus. „Natürlich ist das kein
Ersatz für die echten Menschen. Aber es bietet eine Interaktion, die ein
Film nicht leisten kann“, sagt Hühne. Es gehe darum, viele verschiedene
Zugänge zu bieten – damit für all die unterschiedlichen Bedürfnisse etwas
dabei sei. Am Technikmuseum Berlin sollte derzeit eigentlich die erste
deutschsprachige Fassung mit der Auschwitz-Überlebenden Anita
Lasker-Wallfisch zu sehen sein. Doch wegen der Coronapandemie ist das
Museum geschlossen.
Die Digitalen Zeitzeugen sind nicht die einzige Idee, um die Geschichten
Überlebender weiterhin auch interaktiv erzählen zu können. Ganz analog
arbeitet etwa das Projekt „Zweitzeugen“ des Vereins Heimatsucher. Dabei
studieren junge Menschen die Geschichten von Überlebenden und tragen sie in
die Schulen, erzählen statt ihrer.
Projekte, die [4][Meron Mendel] eher skeptisch sieht. „Wir sollten nicht
all unsere Energie auf den Versuch verwenden, etwas zu bewahren, das in
dieser Form einfach nicht mehr da sein wird“, sagt der Direktor der
Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. Auch dort setzt man in Coronazeiten
auf digitale Begegnungen. Mendel warnt aber davor, in Überlebenden das
Hauptinstrument der Vermittlungsarbeit zu sehen. Über Jahrzehnte habe man
die Geschichten dieser Menschen nicht hören wollen, sagt er. „Es ist nicht
in Ordnung, jetzt die Verantwortung für die Erinnerung auf ihre Schultern
zu legen – und ihnen damit implizit auch einen Vorwurf zu machen: Ihr
verlasst uns, und wir bleiben alleine.“
## Computerspiele statt dicker Bücher
Wichtig sei, neue Herangehensweisen finden, sagt Mendel. In der
Bildungsstätte in Frankfurt habe man etwa ein „Lernlabor“ eingerichtet, in
dem die Jugendlichen mit Tablets spielerisch durch verschiedene Stationen
geleitet werden. Außerdem sei man dabei, ein Computerspiel zu entwickeln.
„Bei solchen Projekten ist es wichtig, Jugendliche von Anfang an
einzubeziehen. Sonst entwickeln am Ende Erwachsene etwas, das sie ganz
modern finden – und die Jugendlichen rollen nur mit den Augen.“
Die Jugendlichen auf den Plattformen abholen, auf denen sie ohnehin
unterwegs sind: Das versucht auch das Instagram-Projekt
[5][@eva.stories] des israelischen Unternehmers Mati Kochavi und seiner
Tochter Maya. „Was, wenn ein Mädchen im Holocaust Instagram gehabt hätte?“
Basierend auf ihrem Tagebuch erzählt der Account die Geschichte der
13-jährigen Jüdin Eva Heyman aus Ungarn, die in Auschwitz ermordet wurde.
Das passiert mithilfe von Stories, Hashtags wie #lifeduringwar, Stickern
und bunten Filtern. Es wirkt wie der Versuch, das Tagebuch der Anne Frank
auf Instagram zu übertragen. Für Jugendliche, die ohnehin auf der Plattform
unterwegs sind, für kürzer werdende Aufmerksamkeitsspannen. „Das war für
mich sehr gewöhnungsbedürftig“, sagt Mendel. „Inzwischen glaube ich: Als
zusätzliches Mittel ist es eine gute Sache, weil es für manche Menschen
funktioniert.“
Aber ist ein Projekt wie Eva Stories nicht unangebracht kitschig? „Ach,
Kitsch ist nicht unbedingt schlecht“, sagt Mendel. „Jede Generation hatte
ihren Holocaust-Kitsch.“ Auch Steven Spielbergs Spielfilm „Schindlers
Liste“ habe Kitschelemente gehabt. „Sonst hätte ein Film dieses Genres
nicht funktioniert“, sagt Mendel. Trotzdem könne man den Film als
Lernmaterial nutzen – „wenn man das davor und danach bearbeitet, bespricht,
ergänzt“. Das halte er für sinnvoller als den Versuch, „um jeden Preis ei…
Pseudoauthentizität zu generieren“, sagt Mendel. „Jugendliche durchschauen
sehr schnell, ob etwas authentisch ist oder konstruiert – und Letzteres
kommt bei ihnen nur sehr begrenzt an.“
8 May 2020
## LINKS
[1] https://www.jmberlin.de/zeitzeugengespraech-sally-perel-hitlerjunge-salomon
[2] https://www.stiftung-evz.de/start.html
[3] https://sfi.usc.edu/
[4] /Meron-Mendel-ueber-Antisemitismus/!5466150/
[5] http://www.instagram.com/eva.stories/?hl=de
## AUTOREN
Dinah Riese
## TAGS
Schwerpunkt Tag der Befreiung
Holocaust
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Lesestück Recherche und Reportage
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Antisemitismus
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