| # taz.de -- Mein Kriegsende 1945: „Wir aßen Blätter und Gras“ | |
| > Zeitzeugen erinnern sich (Teil 16): Leon Schwarzbaum, KZ-Häftling, war | |
| > auf einem Todesmarsch, bis die SS-Männer auf Fahrrädern verschwanden. | |
| Bild: Leon Schwarzbaum | |
| Leon Schwarzbaum, geboren im Jahr 1921 in Hamburg, aufgewachsen in | |
| Oberschlesien, ist der einzige Überlebende seiner ehemals großen Familie. | |
| Alle wurden in Auschwitz umgebracht. Er betrieb nach dem Krieg zusammen mit | |
| seiner Frau ein Antiquitätengeschäft in Westberlin. Beim NS-Prozess in | |
| Detmold gegen Reinhold Hanning 2015/2016 war er Zeuge und Nebenkläger. 2019 | |
| erhielt Leon Schwarzbaum neben dem Bundesverdienstkreuz auch ein | |
| Ersatz-Abiturzeugnis vom Kultusminister in Niedersachsen, denn das Original | |
| war nach dem Überfall der Deutschen 1939 verloren gegangen: | |
| „Die Russen waren kurz vor Auschwitz, Mitte Januar 1945. Wir waren zusammen | |
| 250 Häftlinge im Auschwitz-Nebenlager Bobrek, Zwangsarbeit für Siemens. | |
| Hastig wurden die Lager geräumt, wir wurden auf den Todesmarsch nach | |
| Gleiwitz verschleppt, dann im offenen Zug ins Konzentrationslager | |
| Buchenwald. Es gab viele Tote. In Buchenwald haben Siemens-Leute 80 von uns | |
| Häftlingen nach Berlin-Haselhorst geholt, einem Außenlager von | |
| Sachsenhausen. Wir sollten dort wieder arbeiten, aber die alliierten Bomben | |
| machten das unmöglich, wir haben dann Leichen geräumt. | |
| Über Sachsenhausen wurden wir Ende April auf den Todesmarsch Richtung | |
| Norden verschleppt, wir waren vielleicht 15.000 Menschen, die meisten Juden | |
| wie ich. | |
| Jeder hat ein Brot bekommen. An den Seiten ging die SS. Wer versuchte zu | |
| fliehen, wurde erschossen, wer sich nur hinsetzen wollte, bekam eine Kugel | |
| verpasst. | |
| Wir waren tagelang unterwegs und übernachteten im Freien, schließlich im | |
| Belower Wald, etwa 100 Kilometer vor Schwerin. | |
| Wir hatten nichts mehr zu essen und zu trinken. Wir aßen Blätter, Gras und | |
| kochten Brennnesseln aus. Aus Zweigen bauten wir notdürftigen Wetterschutz, | |
| wir froren entsetzlich. Dann wurde weiter marschiert. Wir fürchteten, dass | |
| uns die SS erschießen würde, bevor wir auf die Alliierten treffen. | |
| Irgendwann, es war Anfang Mai, begannen die SS-Männer sich abzusetzen. Sie | |
| warfen ihre Uniformen weg und zogen Zivilkleidung an, dann verschwanden sie | |
| auf Fahrrädern. | |
| Am nächsten Morgen habe ich den ersten amerikanischen Soldaten gesehen. Er | |
| kam zu Fuß mit seiner Einheit. Wir sind dem Soldaten entgegengekommen. Als | |
| er uns sah, hat er die Hände über den Kopf zusammengeschlagen. | |
| Ich sprach nicht gut Englisch, aber irgendwie ging es. Die Soldaten zählten | |
| zu einem amerikanischen Vortrupp, sie hatten zwar kein Essen für uns, aber | |
| Zigaretten, Kaugummi und Schokolade. Sie waren sehr freundlich. Aber sie | |
| haben sich nicht weiter um uns gekümmert. | |
| Ein Kamerad und ich übernachteten dann in einem Befehlswagen der Wehrmacht, | |
| der zurückgelassen worden war. Am nächsten Morgen klopfte es an der Tür, da | |
| standen zwei hohe deutsche Offiziere, die sagten, dass sie nun | |
| Verhandlungen mit den Amerikanern führen müssten und baten darum, den Wagen | |
| benutzen zu dürfen. Plötzlich waren diese Deutschen höflich zu uns! | |
| Wir haben ihnen den Kübelwagen überlassen, irgendwo ein Pferd und | |
| Panjewagen organisiert und sind nach Schwerin gefahren. | |
| Wir kamen zu einem menschenleeren großen Haus, es war das verlassene Haus | |
| der NSDAP-Kreisleitung. Da haben wir uns niedergelassen. Das war wohl am 5. | |
| Mai. | |
| Überall lagen Fahnen, Musikinstrumente und Uniformen herum und die Küche | |
| war voll mit Lebensmitteln, wir haben uns vollgestopft, was uns aber nicht | |
| gut bekam. Jahrelang hatten wir ja nichts Richtiges mehr zu essen bekommen. | |
| Ich hatte keine Hoffnungen und keine Pläne für die Zukunft. Alles im Kopf | |
| kreiste nur darum, etwas zu essen zu bekommen. | |
| Die Amerikaner zogen sich zurück und die Russen haben das Gebiet | |
| übernommen. Die haben mir geholfen, nach Bedzin in Oberschlesien zu | |
| gelangen, meiner Heimat. Es war niemand mehr da. Über Stettin kam ich dann | |
| nach Berlin und bin dort geblieben.“ | |
| Aufgezeichnet von Klaus Hillenbrand | |
| Zuletzt erschienen: | |
| (15) [1][Edith Kiesewetter, vertrieben] | |
| (14) [2][Jan Slomp, untergetaucht] | |
| (13) [3][Helga Müller, ausgebomt] | |
| (12) [4][Valerija Skrinjar-Tvrz, Partisanin] | |
| 11 May 2020 | |
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