# taz.de -- Buch über Konzentrationslager: Jeder Würde beraubt | |
> David Roussets Dokumentation und Analyse des „KZ-Universums“ ist | |
> verstörend eindrücklich – und ein frühes Standardwerk über die Lager. | |
Bild: Das Eingangstor des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald mit dem zy… | |
Normale Menschen wüssten nicht, dass im KZ alles möglich sei, schreibt | |
David Rousset und versucht, das Unmögliche in Worte zu fassen. Sein Buch | |
„KZ-Universum“ besticht durch den literarischen Stil, die prägnanten | |
Formulierungen und die bilderreiche Sprache. David Rousset, 1912 in Roanne | |
an der Loire geboren, arbeitete als Philosophielehrer und Journalist, wurde | |
Mitglied der Sozialistischen Partei, wandte sich aber bald der radikalen | |
Linken und den Trotzkisten zu. | |
Nach der deutschen Invasion im Mai 1940 schloss er sich dem Widerstand | |
gegen das Besatzungsregime an, wurde im Oktober 1943 verhaftet und in das | |
KZ Buchenwald deportiert. Von dort verschleppte ihn die SS in ein | |
Außenlager des KZ Neuengamme und schickte ihn kurz vor Kriegsende auf einen | |
Todesmarsch, den er überlebte – 16 Monate „Erfahrungsmaterial“, um eine | |
hellsichtige Darstellung des nationalsozialistischen Lagersystems zu | |
schreiben, des „KZ-Universums“. | |
„Die SS beschränkt sich auf Leitungs- und Kontrollfunktionen. Planung und | |
Direktiven werden der Häftlingsbürokratie überlassen, die auch mit der | |
gesamten praktischen Organisation betraut ist. Ihre Angehörigen sind der SS | |
rechenschaftspflichtig. Das Vorhandensein einer Häftlingsaristokratie, die | |
über Vollmachten verfügt, Privilegien genießt und Macht ausübt, sorgt | |
dafür, dass aus einzelnen Unzufriedenen keine gemeinsame Bewegung wird.“ | |
Manches, was David Rousset auf knapp 100 Seiten schreibt, bleibt naturgemäß | |
unpräzise. Im Vergleich zum langjährigen KZ-Aufenthalt Eugen Kogons basiert | |
Roussets „Erfahrungsmaterial“ nur auf knapp zwei Monaten. Nicht alle | |
Einzelheiten haben der späteren historischen Forschung standgehalten. So | |
ist etwa seiner Aussage zu widersprechen, dass die kriminellen Häftlinge | |
den Ton und das Klima des Lagers bestimmten. | |
## Wer den Ton angab | |
Spätestens seit den Veröffentlichungen Lutz Niethammers in den 1990er | |
Jahren ist bekannt, welche Macht die „roten Kapos“ von Buchenwald ausübten. | |
Auch lässt sich kritisieren, dass Rousset die Vernichtungsmaschinerie in | |
Auschwitz und Treblinka nur am Rande erwähnt. Allerdings waren, als er kurz | |
nach seiner Rückkehr nach Paris das Manuskript in nur drei Wochen | |
niederschrieb, noch längst nicht alle Einzelheiten über den millionenfachen | |
Judenmord bekannt. | |
Gleichwohl zählt Roussets Darstellung – neben [1][Primo Levis] „Ist das ein | |
Mensch?“ und Eugen Kogons „Der SS-Staat“ – zu den frühen Standardwerken | |
über die Konzentrationslager. Erstaunlicherweise ist erst jetzt, ein | |
Dreivierteljahrhundert nach der Erstveröffentlichung, das Buch auf Deutsch | |
erschienen. | |
„Das KZ-Universum“ besticht durch unmittelbare Eindrücke, durch | |
Annäherungen an das eigentlich Unbeschreibliche; wie zum Beispiel der Kampf | |
um ein Stück Brot die Menschen jeder Würde beraubt. | |
„Mit einer einzigen gezielten Bewegung, einem Schwung seines ganzen | |
Körpers, schleudert Franz, der Kapo, das Brot in die Mitte des Gangs. Um | |
das Brot breitet sich Stille im Schlafsaal aus, wie ein Vakuum. Franz | |
lacht, den Kopf leicht zurückgelegt. Eine Art Geheul ertönt aus den unteren | |
Etagen der Betten: Zwei Körper schießen vor, und sofort bricht ein rasender | |
Ansturm los, ergießt sich wie ein Wasserfall in die Leere. Fäuste schlagen, | |
Füße treten, Bäuche wimmern. Das Brot.“ | |
Die Mischung von konkreten Szenen und der Analyse der KZ-Strukturen macht | |
das „KZ-Universum“ zu einem ungewöhnlichen, eindrucksvollen Werk mit | |
Einblicken in eine Welt, die Rousset als „toter Stern voller Leichen“ | |
umschreibt.„Unter den KZ-Menschen wohnte der Tod in jeder Stunde ihres | |
Daseins. Sie haben erfahren, wie er einen Menschen auf jede erdenkliche Art | |
entblößen kann.“ | |
Rousset schrieb nicht nur über die deutschen KZs, er machte in Frankreich | |
auch als einer der Ersten auf die grauenhaften Zustände in den Lagern des | |
sowjetrussischen Gulag aufmerksam, was ihm Kritik vonseiten der politischen | |
Linken und den Vorwurf der Geschichtsverfälschung einbrachte, wogegen er | |
sich juristisch erfolgreich zur Wehr setzte. | |
Freunde wie Jean-Paul Sartre und Louis Aragon wandten sich von ihm ab. | |
David Rousset aber insistierte, ein menschenverachtendes Lagersystem wie | |
das der SS sei auch woanders möglich. Eine Warnung, die ganz sicher nicht | |
als Relativierung der deutschen Verbrechen gemeint war. | |
31 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-Buch-zum-30-Todestag-Primo-Levis/!5396778 | |
## AUTOREN | |
Otto Langels | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
NS-Verbrechen | |
Konzentrationslager | |
Krieg | |
Shoah | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Holocaust | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sachbuch zu Europa nach Zweitem Weltkrieg: Nach dem Bruch | |
Der Historiker Paul Betts hat das Buch „Ruin und Erneuerung“ | |
veröffentlicht. Er beantwortet, wie in Europa nach 1945 wieder Frieden | |
einkehren konnte. | |
Bericht eines Opfers der Judenverfolgung: Das andere Tagebuch | |
Yitskhok Rudashevski starb 15-jährig 1943 im deutsch besetzten Litauen. | |
Sein Tagebuch gibt Zeugnis über die Vernichtung der Juden in Osteuropa ab. | |
Mein Kriegsende 1945: „Wir aßen Blätter und Gras“ | |
Zeitzeugen erinnern sich (Teil 16): Leon Schwarzbaum, KZ-Häftling, war auf | |
einem Todesmarsch, bis die SS-Männer auf Fahrrädern verschwanden. | |
Neue Biografie über Jan Karski: Zwischen den Fronten | |
Jan Karskis Leben war voller Mut und Integrität, schrieb Eli Wiesel. Marta | |
Kijowska hat die Aufgabe übernommen, von ihm zu erzählen. |